Das Gutshaus - Glanzvolle Zeiten - Roman

von: Anne Jacobs

Blanvalet, 2017

ISBN: 9783641183271 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Das Gutshaus - Glanzvolle Zeiten - Roman


 

Franzi

November 1939

Der Frühnebel lag auf den abgeernteten Feldern wie eine milchige Schicht, waberte im Wind, ließ von Zeit zu Zeit eine Gruppe ahnungslos äsender Rehe sehen. Herbstbuntes Buschwerk ragte aus dem weißlichen Grund wie Inseln im wogenden Nebelmeer. Franziska ging als Letzte der Dreiergruppe, blieb immer wieder stehen, um die morgendliche Stimmung auf sich wirken zu lassen, die Feuchte des Nebels zu spüren, den pilzigen Geruch zu atmen, der vom Wald herüberwehte. Hinter ihnen erklangen jetzt Pferdehufe, das Gerassel einer Kutsche. Das war der Inspektor, der die »alten Herren« zum Hochsitz am Waldrand fuhr.

»Hoffentlich hat Großvater Wolfert diesmal seine Brille dabei«, sagte Jobst grinsend. »Letztes Jahr hat er lauter Streifschüsse gesetzt und einen Hund getroffen.«

Franziska schwieg – sie hatte es dem Großvater nicht verzeihen können. Ihre Hündin Maika ging seither lahm, sie hatte nur mit knapper Not überlebt, weil der Schuss ihr einen Hinterlauf zerschmettert hatte. Die beiden Geschwister mussten beiseitetreten, um die offene Kutsche mit den beiden Großvätern vorbeizulassen. Mamas Brüder, Onkel Bodo und Onkel Alwin, saßen ebenfalls im Wagen. Alle trugen regenfeste Jacken und Hüte, die schon so manche Jagd erlebt hatten. Onkel Alexander winkte ihnen zu, er war seit dem vergangenen Jahr noch dicker geworden.

»Alte Leute mit schwachen Augen sollten überhaupt nicht mehr jagen«, meinte Brigitte.

»Erklär das mal Großvater Wolfert.« Jobst lachte. »Der wird dir sagen, dass er schon Zwölfender geschossen hat, als du noch in den Windeln lagst.«

Jobst unternahm einen vorsichtigen Versuch, seiner Verlobten den Arm um die Schultern zu legen, sie entzog sich ihm jedoch mit Blick auf Franziska. Ein junges Paar durfte bis zum Hochzeitstag so gut wie niemals miteinander allein sein, daher hatte Mama dafür gesorgt, dass Franziska ihren Bruder Jobst und seine Verlobte Brigitte von Kalm als Anstandsdame begleitete.

Franziska war erst neunzehn, sie fühlte sich grauenhaft in dieser Rolle. Überhaupt mochte sie diese Treibjagden nicht, bei denen das Wild den Jägern schussgerecht vor die Flinten gehetzt wurde. Viel schöner war es, am frühen Morgen allein mit dem Vater durch den Wald zum Hochsitz zu gehen. Dann spürte man das taufeuchte Gras, roch den süßen und würzigen Atem der Pflanzen, hörte mit geschärftem Ohr den Tritt eines Rehbocks im Vorjahreslaub. Wenn nach langem Warten in der knisternd lebendigen Morgenstille ein Rudel Hirschkühe zögernd die Lichtung betrat, blickte sie in das Gesicht des Vaters, versuchte, seine Absicht zu erraten. Selten schossen sie ein Tier, fast immer saßen sie auf dem Hochsitz, um zu beobachten, den Bestand zu überwachen.

»Der Nebel hebt sich«, bemerkte Jobst. »Gott sei Dank. Sonst hätten wir einpacken können.«

Sie hatten den Waldrand erreicht und nahmen den Pfad zum Hochsitz am Kreuzweg. Es war kurz vor neun, vermutlich würde bald die Sonne durch die Wolken brechen, dann legten die Treiber los, die jetzt noch mit den Hunden an drei verschiedenen Orten warteten, bis die Jäger ihre Standorte erreicht hatten.

