Nicht ohne meine Kinder! - Eine Mutter kämpft gegen das Jugendamt

von: Karin Jäckel

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732548040 , 499 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 4,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Nicht ohne meine Kinder! - Eine Mutter kämpft gegen das Jugendamt


 

1


Stockholm, Schweden, Januar 2015

Inga öffnete die Eingangstür des Appartementhauses, sog die kalte Luft mit einem tiefen Zug in ihre Lunge und blies hüstelnd kleine Dampfwolken aus dem Mund. Sie fröstelte, zog ihren Wollschal über Kinn und Nase und betrat die hauchdünne Schneedecke auf dem Bürgersteig. An diesem frühen Sonntagmorgen war kaum jemand unterwegs. Eigentlich hatte Inga das Wochenende nützen wollen, um sich etwas Ruhe zu gönnen, sich zu vergraben unter dicken Daunendecken und einfach dem Nichtstun zu frönen. Stattdessen ging sie nun rastlos und verunsichert über die Straßen des noch im Tiefschlaf ruhenden Stockholms.

Spät am gestrigen Abend hatte das Handy geklingelt. Die ungewohnte Besorgnis in der sonst so ruhigen Stimme ihres Großvaters hatte sie irritiert. Der alte Mann hatte sich hinter seltsamen Bemerkungen versteckt, um dann alle Fragen mit Schweigen zu beantworten. Als würde er im selben Moment, in dem die Worte über seine Lippen gekommen waren, bereuen, sie ausgesprochen zu haben. Inga hatte sofort ihre Mutter Pernilla angerufen, doch als sich diese nicht gemeldet hatte, hatte sie den Entschluss gefasst, ihrem Großvater gleich am Morgen einen Besuch abzustatten.

Sie ging die Treppe zur U-Bahn am Östermalmstorg hinunter, stieg in die rote Linie und fuhr bis zur Endstation Ropsten. Der U-Bahnhof war menschenleer. Der süßliche Duft frisch gebackener Zimtschnecken stieg ihr in die Nase und lockte sie in einen Kiosk, in dem der Verkäufer gelangweilt in der Sonntagsausgabe des Svenska Dagbladet blätterte. Sie bestellte vier der köstlich warmen Schnecken und löste eine Karte für die Lidingöbahn.

»Früh unterwegs«, stellte der Verkäufer mit einem bemühten Grinsen fest.

Inga nickte stumm, schob ihm das Geld hin und griff nach der Papiertüte.

Die kleine Bahn setzte sich mit einem zähen Ruckeln in Bewegung, ächzte ebenso altersschwach wie müde und rollte gemächlich über die Brücke, die über das Wasser auf die Insel Lidingö führte. Trotz der anhaltenden Dunkelheit erhellte der Schnee die Umgebung. Bunte Bojen ragten regungslos aus dem gefrorenen Meer, das hier, wo es sich mit dem Süßwasser des Mälaren vermischte, schneller gefror als an anderen Küsten Schwedens. Die Kälte hatte die Wellen zum Schweigen gebracht.

Inga lächelte, als sie den kleinen Eisbrecher am Horizont auftauchen sah, der sich einen Weg durch das gefrorene Wasser bahnte. Obgleich das Rattern des Zuges das einzig wahrnehmbare Geräusch war, malte sie sich das Knacken und Ächzen aus, unter dem die Schollen nachgaben, zerbarsten, und, auf dem Wasser des großen Sees treibend, zurückblieben. Die Tage, an denen sie mit ihrem Bruder Magnus am Ufer gesessen hatte, die langen Schlittschuhe lässig über die Schulter geworfen, den Eisbrecher im Visier, lagen Jahre zurück. Dennoch ließen das kleine Monster, wie sie das Schiff als Kinder genannt hatten, und das unberührte Eis die Erinnerungen aufleben. Magnus, Ingas jüngerer Bruder, studierte an der Hochschule in Göteborg und kam nur noch selten nach Stockholm.

Inga seufzte und sank tiefer in den Sitz. Immer noch steckte ihr die Müdigkeit in den Gliedern. Ihre Gedanken wanderten zu den glücklichen Momenten, die sie mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Sven auf der Insel verbracht hatte: die Lagerfeuer und die Abende mit Gitarre im Garten ihres Großvaters, die Wintertage, an denen sie verliebt zu zweit auf dem gefrorenen See, der versteckt in der Mitte der Insel lag, Schlittschuh gelaufen waren. Es waren schöne Erinnerungen. Zu schön, um sie einfach beiseitezuschieben, und dennoch zu schmerzhaft, um an ihnen festzuhalten. Der Schock der Trennung saß immer noch tief, und Inga ertappte sich nicht selten dabei, die Schuld für Svens Untreue bei sich zu suchen. In den letzten Wochen hatte sie sich entweder in ihre Wohnung zurückgezogen oder war wie automatisch Tag für Tag zur Arbeit gegangen, um ihre Pflichten zu erfüllen und ihren Kopf zu zwingen, das ständige Grübeln zu unterlassen.

Sieben Stationen waren es mit der Lidingöbahn. Kalle Johansson lebte am südlichen Ende, dem schönsten Teil der Insel, wie er stets behauptete, mit Blick auf das Meer und die gegenüberliegende Küste. Inga bereute ihre Nachlässigkeit, was die Besuche bei ihrem Großvater betraf. Damals, vor fünf Monaten, als Sven Inga ganz plötzlich und ohne Vorwarnung verlassen hatte, war er es gewesen, der ihr Trost geschenkt hatte, zu dem sie jeden Abend gefahren war, um auf andere Gedanken zu kommen. Nach einigen Wochen, als sie wieder in ihr Leben zurückgefunden hatte, waren die Besuche wieder seltener geworden. Ihr Großvater grollte ihr nicht deswegen. Er war da, wenn sie ihn brauchte, und drängte nicht, wenn sie Abstand suchte.

