Protevangelium - Zur Frage der kanonischen Geltung des Alten Testaments und seiner christologischen Auslegung

von: Meik Gerhards

Verlag Katholisches Bibelwerk, 2018

ISBN: 9783460510371 , 208 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 22,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Protevangelium - Zur Frage der kanonischen Geltung des Alten Testaments und seiner christologischen Auslegung


 

I) Hinführung


Die Evangelische Kirche ist ihrer Tradition nach Kirche des Wortes. Ihre Lebens- und Lehrgrundlage ist die Heilige Schrift, als deren Zentrum die Botschaft von Jesus Christus gilt. Nach evangelischer Auffassung genügt die Schrift, weil aus ihr Gottes Wort vernommen wird und weil sich die Schrift selbst auslegt. Das reformatorische Schriftprinzip lebt davon, dass auf Grund dieses Selbstauslegungsvermögens eine normative kirchliche Auslegungsautorität verzichtbar ist.1

Die Aktualität dieses traditionellen evangelisch-theologischen Ansatzes kam im 20. Jh. noch einmal eindrücklich zur Geltung, als die Barmer Bekenntnissynode von 1934 gegen alle kirchlichen Kompromisse mit dem Ungeist der damaligen Zeit feststellte: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“. Die Theologische Erklärung von Barmen stellt sich ausdrücklich in die Tradition der Reformation, indem sie mit dem Motto schließt: Verbum Dei manet in aeternum (I Petr 1,25; vgl. Jes 40,8).2

Die Barmer Erklärung bildet wohl den Höhepunkt der kirchenpolitischen Wirkung der von K. Barth und anderen vertretenen Wort-Gottes-Theologie, die die evangelische Theologie des deutschsprachigen Raumes noch über Jahrzehnte hinaus stark (mit-)geprägt hat, deren Wirksamkeit heute aber stark erodiert ist. In der Tat kann man fragen, ob sich die Wort-Gottes-Theologie immer in angemessener Weise ihrem Grundproblem gestellt hat, das sich aus ihrer Spannung zur historischen Kritik ergibt.

Während sich die Wort-Gottes-Theologie in evangelischer Tradition auf die Bibel als Medium göttlicher Offenbarung stützt, hat die seit dem 18. Jh. etablierte historisch-kritische Bibelwissenschaft die biblischen Texte in einer zuvor so nicht bewussten Weise als von Menschen geschaffene und von den Umständen ihrer jeweiligen Entstehungszeit geprägte Literaturwerke zu verstehen gelehrt. Ein Zurück hinter diese Form der Bibelwissenschaft ist nicht möglich: Die Frage ihrer Legitimität ist „seit spätestens 200 Jahren (…) immer schon von der Faktizität der Anwen-dung der historischen Kritik überholt“3

Zwar hat die historische Bibelwissenschaft auch immer wieder Spekulationen hervorgebracht, die von nachfolgenden Forschergenerationen wieder verworfen wurden, und es ist damit zu rechnen, dass vieles, was in den exegetischen Fächern heute weithin anerkannt ist, dasselbe Schicksal erleiden wird. Die grundlegende Einsicht in die zeit- und religionsgeschichtliche Bedingtheit der biblischen Texte und die Erkenntnis, dass die meisten biblischen Bücher eine komplexe Entstehungsgeschichte durchlaufen haben, bleibt davon jedoch unberührt. Diese Grunderkenntnisse können nie mehr bestritten werden – zumal es auch theologisch unsinnig wäre, dies zu tun: Durch die historische Kritik sind viele Einzelheiten biblischer Texte überhaupt erst verständlich geworden; auch kann die historische Kontextualisierung biblischer Aussagen sachlich-theologisch relevant sein, wie besonders eindrücklich an Extremfällen zur Geltung kommt, etwa an den theologischen Kurzschlüssen von Fundamentalismen, die sich den Einsichten der historischen Kritik konsequent verweigern4.

Die historisch-kritische Bibelwissenschaft ist aber nicht nur hilfreich und kann in ihrer antifundamentalistischen Wirksamkeit auch heilsam sein – sie hat aus traditioneller evangelischer Sicht auch „Nebenwirkungen“5, die zur theologischen Verständigung nötigen. Dabei geht es um keine geringere Frage als um die, ob das traditionelle evangelische Bibelverständnis, wie es auch die Wort-Gottes-Theologie vertritt – Verbum Dei manet in aeternum! –, durch gewisse Folgen der historischen Kritik überholt ist, oder ob diese Folgen aus traditioneller evangelischer Sicht theologisch eingeholt und verarbeitet werden können.

