Die große Aufstiegslüge - Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden

von: Suat Yilmaz

Eichborn AG, 2016

ISBN: 9783732529827 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Die große Aufstiegslüge - Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden


 

1 BILDUNGSSYSTEM »MADE IN GERMANY«


In den letzten Jahren wurden zahlreiche Bildungs-, Integrations- und Kulturdebatten geführt. Wirklich viel gebracht haben sie nicht. Die meisten Debatten waren gekennzeichnet von Ängsten, Sorgen und einem auf Defizite fixierten Blick. So haben wir kostbare Zeit mit Misstrauen und Kategorisierungen verloren, Zeit, die für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes von großer Bedeutung ist. Die Antwort auf all diese Debatten, Sorgen und Ängste in unserer Gesellschaft muss daher eine Bildungssystematik sein, die es den nachfolgenden Generationen ermöglicht, unabhängig von der Herkunft erfolgreich zu sein. Denn die Lücken in der Riege der Hochqualifizierten, die aufgrund der demografischen Entwicklung gerissen werden, schließen nicht automatisch top ausgebildete Fachkräfte. Vielmehr werden Generationen nachrücken, die zahlenmäßig kleiner sind und von »unten« kommen – darunter viele mit einem Migrationshintergrund. Aktuell wächst jedes dritte Kind unter fünf Jahren in einer Migrantenfamilie auf. Wir wissen also schon heute, wer die Bürger des zukünftigen Deutschlands sein werden. Sie sind geboren und werden in einigen Jahrzehnten dieses Land führen. Die demografischen Entwicklungen unserer Gesellschaft in den nächsten dreißig Jahren lassen sich deshalb auch relativ gut abschätzen, auf jeden Fall besser als das Wetter in den nächsten zwei Wochen. Insofern müssen wir unser Bildungssystem auch zu einem Talentförderungssystem umbauen. Schließlich ist und bleibt Bildung der Schlüssel zum Erfolg – für den Einzelnen ebenso wie für unser Land. Einen positiven Beitrag der jungen Menschen, die aus einem sozioökonomisch schwachen Milieu stammen, aus Arbeiter- und Zuwandererfamilien, von Kindern alleinerziehender Mütter oder Väter können wir nur erwarten, wenn wir ihre Talente zur Entfaltung bringen. Sie sind unsere Bildungsreserve, so schnell werden keine anderen kommen. Und auch die Heerscharen an top ausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland, die in Zukunft passgenau die von der Demografie aufgerissenen Lücken füllen werden, dürften eine Wunschvorstellung sein. All die Talente, die wir bisher übersehen haben oder übersehen wollten, sind daher wichtiger denn je. Wir brauchen diese Kinder und Jugendlichen dringend. Aber noch sind wir meilenweit entfernt von einem gerechten und produktiven Bildungssystem. Und von einer umfassenden Talentförderung kann erst recht nicht die Rede sein. Es ist traurig, aber vor allem höchst problematisch, dass die Zukunftsaussichten für die Kinder der »Unterschichten« in keinem anderen europäischen Industrieland so schlecht sind wie in Deutschland. Ich bin jedoch sicher: Dieses Land kann mehr.

Das Bildungssystem ist kein Naturgesetz


Wenn wir in Deutschland über Bildung sprechen, dann häufig in einem negativen Zusammenhang. Insbesondere die 2001 veröffentlichte Pisa-Studie hat die Schwächen des deutschen Bildungssystems offengelegt und hitzige Defizitdebatten ausgelöst. Auch wenn sich 15 Jahre später vieles verbessert hat, so muss doch noch mehr getan werden. Zahllose Studien wie die Studie »Bildung in Deutschland 2016«1 belegen, dass wir eine Schieflage im Bereich der Bildung und sozialen Durchlässigkeit in unserem System haben. Wäre der typische Bildungsweg ein Hundertmeterlauf, würden einige Kinder nicht von der Startlinie losspurten, sondern zehn, zwanzig, ja vielleicht sogar fünfzig Meter Vorsprung haben. Wer dann als Erster die Ziellinie erreicht, ist also nicht unbedingt der schnellste Läufer. Zwei Zahlen aus der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (2012), die das eindrücklich unterstreichen: Von 100 Kindern, deren Eltern Akademiker sind, führt 77 ihr Weg an eine Universität oder Fachhochschule. Von 100 Arbeiterkindern hingegen gehen nur 23 diesen Weg. Ganz offensichtlich gibt es in unserem Bildungssystem Hürden, die sich nur schwer überwinden lassen.

Viel bewirkt haben die Erkenntnisse aus den Studien bedauerlicherweise nicht. Noch immer zertrümmern wir Biografien Hunderter, Tausender junger Menschen in unserem Bildungssystem. Kinder akademischer Eltern haben nach wie vor eine höhere Chance, im Regelsystem Schule und Hochschule erfolgreich zu sein, als die Kinder von Arbeitern und Nichtakademikern. Das Land mit einem der besten Sozialsysteme, mit einer der stärksten Ökonomien der Welt, das Land der Maschinenbauer und technologischen Meisterleistungen, das Land der Denker und Dichter verschwendet Tausende Talente, statt die Vielfalt und Dynamik seiner Jugend in positive Energie und gesellschaftlichen Fortschritt zu verwandeln.

Doch das Bildungssystem ist kein Naturgesetz, es ist nicht unantastbar und auch keine Glaubenssache, es ist eine Variante, für die wir als Gesellschaft uns einst entschieden haben – und die wir bis in die Gegenwart (er-)tragen. Die Klassengesellschaft in unserem Bildungssystem aber lähmt nicht nur die Individuen, sie lähmt das Entwicklungspotenzial Deutschlands und gefährdet damit seine Zukunftsfähigkeit.