Jobst stieg als Erster die Leiter hoch, Brigitte folgte ihm, ergriff seinen ausgestreckten Arm und ließ sich das letzte Stück hinaufhelfen. Franzi wartete, bis beide halbwegs bequem auf der rohen Holzbank Platz genommen hatten, dann stieg auch sie hinauf in den engen Verschlag. Jobst und Brigitte luden ihre Gewehre, Franziska war ohne Jagdwaffe. Sie hatte wenig Lust, sich an der allgemeinen Schießübung zu beteiligen. Wenn nur ihren Hunden nichts passierte! Oder, was noch schlimmer war: wenn nur keiner der Treiber getroffen wurde. Das passierte immer wieder. Einer ihrer Stallknechte hatte als junger Mann einen Schuss in den Oberschenkel bekommen, ein junger Bauer sollte vor vielen Jahren sogar versehentlich erschossen worden sein. Gewiss sorgte der Gutsherr in solchen Fällen für die Verletzten und auch für die Hinterbliebenen – aber schlimm war es trotzdem und peinlich genug für den unglücklichen Schützen.

»Es geht los …«, murmelte Jobst.

Brigitte nickte. Man konnte den Lärm der Treiber und das Gekläff der Hunde in der Ferne hören. Schüsse waren zu vernehmen, es klang nach Onkel Alexanders alter Jagdbüchse, Großvater Dranitz’ Gewehr war auch dabei. Die Treiber scheuchten alles auf, was sich im Dickicht von Wald und Buschsenken versteckt gehalten hatte: Damwild, Rotwild, Füchse, Hasen, auch Schwarzwild und Rebhühner. Ein Fest für die Flinten, man freute sich das ganze Jahr darauf. Auch wurde das erlegte Wild später ehrlich unter den Jägern aufgeteilt, sodass dem ausgiebigen Jagdessen auf Gut Dranitz meist noch opulentere Mahlzeiten daheim mit guten Freunden und Verwandten folgten.

Den Hochsitz beim Kreuzweg schienen die Treiber jedoch vergessen zu haben. Trotz angespannten Wartens und intensiven Starrens ins Unterholz bemerkten sie nur zweimal eine kurze Bewegung – vermutlich Schwarzwild, das beschlossen hatte, sich besser im Dickicht zu verbergen als in wilder Panik über die Lichtung zu rennen. Sie waren schlau, die Wildschweine. Leider richteten sie in den Feldern häufig Schäden an, deshalb musste ein Teil von ihnen abgeschossen werden.

»Schade!«, seufzte Brigitte von Kalm und löste sich aus ihrer Starre. »Ich glaube, das war’s. Hoffen wir, dass die anderen mehr Jagdglück hatten.«

»Am Ende hat Franzi uns das Wild vertrieben«, scherzte Jobst. »Fräulein Diana mag es nämlich gar nicht, wenn ein Tier des Waldes geschossen wird!« Er packte seine Schwester an der Schulter und schüttelte sie sacht, genau wie er es früher als Junge so oft gemacht hatte.

Franziska stieß ihn lachend zurück. »Jetzt kann ich es euch ja verraten: Ich habe den Hochsitz mit einem Zauberbann belegt!«, rief sie ohne Rücksicht auf Brigittes gerunzelte Stirn.

Franziska mochte ihre künftige Schwägerin nicht besonders. Brigitte war eine jener Frauen, die wenig redeten, aber ganz genau wussten, was sie wollten. Wieso ihr gut aussehender älterer Bruder Jobst, der Erbe von Dranitz, sich ausgerechnet diese wenig attraktive Person ausgesucht hatte, würde sie wohl nie begreifen. Aber das war schließlich seine Angelegenheit.