Es ist auf Grund der historischen Kritik selbstverständlich geworden, dass die Bibel als Sammlung von religionsgeschichtlichen Dokumenten betrachtet werden kann, die in ihrer heutigen Gestalt oftmals Spuren von längeren literarischen Wachstumsprozessen zeigen, und die damit als Niederschlag religiöser Reflexionen und Erfahrungen unterschiedlicher Epochen und Gruppen gelten können. Aber auch wenn im Rahmen einer historischen Interpretation die theologischen Erfahrungsdeutungen, die sich in den Texten des Alten Testaments finden, auf Jesus Christus hin („christo-transparent“) ausgelegt werden können6, so kann doch eine Wort-Gottes-Theologie in reformatorischer Tradition davon allein nicht leben. Ein entsprechendes historisches Vorgehen „im Sinn einer religionsgeschichtlich gestützten Klassifikation der im Alten Testament artikulierten Gotteserfahrungen, einschließlich deren Fokussierung auf im Neuen Testament auf Jesus Christus bezogene Texte“7 ist ein respektables Unternehmen, das wichtige theologische Grundlagenerkenntnisse erbringen kann. Die Wort-Gottes-Theologie setzt aber voraus, dass die Bibel noch etwas anderes ist als eine Sammlung von Dokumenten mensch-licher Reflexion und Erfahrungsdeutung. Sie lebt davon, dass die Bibel Heilige Schrift im theologisch gehaltvollen Sinn8 eines Mediums geschehener sowie möglicher gegenwärtiger und künftiger Gotteserfahrung ist9.

Um es an einem bekannten Beispiel zu erläutern: Dass der Gerechte allein aus Glauben lebt (Röm 1,17 mit Berufung auf Hab 2,4), gilt im Anschluss an Luthers „Turmerlebnis“-Schilderung10 als theologische Grundeinsicht der Reformation. Auch wenn das, was die Reformation ausmacht, insgesamt weit komplexer ist, kommt dieser theologischen Einsicht wichtige Bedeutung zu. Der Satz, dass der Gerechte allein aus Glauben lebt, konnte seine umwälzende Wirksamkeit aber nur entfalten, weil er in der Reformationszeit nicht als Ausdruck theologischer Deutung von Erfahrung rezipiert wurde, die ihren Niederschlag in antiken Dokumenten gefunden hat, welche traditionell dem biblischen Kanon zugerechnet werden. Die reformatorische Wirksamkeit des Satzes ist nur damit zu erklären, dass er als lebensveränderndes Wort Gottes aus der Heiligen Schrift vernommen wurde – also ganz so, wie es Luther als sein „Turmerlebnis“ beschreibt.

Angesichts der heute selbstverständlichen Anerkennung der historischen Kritik gerät aber die Überzeugung, dass die Heilige Schrift das ist, wovon die Wort-Gottes-Theologie lebt – nämlich Medium der Offenbarung Gottes und, insofern diese Offenbarung an das Wort der Schrift gebunden ist, selbst Wort Gottes – in den Verdacht voraufgeklärter Naivität.

Ebenso kann der Glaube, dass die Bibel „das eine Wort Gottes“ (Barmen) bezeuge oder dass es in ihr um eine zentrale „Sache“ gehe, im Licht der historischen Kritik als unzulässige Harmonisierung höchst verschiedener religiöser und theologischer Aussagen erscheinen. So wird etwa die Feststellung getroffen: „Am Ende eines Erkenntnisweges, auf dem die innerhalb von 1000 Jahren entstandenen Texte der Bibel als Dokumente einer vergangenen Zeit gewürdigt und zu verstehen versucht werden, steht der Eindruck einer irreduziblen Pluralität“11.

Angesichts dieser (Neben-)wirkungen der historischen Kritik kann der Ansatz einer Exegese, die die kanonische Einheit der Heiligen Schrift (im theologisch gehaltvollen Sinn) wieder in den Blick zu bekommen sucht, als tendenziell fundamentalistisch und „sehr kurzsichtig, ungeschichtlich und selbstsüchtig“ bezeichnet werden. Es kann der Vorwurf erhoben werden, ein solcher Ansatz verdränge „alles, was wir heute über die Entstehung der biblischen Schriften wissen“ und wolle „alles, was nicht in unser eigenes, vorher festgelegtes Denk- und Glaubensmuster paßt, von vornherein ausscheiden“.

Diese sehr dezidierte Kritik von E. S. Gerstenberger verrät allerdings in erster Linie einen gegen Kanon und Dogma gerichteten Affekt und nötigt ihrerseits zu kritischen Rückfragen.12 Dabei stellt sich schon bei oberflächlichem Nachdenken die Frage, ob man dem, wovon biblische Texte sprechen, überhaupt gerecht wird, wenn man die Bibel streng historisch als Sammlung religionsgeschichtlicher Dokumente versteht, die –was auch Gerstenberger gelten lässt13 – unsere Herkunft mitprägt und dabei auch in irgendeinem allgemeinen Sinne religiöse Bedeutung hat, etwa als Deutung religiöser Erfahrung.

Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Bibel in christlich geprägten Ländern und Kulturen auf verschiedenen Gebieten als Ideengeber und Orientierungshilfe wirksam war und noch immer ist. Ordnet man sie aber auf Grund ihrer hohen kulturellen Bedeutung den wichtigen Werken der Weltliteratur zu, dann könnte sich zeigen, dass nicht wenige literarische Werke deutlich eindrücklicher und viel mehr von zeitloser, aktueller Bedeutung zu sein scheinen als die Texte der Bibel.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Tragik der homerischen Helden Achilleus und Hektor dürfte weitaus mehr Leser viel unmittelbarer ansprechen als die Tragik der biblischen Figur Sauls.14

Nach Darstellung der Ilias scheitert Achill an seinem...