Drei Steine für Betty

von: Bettina Kupfer

Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2018

ISBN: 9783946593997 , 220 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Drei Steine für Betty


 

Kapitel 1


Ich habe mich oft gefragt, ob ich Großmutter wirklich so ähnlich bin, wie Papa immer sagt. Er meint nämlich, dass Kinder meist nicht den Eltern, sondern eher den Großeltern ähnlich sind. Und er findet, dass ich Oma Minnie ganz besonders ähnlich bin und nicht Mama oder ihm. Ich weiß es nicht. Es gibt nur ein Foto von Oma, und da ist sie zwölf Jahre alt, genauso alt wie ich jetzt bin. Nicht ganz, denn ich bin gerade erst zwölf geworden, doch trotzdem, wenn man genau hinsieht, gibt es schon eine gewisse Ähnlichkeit. Sie lächelt genauso wie ich, und ihre Beine verschränkt sie auf Fotos auf dieselbe Art, wie ich es tue, fast wie ein Knicks – aber so stur wie sie ist, das bin ich nicht! Obwohl? Wenn ich etwas will, dann setze ich das auch durch. Koste es, was es wolle. Also sind wir uns wohl doch ziemlich ähnlich – Oma Minnie und ich.

Trotzdem ist Oma Minnie seltsam, und sie ist mir oft fremd. Manchmal sieht sie einfach vor sich hin und fängt an zu lachen. Oder sie sagt etwas vor sich hin, das kaum verständlich ist, oder sie wird merkwürdig, wenn es um Deutschland geht. Das ist das Thema überhaupt mit Oma. Deutschland! Sie wollte nie nach Frankfurt kommen und uns besuchen. Das hatte sie so mit sich ausgemacht, da kam man nicht dazwischen. Ich konnte das lange nicht verstehen, weil wir so eine gemütliche Wohnung haben, mit Decken bis zum Himmel und langen schweren Vorhängen vor dem Fenster, die die Welt mit all ihrem Irrsinn draußen lassen, wie Mama sagt.

Immer hat Oma einen Grund erfunden, warum es gerade nicht passte. Papa und Mama haben schon oft deshalb gestritten. Zum Beispiel als David auf die Welt kam, das war vor sechs Jahren. Da wollte Papa Oma aus Israel abholen, um ihr den winzigen David zu zeigen, doch sie weigerte sich zu kommen. Es gab deswegen ganz viel Streit. Und da habe ich Papa auch zum ersten Mal weinen gehört. Ich sollte davon nichts mitkriegen, deshalb hatte er sich im Wohnzimmer eingeschlossen. Aber ich konnte hören, wie er ganz leise weinte, und deshalb konnte ich auch in der Nacht nicht schlafen, weil es mir Angst gemacht hat. Wie kann man auch schlafen, wenn der eigene Vater weint!

Aber ich traute mich nicht zu fragen – am Tag darauf war Papa nämlich wieder normal und gut gelaunt, sodass ich schon dachte, dass ich mir das alles nur eingebildet und das Ganze bloß geträumt hatte.

Doch in der nächsten Nacht ging es wieder los. Es war zum Verrücktwerden. Ich überlegte mir damals eine Strategie, nämlich immer besonders lieb zu Papa zu sein. Aber das hat auch nicht geholfen. Dann habe ich, wenn Papa weinte, zuerst zu Gott gebetet und mir gewünscht, dass Papa wieder glücklich wird, und danach, weil ich ja nicht schlafen konnte, habe ich das kleine Radio angeschaltet, das Papa mir zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Und habe es ganz leise gemacht und fest aufs Ohr gedrückt. Im Radio war immer so viel los! Vor Hörspielen habe ich mich gegruselt – aber oft kamen Lieder, die kenne ich heute noch auswendig, obwohl ich damals noch gar kein Englisch konnte.

Ein Lied war ein richtiger Ohrwurm, Somewhere Over The Rainbow hieß es. In diesem Lied ging es um den Himmel und dass es über dem Regenbogen einfach schön ist. Das hatte mir Mama mal übersetzt. Und genau dadurch ist sie auch dahintergekommen, dass ich Papa weinen gehört und deshalb heimlich das Radio angemacht hatte. Das hat sie wütend gemacht, und sie hat mit Papa darüber gestritten, dass Oma Minnies „Geschichte“ nicht an mir hängenbleiben sollte. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, was sie damit meinte. Denn wann immer wir Oma Minnie in Jerusalem besuchten – und das war oft –, gab es keine „Geschichte“ oder so etwas. Es war immer lustig und fröhlich dort, und wir hatten alle viel Spaß zusammen.

Aber wenn ich ganz ehrlich bin – am Ende ist Oma Minnies „Geschichte“ dann doch an mir hängengeblieben. Ich hätte nie gedacht, dass diese „Geschichte“ einmal so wichtig für mich werden könnte und dass ich verstehen würde, warum Oma nie nach Deutschland wollte, nach Frankfurt zu uns, obwohl wir doch ihre einzige Familie sind.

Alles fing damit an, dass wir in den Sommerferien Oma Minnie in Israel besucht hatten, so wie wir das in allen Sommerferien tun. Wir wollten wie immer zuerst mit ihr zum Baden ans Rote Meer, aber dieses Mal wollten wir sie auf jeden Fall mit zu uns nach Frankfurt nehmen, zu meiner Bat Mitzwa nämlich. Und Oma Minnie hatte zugesagt, weil sie selbst nie eine Bat Mitzwa gehabt hatte, wie sie sagte, und auch deshalb die von ihrer einzigen Enkelin nicht verpassen wollte. Darauf war ich so stolz! Dass Oma wegen mir mit nach Deutschland kam und Papa deswegen fast Luftsprünge machte, weil er sich so sehr freute!