Anders als Pernilla, Ingas Mutter, die sie mit gut gemeinten Anrufen und Worten des Trostes bombardierte und ständig nach Begründungen für Svens Handeln suchte. Sie ließ nicht unausgesprochen, dass auch Inga Schuld am Scheitern der Beziehung trug. Inga nahm das ihrer Mutter nicht übel, doch es war anstrengend, sich ständig zu erklären, unablässig über Sven zu sprechen und über den Schmerz, den sie empfand.

Bei ihrem Großvater musste Inga nichts sagen. Er nahm sie schweigend in den Arm und ermunterte sie, sich neue Beschäftigungen zu suchen oder ihm bei der Gartenarbeit zu helfen. Doch nie hatte er ein Wort über Sven verloren. Er war ihre größte Stütze gewesen, und dennoch hatte sie ihn in letzter Zeit vernachlässigt. Das Alter setzte Ingas Großvater zu, und ihr wurde bewusst, dass jeder Tag in seinem langen Leben der letzte sein könnte. Er hatte die neunzig überschritten, was den meisten Menschen nicht vergönnt war, und war halbwegs gesund und fit im Geiste.

Das gleichmäßig rhythmische Rattern des Zuges ließ Inga schläfrig werden. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie genoss die Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihren Großvater und sein ruhiges Naturell, das ein wenig geheimnisvoll wirkte. Kalle Johansson war immer schon ein besonderer Erzähler gewesen. Er wusste auch heute noch, seine Stimme wie ein Werkzeug zu benutzen. Damals, als Inga noch klein gewesen war, hatte er Wolf wie Hexe so gut nachgeahmt, dass sie und ihr Bruder Schutz unter der Decke gesucht hatten, vor Angst, von einem bösen Fabelwesen gepackt und verschleppt zu werden. Inga und ihr Bruder Magnus waren in der Welt der Geschichten versunken und nicht mehr in der Lage gewesen, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Seit Jahren schon, seit Inga dem Kleinkindalter entwachsen war, waren die Geschichten verstummt, die Hexen und Geister zurück in die Fantasiewelten geflüchtet.

Bis ihr Großvater ihr gestern Abend angekündigt hatte, dass er ihr etwas Wichtiges aus seiner Kindheit erzählen müsse. Inga kannte jedes Fältchen in seinem Gesicht und wusste jede Regung zu deuten. Doch sobald sie sich in die Jahre seiner Kindheit vorwagte, verstummte er und wechselte mit einem nüchternen Kopfschütteln das Thema. Sie wusste wenig über seine Vergangenheit – er war in Berlin aufgewachsen und nach dem Krieg allein nach Schweden geflüchtet, nachdem seine Familie ums Leben gekommen war. Alles andere war unerzählt geblieben. Keine Namen, keine Orte, keine Fotografien. Die Menschen des Krieges, wie Ingas Mutter sie immer nannte, wollten die Zeit des Grauens vergessen und sprachen nicht gern darüber.

Der Zugführer kündigte den nächsten Halt an. Inga stand auf, lugte aus dem Fenster und begab sich zum Ausstieg. Das Wartehäuschen stand mitten in einem kahlen Birkenwäldchen und verschwand fast unter den Schneebergen, die sich rundum auftürmten. Als der Zug hielt, öffnete Inga mit einem kräftigen Ruck die alte Tür und hüpfte leichtfüßig die drei Stufen hinunter.

Der Zauber, der in der frühen Stunde des Tages lag, berührte sie und verleitete sie dazu, innezuhalten und den Moment der absoluten Stille abzuwarten. Das sanfte Rattern des sich entfernenden Zuges verebbte langsam, und bald hörte sie nichts außer ihrem Atem. Es war, als hätte der Winter jedes Geräusch verschluckt. Eine Ladung Schnee fiel zischend von den hängenden Birkenzweigen, was geradezu störend laut wirkte. Der Pfad, der zu der Straße führte, war zu so früher Stunde noch nicht geräumt worden. Inga schaute auf den Weg, der unter der Schneedecke nur noch zu erahnen war. Fast schuldbewusst schritt sie vorwärts und hinterließ ihre plumpen Fußabtritte im makellosen Weiß. Der Schnee wurde tiefer, und bald stapfte Inga durch kniehohe Wechten, die der Wind geformt hatte. Als sie die Straße erreichte, war ihre Hose bereits bis zu den Knien durchnässt, und der Schnee kroch oben in ihre Stiefel, schmolz und rann an ihren Waden nach unten. Sie klopfte sich, so gut es ging, ab und machte sich auf den Weg zum Haus ihres Großvaters.

Nach zehnminütigem Fußmarsch lugte die Dachspitze des gelben Holzhäuschens hinter den Büschen hervor. Als sie vor dem Haus stand, ließ sie ihren Blick von Fenster zu Fenster wandern und lächelte zufrieden, als sie in der Küche gedämpftes Licht schimmern sah. Inga klopfte ihre Schuhe ab, trat die drei Stufen zur Haustür hinauf und drückte auf die Klingel.

»Wer ist da?« Ihr Großvater öffnete, stützte die Arme in die Hüften, als er seine Enkeltochter erblickte, und zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ja, sag mal, Inga. So früh? Ist was passiert?«

Sie schüttelte den Kopf und schlug sich fröstelnd auf die Oberarme. »Nein, Opa, alles in Ordnung. Es ist furchtbar kalt heute Morgen.«

Sie betrat das alte Häuschen, schälte sich aus der dicken Jacke und stieß einen tiefen Seufzer aus, als ihr die bekannten Gerüche in die Nase stiegen:...