BLUMEN FÜR DEN HENKER - Ein Horror-Roman

von: Bernardo Teixeira

BookRix, 2019

ISBN: 9783743897908 , 374 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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BLUMEN FÜR DEN HENKER - Ein Horror-Roman


 

  Erstes Kapitel


 

 

Der wichtigste Mensch in meinem Leben war meine bezaubernde junge Halbschwester Claudine. Ich liebte sie. Meine Liebe war sicherlich nicht rein brüderlich, aber sie zielte auch nicht unbedingt auf körperliche Erfüllung. Wir waren ineinander verliebt, seit sie ein Kind war. Doch falls das bei zwei eigentlich sehr sinnlich veranlagten Menschen möglich ist, war unsere Liebe eher ein ständiges geistiges Verlangen füreinander. Es kann aber sein, dass ihre Gefühle für mich nicht so erhaben waren, weniger wolkenstürmerisch, eben normaler. Wenn ich heute zurückblicke auf die schrecklichen Ereignisse, die sie mir geraubt haben, frage ich mich oft, ob es nicht gerade der platonische Charakter meiner Liebe war, der sie so gefährlich nah zu Cassandra getrieben hatte. Cassandra war für sie die Versuchung des Fleisches, zumindest am Anfang. Aber das ist bloße Spekulation. Claudine war damals erst achtzehn, ziemlich reif für ihr Alter, aber doch noch leicht zu beeindrucken wie ein Kind.

Das Auftauchen jenes geheimnisvollen, rätselhaften Wesens Celeste war das Gefahrensignal gewesen, aber ich erkannte es damals nicht. Zwar spürte ich es, aber es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.

Doch ich greife der Geschichte vor. Es begann alles im August 1977, an der Algarve im Süden Portugals. Claudine, zehn Jahre jünger als ich, war aus Paris gekommen, um den ganzen Monat bei mir zu verbringen. Ich arbeitete an der Algarveküste als Architekt (ich gab vor, als Architekt zu arbeiten, wäre wohl eine bessere Beschreibung gewesen). Claudine hatte gerade das Lyzeum in Paris abgeschlossen und wollte im Herbst am Mount Vernon College in Washington mit dem Studium beginnen. Ihr Vater, Leon d’Harcourt, war Legationsrat an der dortigen französischen Botschaft. Ihre Mutter, Gisella d’Harcourt, (geborene Borghini), war auch meine Mutter. Sie hatte einmal Gisella de Remillon geheißen, aber mein Vater, Hauptmann Roger de Remillon von der französischen Luftwaffe, hatte sie als junge und schöne Witwe zurückgelassen.

Meine Mutter, die mich ebenso liebte wie ich sie, hatte aber, was mich betraf, einen seltsamen Komplex. So sehr sie es genoss, Claudines Mutter zu sein, so sehr sträubte sie sich, meine zu sein. Doch das war einfach eine Frage der Arithmetik. Als ich achtundzwanzig war (zu der Zeit, als die schrecklichen Ereignisse begannen), war sie achtundvierzig, aber sie sah aus und benahm sich, als sei sie dreißig, wahrhaftig nicht alt genug für einen so großen, erwachsenen Sohn. Deshalb zog sie es vor, dass ich nicht so oft bei ihr auf tauchte, und wenn wir irgendwo waren, wo niemand uns kannte, gab sie mich als ihren jüngeren Bruder aus. Ich sträubte mich nicht gegen diese etwas manipulierte Zeitrechnung, und sie war mir dankbar dafür.

Der frühe Tod meines Vaters war die Folge seiner übergroßen Liebe zu Flugzeugen. Als junger Hauptmann in der französischen Luftwaffe hatte er darauf bestanden, eine Experimentalversion des Mirage-Jets zu testen, die eigentlich von einem Piloten der Herstellerfirma hätte getestet werden sollen. Nach einem brillanten Start und einem ebenso brillanten Flug verpatzte er die Landung, und das Flugzeug explodierte. Er hinterließ mir ein beträchtliches Vermögen und seiner Witwe die Erinnerung an eine kurze Ehe. Ich war damals zwei Jahre alt. Mein sehr reicher Onkel, Guy de Remillon, wurde zum Verwalter meines Vermögens bestellt, das er stetig vermehrte.