Der »Zukunftsrohstoff«, davon bin ich fest überzeugt, ist in den Köpfen der jungen Menschen. Wir müssen ihn nur freisetzen und nutzen – ob diese Köpfe nun blond-, schwarz-, rot- oder braunhaarig, mit Irokesenschnitt versehen oder mit einem Tuch verhüllt sind. Viel zu lange haben wir das Thema Bildung kulturalisiert, mit horrenden Steuergeldern haben wir das »Ihr und Wir« zementiert, das »Oben und Unten« stabilisiert und Ungerechtigkeit etabliert. Das ist für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland fatal.

Als Grundlage für die Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik unseres Landes ist die systematische, herkunftsunabhängige Talentförderung unabdingbar. Dabei geht es nicht darum, sozialromantisch das Establishment um die Chancengleichheit im Bildungsbereich anzubetteln, sondern um ein Grundrecht, ein Menschenrecht, das wir als Gesellschaft einfordern müssen. Schließlich bedeutet die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes auch die Unantastbarkeit der Chance auf Bildung. Bildungschancen zu verwehren ist daher nichts anderes als die Verletzung der Menschenwürde.

Würde. Dieses große Wort birgt eine noch größere Verantwortung, die jeder von uns zu tragen hat. Und jeder Schwur eines Beamten, jedes Bekenntnis eines Bürgers zu den Grundwerten unseres Landes, jeder Eid eines Abgeordneten verpflichtet dazu, den Prinzipien der Menschenwürde und Gleichberechtigung gemäß zu handeln. Dazu gehört, sich für das Recht auf Bildung jenseits von der Herkunft des Einzelnen einzusetzen. Dennoch wird dieses so wertvolle Menschenrecht immer wieder und systematisch verletzt.

Risikofaktor Bildungssystem


Wenn wir die Bildungsstatistiken renommierter Forscher zusammenfassen, wird die penetrante Ungerechtigkeit, die im deutschen Bildungssystem tagtäglich praktiziert wird, mehr als deutlich: Kinder, deren Eltern arbeitslos sind oder ein geringes Einkommen oder keinen höheren Schulabschluss haben, gehören in Deutschland zur sogenannten Risikogruppe. Und wenn ein Kind aus einer bildungsfernen Hartz-IV-Familie mit Zuwanderungsgeschichte stammt, sieht seine (berufliche) Zukunft extrem düster aus, denn dann gehört es zur Hochrisikogruppe. Sind diese Kinder ein Risiko für unser Bildungssystem? Oder ist es eher umgekehrt? Ich behaupte nämlich, unser Bildungssystem setzt diese Kinder einem gefährlichen Risiko aus, dem Risiko, nicht die Zukunft zu haben, die ihnen aufgrund ihrer Potenziale und Talente zusteht. Diesem Bildungs- und Zukunftsrisiko sind sie also nur deshalb ausgesetzt, weil sie nicht die »richtige« Herkunft vorweisen können. Unser schwerfälliger, völlig veralteter Bildungsapparat neutralisiert das Talent und reproduziert herkunftsbedingte prekäre Biografien. Anders lassen sich die unzähligen empirischen Befunde kaum nachvollziehen: Nur etwa 6 Prozent der Kinder, die von allen drei Risikolagen – »Eltern arbeitslos, arm und bildungsfern« – betroffen sind, schaffen den Sprung auf das Gymnasium.2 Die 94 Prozent, die – ungeachtet ihrer Fähigkeiten und Talente – durchs Bildungsnetz fallen, haben halt Pech gehabt! Ist das die Logik unseres Systems? Müssen alle Kinder und Jugendlichen, die nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft geboren wurden, mit dem hohen Risiko, in unserem Bildungssystem abgehängt und vergessen zu werden, leben? Noch mal zum Vergleich: 42 Prozent aller Kinder, die bei den »richtigen« Eltern aufwachsen und den genannten Risikofaktoren nicht ausgesetzt sind, werden auf das Gymnasium versetzt. Die Zukunftsaussichten dieser Kinder sind also siebenmal rosiger als die der »Risiko«-Kinder, was auf gut Deutsch heißt: Das Recht auf Teilhabe an Bildung steht in einem skandalösen Zusammenhang mit dem Milieu, dem kulturellen und finanziellen Kapital der Eltern, mit der Herkunft. Wo bleibt da die Menschenwürde? Wo bleibt das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung? Wann wollen wir dieses unwürdige Leck in unserer Gesellschaft endlich angehen? Denn eines sollten wir uns immer vor Augen halten: Das Grundgesetz ist nicht die Hausordnung einer Kneipe, kleingedruckt an der Wand hängend, die man zufällig auf dem Weg zum Klo sieht. Unser Grundgesetz ist das Fundament unserer Gesellschaft, die zentrale, nicht diskutierbare Werteordnung, die Bedienungsanleitung der Bundesrepublik Deutschland. Und die Grundrechte ebenso wie die daraus resultierenden Pflichten gelten nicht nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen, Milieus oder Regionen, sondern für alle Menschen, die in diesem Land leben. Schaut man sich die Zustände in den meisten Staaten dieser Welt an, so wird deutlich, wie kostbar und schützenswert das deutsche Grundgesetz ist. Deshalb müssen auch wir als Gesellschaft dieses Buch mit seiner Botschaft...