Pussy - Roman

von: Howard Jacobson

Tropen, 2018

ISBN: 9783608110098 , 267 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Pussy - Roman


 

Prolog

Der Vormarsch der Ignoranz


Eines frühen Morgens während des bekanntermaßen außergewöhnlich heißen Sommers 20** konnte man beobachten, wie eine Gestalt zwischen den höchsten Obelisken und Zikkurats der von einer Mauer umschlossenen Republik Urbs-Ludus hindurchlief. Ein schlanker Mann Mitte vierzig, überdurchschnittlich groß, allerdings ohne Haare. Er war auf der Suche nach dem Palast mit den Goldenen Toren und man versicherte ihm, er könne ihn gar nicht verfehlen. Obgleich die meisten Leute, die er passierte, so taten, als spürten sie die Hitze nicht, und die Kragen zugeknöpft und die Schals umgewickelt behielten, trug er den Mantel über der Schulter. Etwas an ihm – es mochte sein kahlgeschorener Kopf sein, war dies doch eine Gesellschaft, die auf fantastische Haartrachten großen Wert legte – deutete Unnachgiebigkeit an und womöglich sogar, dass er vor den Autoritäten in Ungnade gefallen war. Es war Professor Kolskeggur Probrius, der bis zum Jahr zuvor Leiter von Phonoethics gewesen war, einem universitären Forschungsprogramm, das sich mit der Bedeutung von Sprache für ethisches Denken beschäftigte. Die Worte, die wir verwendeten, und die Art und Weise, wie wir sie zum Ausdruck brächten, so argumentierte er, hätten Einfluss auf unsere Gedanken und Taten. Die Phrase »Eine schlechte Grammatik bringt schlechte Menschen hervor« wird der Subtilität seines Denkens kaum gerecht, aber so lautete die Kernthese.

Der Junggeselle mit der asketischen Lebensführung hatte sich die Bewunderung der Studentenschaft dadurch erworben, sich ganz ihrem Fortkommen verschrieben zu haben. Dann erfolgte die Große Säuberung der Illuminaten und Professor Probrius sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, erkenntnismäßiges Herablassen betrieben zu haben, sprich daraus, über Expertenwissen zu verfügen, eine Tugend gemacht zu haben. Die Studenten würden an der gefühlten Kluft zwischen seinen und den eigenen Errungenschaften verzweifeln. Er sorge dafür, dass sie sich ihm unterlegen fühlten und man von oben auf sie herabschaue. Zwar räumte man ein, dass er sich durchaus bemühe, die Studenten vor Komplexität zu bewahren, indem er versuche, andere Worte für jene zu finden, an denen sie verzweifelten, dies aber habe nur dazu geführt, wie man vortrug, dass sie sich »remedialisiert« vorkamen. Der Augenblick, als er behauptete, das Verb »remedialisieren« noch nie gehört zu haben, war derjenige, in dem sein Schicksal besiegelt wurde. Da hatte man es ja: Er sei wohl der Überzeugung, die Sprache gehöre ihm. Bei einer extra einberufenen Anhörung des Däumling-Gerichts gingen siebenundsiebzig Daumen runter und nur zwei rauf. Stimmenthaltung wurde in der Däumlingskultur nicht befördert. Professor Probrius war den Job los.

Es war wie prophezeit: Den Palast der Goldenen Tore konnte man nicht verfehlen. Er war mindestens ein Dutzend Stockwerke höher als die restlichen Zikkurats, über dem Eingang prangte in Riesenlettern der Name ORIGEN, ebenso wie auf Himmelsniveau, und er hatte goldene Tore.

Vor dem Palast sammelten sich bereits Busse an der Vorhalle, entluden Mammon-Touristen, die ihn in ihrem I-Spy Book der Monolithen markiert hatten, bevor sie zum nächsten gefahren wurden.

In einem offenkundig dafür vorgesehenen, eng umzäunten Bereich fand eine Demonstration statt. Aus der Art und Weise, wie sich die Polizei gegenüber den Protestlern verhielt, schloss Professor Probrius, dass es sich um ein regelmäßiges Vorkommnis handelte, das für die Sicherheit des Gebäudes keine unmittelbare Bedrohung darstellte. Als symbolischer Mittelpunkt republikanischer Satisfaktion an sich war der Palast, drei Jahre zuvor, Schauplatz der ersten Bäckerbrot-Aufstände gewesen, der gewalttätigsten Unruhen in der Geschichte der Republik. Jahrelang hatte man in Urbs-Ludus nichts anderes getan, als Türme zu errichten. Produziert wurde nichts. Selbst das Brot wurde von anderswo eingeflogen und traf unvermeidlicherweise altbacken ein. Der weißen, in Scheiben geschnittenen Laibe, trockenen Muffins und unelastischen Pizza-Böden überdrüssig, ging die Bevölkerung in solcher Stärke auf die Straße, dass die Obrigkeiten Arbeitskräfte in Person erfahrener Teigmacher aus Ländern jenseits der Mauer importieren mussten. Das aber hatte eine unerwartete Konsequenz. Bald schon dämmerte es Urbs-Ludus, dass die Republik überschwemmt wurde – nicht von Bäckerbrot, sondern von Bäckern.