Franziska stieg als Erste die Leiter hinunter und ging, ohne sich umzuschauen, mit langsamen Schritten den Waldweg in Richtung Gutshof. Sie gönnte den beiden die Gelegenheit, wenigstens kurz miteinander allein zu sein. Seit September befand sich Deutschland im Krieg, der Leutnant Jobst von Dranitz würde gleich morgen gemeinsam mit einem Kameraden gen Osten zu seinem Regiment reisen.

»Krieg oder Frieden!«, hatte Großvater Dranitz gebrüllt. »Die alten Traditionen auf Dranitz lassen wir uns nicht nehmen. Und schon gar nicht die Treibjagd.«

Kurz bevor der Waldweg in den Acker einmündete, brach ein Rudel Rothirsche aus dem Gehölz und rannte quer über den Weg auf die andere Waldseite. Franziska blieb wie gebannt stehen. Sieben Hirschkühe und mehrere halbwüchsige Kälber zogen wie ein Spuk an ihr vorüber und ließen den Waldboden für Sekunden vibrieren – ein Tanz von Kraft und Schönheit im schräg durch die Bäume fallenden Morgenlicht. Weder Jobst noch Brigitte hatten davon etwas mitbekommen, sie waren immer noch oben auf dem Hochsitz, und Franziska wollte sich besser nicht vorstellen, was die beiden dort miteinander taten.

Beim Waldrand hatten die Treiber inzwischen das erlegte Wild zusammengetragen: drei Hirsche, sechs Hirschkühe, mehrere Wildschweine – alles Bachen – sowie zwei Füchse, und den ordentlich aufgereihten leblosen Tieren den »letzten Bissen« in die Mäuler gesteckt. Die stolzen Jäger standen daneben, gestikulierten, rauchten und gratulierten einander. Als Jobst und Brigitte endlich auftauchten, wurden sie allseits bedauert, da ihnen kein einziges Wildbret vor die Flinte gekommen war. Kurz darauf bliesen die Hörner das Signal zum Ende der Jagd.

»Jetzt kommt der gemütliche Teil!«, freute sich Onkel Alexander von Hirschhausen, den Onkel Bodo und Onkel Alwin nur mit Mühe auf den Hochsitz beim Rotforst gewuchtet hatten. Einmal oben angekommen, erwies sich Alexander als ausgezeichneter Schütze. Er verfügte als Einziger über ein Bocksgewehr, das er sich in Österreich hatte anfertigen lassen.

Inspektor Schneyder kümmerte sich um den Transport der Jagdbeute, die Entlohnung der Treiber und alles andere, während die Jagdgesellschaft die inzwischen vorgefahrenen Kutschen bestieg. Nach dem anstrengenden Weidwerk galt es nun, das wohlverdiente und bekanntermaßen üppige Jagdessen im Gutshaus einzunehmen.

Schon seit Tagen waren die Vorbereitungen auf Gut Dranitz in vollem Gange. Trotz Mamas umsichtiger Planung war es jedes Jahr das gleiche aufregende Durcheinander: Mal kamen unerwartete Gäste, mal erkrankte ein Familienmitglied oder ein Angestellter, das Bier wurde nicht rechtzeitig geliefert, die Mäuse hatten einen Sack Mehl angefressen oder der Hund stahl eine der Hammelkeulen, weil das Küchenmädchen nicht aufgepasst hatte. Bekanntermaßen waren an solchen Unglücksfällen immer die Küchenmädchen oder die Burschen schuld, niemals aber die Köchin oder gar die Gutsherrin. Doch trotz aller Widrigkeiten gelang es jedes Jahr aufs Neue, die zahlreichen Verwandten und Freunde in den Räumen des Gutshauses einigermaßen bequem einzuquartieren und sie mit einem guten Frühstück zu stärken, bevor sich einige von ihnen – vor allem die männlichen Gäste – dem kräftezehrenden Vergnügen der Treibjagd widmeten. Die übrigen Gäste – meist die Damen – saßen währenddessen bei Kaffee und Gebäck zusammen und plauderten über allerlei Dinge, die besser unter Frauen beredet und beschlossen wurden. Heiratsverbindungen waren ein beliebtes Thema, genau...