Der Maulbeerbaum

von: Allison Rushby

Verlag Urachhaus, 2019

ISBN: 9783825161941 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Der Maulbeerbaum


 

Nächtliches Geflüster


In der Nacht gab es Geflüster. Immy träumte, die Worte seien um die Äste des Baumes geschlungen, der im Dunkeln nach ihr tastete. Um den Stamm herum tanzten Mädchen und sangen dabei ein merkwürdiges Lied, das sie nicht kannte. Sie wachte abrupt auf, merkte, dass andere Stimmen – echte Stimmen – sich gegenseitig flüsternd zur Ruhe mahnten, und schlief gleich wieder ein.

Als das Schlagen der Zimmertür sie erneut weckte, hob sie den Kopf und sah, dass es bereits hell war. Ihr Vater hatte ein Tablett mit Heißgetränken in der Hand und eine Papiertüte zwischen den Zähnen. Der Geruch von Zimt und Butter drang zu ihr.

»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte er, nachdem er die Papiertüte auf dem einzigen Tischchen im Zimmer abgelegt hatte. »Ich wollte dich nicht wecken. Ein Rosinenbrötchen? Und Kakao?«

Immy gähnte und nickte gleichzeitig. Sie wollte schon fragen, wo ihre Mutter war, hörte dann aber das Wasser in der Dusche rauschen. Sie verließ ihr Ausziehbett und setzte sich zu ihrem Vater an den Tisch. Er stellte den Kakao vor sie hin, nahm vorsichtig den Deckel ab und riss dann die fettige Tüte mit den Rosinenbrötchen auf. Immy nahm sich eines und versuchte nicht hinzusehen, als ihr Vater zwei Tabletten aus ihrer silbrigen Verpackung drückte. Er schluckte beide mit etwas Wasser hinunter und ließ den glänzenden Packungsstreifen auf dem sonnenbeschienenen Tisch liegen. Als Immy ihn jetzt beobachtete, fiel ihr das nächtliche Geflüster wieder ein. Es war dabei auch um diese Tabletten gegangen, wie schon seit rund einem Monat. Ihr Vater hatte sie nicht nehmen wollen. Für ihn sei seine Traurigkeit kein Problem, hatte er Immys Mutter erklärt.

Die war aber anderer Meinung. Deshalb nahm er die Tabletten jetzt einmal pro Tag.

Immy schaute aus dem Fenster und sah den Leuten zu, die draußen über das Kopfsteinpflaster eilten und dabei mit Handtäschchen, Aktentaschen, Handys und Kaffeebechern jonglierten. Dann dachte sie noch weiter zurück. An eine Nacht, in der sie ebenfalls Geflüster gehört hatte. Damals schlief sie in einem anderen Ausziehbett – dem Rollbett im Haus ihrer Freundin Grace. Genau wie vergangene Nacht war sie von Stimmen aufgewacht. Sie waren lauter geworden und wie eiserne Schwerter aneinandergeknallt.

Nicht lange danach war der Vater von Grace ausgezogen.

Damals hatte Immy gedacht, so etwas würde bei ihnen nie passieren. Nächtliches Streiten und Flüstern gekoppelt mit langem, angespanntem Schweigen – das war für sie schlichtweg nicht vorstellbar. Ihre Eltern lagen sich ständig in den Haaren – welches der richtige Weg beim Autofahren ist, dass man die Seidenhemden nicht zusammen mit den Jeans waschen darf, wer die Milch ausgetrunken und trotzdem keine neue gekauft hat. Aber nicht wegen Dingen, die wirklich wichtig waren. Zumindest bis jetzt. Immy spürte, wie ihr Brustkorb ganz eng wurde. Sie sah zu ihrem Vater, der friedlich seine Zeitung las.

»Wie ist der Kakao?«, fragte er, ohne aufblicken.

»Gut«, sagte Immy, obwohl sie ihn noch nicht einmal angerührt hatte.