Zwei Wochen verbrachten also Oma Minnie, Papa, Mama, David und ich in Eilat am Roten Meer. Schwimmengehen, faulenzen, am Strand spielen und das Schönste: Delfine beobachten. Oma hat in Eilat eine kleine Wohnung, in der wir dann immer wohnen. Im Grunde haben wir zu fünft dort keinen Platz. Aber David und ich schlafen mit Oma im Schlafzimmer und Papa und Mama auf der Couch im Wohnzimmer. Eigentlich ist das Wohnzimmer auch die Küche, was besonders lustig ist, weil David und ich meistens schon viel früher wach sind als alle anderen, und wir uns Kakao machen, was Mama und Papa gar nicht gefällt, weil sie noch weiterschlafen möchten. Das führt dann dazu, dass es meistens eine Kissenschlacht gibt und wir danach mit Mama und Papa noch ein wenig kuscheln, während Oma das Frühstück macht. Helfen dürfen wir ihr dabei nicht, weil sie so froh darüber ist, dass wir alle zusammen sind und sie für uns sorgen kann. Sie sagt immer: „Dass ich das noch erleben darf – eine richtige kleine Familie!“

Und dann ist sie jedes Mal so gerührt, dass ihr eine winzige Träne über die Wange rollt, die ihr Papa wegumarmt. „Meine kleine Minnie Mutter“, sagt er dann zu ihr und hält sie ganz fest. Das sieht komisch aus, weil Oma wirklich sehr klein ist und Papa riesig. Dann sieht Oma aus wie ein kleines Mädchen mit vielen Falten. Und ich stelle mir vor, dass ich vielleicht auch mal einen Sohn habe, der so groß ist wie Papa, und der mich auch so umarmt und ich dann so aussehe wie Oma, so alt und klein und zerbrechlich, weil ich ihr ja so ähnlich bin, wie alle sagen.

Es gibt jedoch einen Wermutstropfen bei der ganzen Glückseligkeit in den Ferien, und das ist Opa Schmuel, den ich ja nicht gekannt habe, weil er lange, bevor ich geboren wurde, gestorben ist. „Einfach so“, wie Oma Minnie immer sagt. Und sie vermisst Opa sehr. Je älter sie wird, desto mehr muss sie an ihn denken, sagt sie, und daran, dass er seine Enkel nie gesehen hat. Opa Schmuel und Oma Minnie hielten nach dem Krieg zusammen wie Pech und Schwefel, und als Opa gestorben ist, war Oma nur noch die Hälfte von einem Ganzen, und deshalb wollte Papa sie ja auch zu uns nach Frankfurt holen, damit sie nicht so alleine ist, aber sie wollte bei Opa bleiben, in Jerusalem, und ihn jeden Tag auf dem Friedhof besuchen. So wie an jenem Freitag, bevor wir alle nach Frankfurt reisen wollten.

Wir hatten uns von den Delfinen verabschiedet, die kleine Wohnung abgeschlossen und waren mit dem Auto nach Jerusalem zurückgefahren. Es war früh am Morgen, weil es da noch kühl war und besser zum Autofahren, denn im Sommer ist es in Israel ziemlich heiß, weit über vierzig Grad. Und von Eilat bis nach Jerusalem geht die Straße durch die Wüste Negev: Die Straße flimmerte vor Hitze, und das Auto mit uns Fünfen quälte sich über den Asphalt, sodass Papa fluchte und schimpfte, dass wir kein Auto mit Klimaanlage haben und immer noch mit Opas alter Schrottkarre fahren müssen, aber Oma hängt halt an Opas Auto. Und Papa eigentlich auch, selbst wenn er es nicht zugeben mag. Immerhin ist es das Auto von seinem Vater, und das kann ja nichts dafür, dass es aus der Mode gekommen ist. Außerdem ist Oma der Meinung, dass der gute alte Volvo wie ein gemütlicher Esel ist, der es nicht eilig hat und obendrein ein Teil von Opa ist, der dadurch mit uns auf die Reise geht. Oma sagt immer, dass wir im Bauch von Opa verreisen, so nennt sie nämlich das Innere von Opas Auto. Und Papa kann und will ihr den Wunsch, mit dem alten Auto zu fahren, nicht abschlagen, weil er ja weiß, wie viel Oma das Auto von Opa bedeutet. Deshalb nimmt er die Reiseschikane auf sich und schimpft und flucht halt. Vor allen Dingen wenn Oma will, dass er schneller fährt, und sagt, dass man noch viel mehr aus Opas Auto herausholen könnte. Dann fängt Papa an über Automotoren zu fachsimpeln, das nervt Mama, weil sie das gar nicht interessiert, und Oma freut sich, dass jetzt alle über Opa reden. David und ich halten uns da aber meistens raus – auch weil wir am Fenster sitzen dürfen und uns den warmen Fahrtwind ins Gesicht wehen lassen und dann irgendwann gar nichts mehr hören.

Jedenfalls kamen wir also an Schabbat in Jerusalem an, und Oma wollte noch zum Friedhof, sich von Opa verabschieden. Deshalb hatte Papa ja auch mächtig auf die Tube gedrückt, damit wir nicht so spät bei Oma ankommen würden, denn an Schabbat essen wir immer – wirklich immer! –...