Nach einigen Jahren Witwenschaft heiratete Mutter einen jungen französischen Diplomaten mit aussichtsreicher Zukunft, Leon d’Harcourt. Meine Mutter kam aus einer alten Mailänder Familie; französische Flieger ebenso wie französische Diplomaten scheinen einen Hang zu norditalienischen Schönheiten zu haben. Das jungvermählte Paar war viel auf Reisen, und Claudine, ihr einziges gemeinsames Kind, wurde irgendwo unterwegs gezeugt.

In jenem Sommer 1977, als Claudine an die Algarve kam, hatte ich ein hübsches Häuschen in Vale do Lobo, komplett, mit kleinem Swimmingpool und Segelboot am Kai von Vilamoura. Das Wetter war perfekt - heiß, trocken, sonnig und abends angenehm kühl. Eine Besonderheit der Algarve ist, dass hier die Sommer oft tatsächlich so wie in denTouristenprospekten sind. Eine andere Besonderheit der Algarve ist ihre Landschaft: Wenn man zweihundert oder dreihundert Meter draußen auf See ist und seine Augen die Küste entlanggleiten lässt, dann erblickt man die Pinienwälder, die den Strand begrenzen, den weißen, endlosen Sand, die Felsformationen, die in kapriziösen Mustern das Wasser durchbrechen, die blaue und grüne Klarheit dieses Wassers, die weißen Villen, die sich an die Klippen klammern, und die stillen Städtchen wie Carvoeiro, das wie ein römisches Amphitheater ausschaut. Dann denkt man, dies sei eine der schönsten und friedlichsten Gegenden der Erde. Aber wenn man auf den Klippen der Küste steht und landeinwärts schaut, erblickt man ein halbtrockenes, melancholisches Land, und man fragt sich, warum man eigentlich hier ist. Aber natürlich fährt man an die Algarve der Küste wegen, nicht e auch immer man sie aber betrachtet: Die Algarve ist eine besondere Welt, sie hat ihre maurische Seele im dreizehnten Jahrhundert verloren und seitdem keine neue gefunden.

Claudine war während des ganzen Monats sehr fröhlich. Nur einmal erschien sie beunruhigt, und das war genau vier Tage vor ihrer Abreise nach Washington. Zu jener Zeit hatte das für mich nur eine amüsante Note. Wir hatten mein Boot vor dem halbprivaten Balaia-Strand verankert, der seinen Namen von dem Luxushotel gleichen Namens hat. Claudine beschloss, an Land zu schwimmen, um nach Bekannten am Strand Ausschau zu halten, während ich an Bord blieb und eine Winsch zu reparieren versuchte. Als sie zum Boot zurückgeschwommen kam, erschien sie verwirrt und unsicher. Ich gab ihr ein Handtuch und ein kaltes Bier.

»Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte sie, als ob sie zu sich selbst spräche.

»Was verstehst du nicht, Liebling?«, fragte ich. »Hast du am Strand keine Bekannten getroffen?«

»Nein, das meine ich nicht«, sagte sie. Sie schien unwillig fortzufahren.