Ein Teil der Bevölkerung wandte sich gegen den anderen. Die Wohlhabenden hatten ihre Brioches, die Mittellosen aber mussten sich vor Armenhäusern hinter jenen anstellen, die sie herstellten. Die Kriminalität nahm zu – kleine Diebstähle zunächst, dann jedoch auch Delikte gegen Menschen, speziell Frauen, denen, so schien es, viele Bäcker noch nie zuvor begegnet waren, zumindest nicht in dem unanständigen Aufzug, der indes in der Republik für die Frauen und Töchter von Bauträgern als angemessen erachtet wurde. Im Palast als weiterer Beleg für die unermessliche Undankbarkeit der Leute betrachtet, gestattete man der jüngsten Verstimmung, sich Bahn zu brechen, diskret allerdings, damit man sie im Blick behalten konnte. Aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass das Volk – wenn auch eine andere soziale Schicht – erneut zu rumoren begann.

Professor Probrius war wegen eines Vorstellungsgesprächs in den Palast gekommen, es ging um den Posten des Privatlehrers für den zweiten Sohn des Großherzogs von Origen – jetzt sogar, aufgrund unvorhergesehener Umstände, der mutmaßliche Erbe –, Prinz Fracassus. Probrius stellte sich am Empfang vor, wo man ihn, weil er keinen Mantel trug, derart beleidigt ansah, dass er es für schlauer hielt, ihn wieder anzuziehen, bevor er ihn erneut auszog. Das Sicherheitspersonal war streng, lächelte aber. Er musste sich auf dreierlei Art ausweisen und sein Smartphone in einem Ablagefach mit der Aufschrift »Informationsübermittlungsgeräte« zurücklassen. Zwei Sicherheitsbeamte tasteten ihn ab, einer das eine Bein, der andere das andere. Ein dritter, der eine Gesichtsmaske trug, wies ihn an, »Ah!« in einen Ballon zu sprechen. Man konnte nie wissen, zu welchen Maßnahmen die jüngsten Feinde der Lotterieökonomie, egal ob bäckerophil oder bäckerophob, als Nächstes greifen würden und biologische Kampfführung mit Viren, übertragen von Mund zu Mund, konnte nicht ausgeschlossen werden. Professor Probrius stieß Luft aus. »Ah!« Der Ballon füllte sich, wechselte aber nicht die Farbe. Das schien allerdings auch niemand erwartet zu haben. Man bat ihn, Platz zu nehmen. Über dem Empfangstresen hing ein Gemälde im Stile Tizians, das den Großherzog beim Golfspielen mit dem Papst zeigte. Professor Probrius schüttelte den Kopf, als wäre der ein Kaleidoskop und er wollte die Formenanordnung darin ändern. Die Kristallleuchter reflektierten derart viel Licht, dass er möglicherweise gar nicht sah, was wirklich vorhanden war. Aber nein: Dort, auf seinen silbernen Putter gestützt, war der Großherzog von Origen und ihm gegenüber, lachend, neben einem Kardinal, der als sein Caddy fungierte, der Papst. Die einzige offene Frage war die, ob das Gemälde an eine reale Begebenheit erinnerte oder an eine herbeifantasierte.

Irgendwann wurde er dann mit dem Aufzug hinauf in den 117. Stock gefahren und in die Gegenwart von Großfürst und Großfürstin geschubst. Obgleich sie an einem Tisch gesessen und das Brettspiel Cashflow gespielt hatten, bei dem die Großfürstin, weil sie ein ruhiges Leben bevorzugte, den Großfürsten stets gewinnen ließ, waren sie gekleidet und herausgeputzt, als würden sie von einem Filmteam erwartet. Der Großfürst gepudert und mit seinen Medaillen behängt, die Großfürstin, noch stärker gepudert, in einem schwindelerregend tief ausgeschnittenen, paillettenbesetzten Abendkleid, das vollständig offen zu sein schien und nur noch an einer Seite von einer Büroklammer zusammengehalten wurde. Sie musste sich ihrer gefährlich hohen Highheels entledigt haben, denn sie war noch dabei hineinzuschlüpfen, als er eintrat. Professor Probrius, der nicht ihre Füße anstarren wollte, zählte stattdessen ihre Rippen. Sie war einen Kopf größer als der Großfürst und Probrius dachte, nach den bewundernden Blicken, die der Großfürst von Zeit zu Zeit zu ihr hinaufwarf, dass ihm dies gefiel und er überhaupt nichts dagegen gehabt hätte, wäre sie sogar zwei Köpfe größer gewesen. Die Haare beider hatten die Farbe von Zitronencreme, wobei die der Großfürstin lang und irritierend mädchenhaft waren wie die von Alice im Wunderland, die des Großfürsten dagegen in Lagen übereinandergeschichtet, als sollten sie den Millefeuilles ähneln, die es nun repulikweit in guten Pâtisserien zu kaufen gab. Professor Probrius konnte nicht sagen, wie alt sie waren. Der Ausdruck ...