»Nun rede schon, Claudine. Hast du ein Gespenst gesehen?«

»Nein, aber ein sehr schönes Mädchen.«

»Was ist so ungewöhnlich daran? Davon muss es am Balaia-Strand doch einige geben. Aber erzähl mir doch!«

»Also, lach' bitte nicht, Raoul... Ich traf diese netten Freunde von dir, Luis und Carmo Norton, und habe mich eine Weile zu ihnen gesetzt. Dann bemerkte ich dieses Mädchen. Sie war ganz allein, vielleicht fünfzehn Schritte von uns entfernt. Sie nahm ihre große dunkle Sonnenbrille ab, blickte mich an und lächelte. Diese Art von Lächeln konnte nur eines bedeuten: Sie fand mich nett und flirtete mit mir! Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich habe früher schon erlebt, wie Mädchen mit mir flirteten, aber ich bin noch nie dabei rot geworden, weil es mich nicht interessierte. Aber dieses Mal konnte ich einfach nicht wegschauen. Sie ist das hübscheste Ding, das ich je gesehen habe! Was für ein liebliches Gesicht, und was für eine Figur! Sehr dunkle Hautfarbe, wie eine Südseeprinzessin. Und ihr langes schwarzes Haar schien wie schwarzblauer Samt in der Sonne. Sie trug einen brasilianischen Mini-Bikini und saß auf einem leuchtend blauen Handtuch. Ich fühlte mich fast wie hypnotisiert. Was soll ich dir mehr erzählen?«

»Du hast gerade meinen Appetit geweckt, Claudine. Mach weiter«, drängte ich.

»Ehrlich, Raoul, ich hätte nie vermutet, dass ich irgendwelche lesbischen Tendenzen habe, aber dieses Mädchen - was für ein Erlebnis! Ich meine, das Gefühl, das ich empfand. Ich fragte Carmo Norton, wer sie ist, doch sie wusste es nicht. Das Mädchen war heute zum ersten Mal am Strand. Aber jemand mit dieser Bräune muss von irgendeinem anderen Badeort kommen, Marbella oder Ibiza oder Mallorca. Luis sagte, sie habe am Strand ganz schön Aufsehen erregt - kein Wunder - und ein paar Eroberertypen versuchten, ihre Bekanntschaft zu machen, blitzten aber alle ab. Doch mit mir flirtete sie ganz offen. Um mich ein wenig abzukühlen, sozusagen, ging ich ins Wasser, um zum Boot zurückzuschwimmen. Sie folgte mir. Ein paar Meter vom Ufer drehte ich mich um. Sie schwamm dicht hinter mir. Ich war verblüfft. Sie sagte: »Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Claudine.« Was für eine Stimme! Was für ein Lächeln! Ich schmolz fast weg, schließlich raffte ich mich zusammen und fragte: »Wer bist du?« Sie lächelte nur, sagte au revoir, warf mir einen Handkuss zu und schwamm zurück zum Strand. Oh, Raoul, was ist los mit mir? Irgendetwas an diesem Mädchen hat mich tief berührt. Bin ich eine latente Lesbierin oder so etwas, gerade ich, wo ich doch immer gedacht hab, ich wäre verrückt nach Männern?«

»Sie hat also deinen Namen gewusst?«

»Ja. Aber den konnte sie leicht erfahren. Du bist schließlich hier überall bekannt. Nun, vielleicht ist sie nur eine einsame Brünette, die eine blonde Freundin wie mich braucht!«

Ihre letzte Bemerkung brachte uns beide zum Lachen.

»Ich muss sie mir ansehen«, sagte ich und holte mein Fernglas.

Aber so sehr ich auch den kleinen Strand absuchte, ich fand das Mädchen in dem schmalen Bikini auf dem blauen Handtuch nicht. Ich reichte Claudine das Fernglas.

»Ah, da geht sie die Treppe zum Hotel-Swimmingpool hinauf. Jetzt ist sie weg«, sagte sie. »Jetzt kannst du sie nicht mehr sehen.«

»Lass uns morgen zum Balaia-Hotel fahren, wir können sie auf das Boot einladen«, schlug ich vor. »Ich bin ebenfalls sehr neugierig.«

»Sei nicht albern!«, antwortete Claudine mit einem ärgerlichen Unterton. »Ich habe keine Lust, sie noch einmal zu sehen. Es war...