In Australien hatte ihr Vater als Allgemeinmediziner gearbeitet. Er teilte sich mit vier anderen Ärzten eine Praxis in einem alten Holzhaus, das in einem Vorort mit vielen anderen Holzhäusern stand. Die Leute, die hier wohnten, waren größtenteils alt, und viele davon waren seine Patienten. Jedes Jahr mussten sie von ihrem Vater eine Bescheinigung holen, dass sie noch Auto fahren durften. Und jedes Jahr musste er ihnen sagen, dass er diese Bescheinigung nicht ausstellen könne und sie den Führerschein abgeben müssten. So leid ihm das tat, wusste er doch, dass es notwendig war – es war für die Patienten selbst viel zu gefährlich. So kam es wenig überraschend, dass er einem dreiundachtzigjährigen Patienten namens Bob sagen musste, er könne die Bescheinigung nicht mehr ausstellen. Im Jahr zuvor war das noch möglich gewesen, aber im Lauf der zwölf Monate hatte sich Bobs Sehvermögen verschlechtert. Bob hatte gefleht und gebettelt, er möge doch ein Herz haben und das Formular unterschreiben. Er hatte Immys Vater daran erinnert, dass er ja Tag für Tag ein paar Stadtteile weiter fahren müsse, um seine Frau im Pflegeheim zu besuchen. Ihr Vater hatte vorgeschlagen, er solle doch den Bus nehmen oder seinen Sohn bitten, sich nach möglichen Taxizuschüssen zu erkundigen. Als er dann in der Krankenakte nachsah und die Telefonnummer von Bobs Sohn entdeckte, machte er sich eine Notiz, um diesen Sohn später, mit etwas mehr Zeit, noch anzurufen. Leider war Bob überhaupt nicht einsichtig gewesen. Er hatte gesagt, ohne Führerschein würde er das alles nicht schaffen. Trotzdem ließ ihr Vater sich nicht zur Unterschrift bewegen.

»Es tut mir leid«, hatte er zu Bob gesagt. »Das wäre nicht richtig.«

Bob war aus dem Sprechzimmer gestürmt und hatte gedroht, dann eben einen anderen Arzt aufzusuchen.

Nur dass er das nicht tat.

Stattdessen setzte er sich einfach weiterhin ans Steuer. Und sechs Wochen später übersah er einen Zebrastreifen und überfuhr eine Frau mit Kinderwagen und Baby drin.

Beim Gedanken daran klammerte sich Immys Hand so fest um ihren Becher, dass der Kakao fast überschwappte.

Niemand hatte ihrem Vater das vorgeworfen – außer er selbst. Wenn er doch nur den Sohn angerufen hätte. Wenn er sich doch nur ein paar Minuten länger Zeit genommen, gemeinsam mit Bob den Linienplan angesehen und dem alten Mann gezeigt hätte, wie leicht man das Pflegeheim per Bus erreichen könne. Wenn er doch nur selbst überprüft hätte, welche Taxizuschüsse möglich sind.

Die Monate vergingen, und Immys Vater bewegte sich in einer langen Abwärtsspirale an einen einsamen, düsteren Ort, an dem es nichts anderes gab als »Wenn«. Er konnte nicht mehr schlafen. Er konnte nicht mehr arbeiten.

Und er schaffte es nicht, dafür bei Immys Mutter Verständnis zu erlangen.

»Ich weiß, dass du an deinen Patienten Anteil nimmst«, sagte sie wieder und immer wieder. »Deshalb bist du ja auch so ein wundervoller Arzt. Aber du bist kein Babysitter. Ihr Leben müssen sie einfach selbst leben. Du hast recht daran getan, dass er den Führerschein abgeben muss. Er wusste genau, dass er nicht mehr fahren durfte, und hat es trotzdem gemacht.«

»Ein bisschen mehr Anteilnahme hätten mich nur ein paar Minuten gekostet.«

»Diese Minuten summieren sich, Andrew. Du hast ja auch noch andere Patienten. Kranke Menschen, die dich dringender brauchen.«

»Aber …«

Ihr Vater hatte viele, genauso viele »Abers« wie »Wenns«.

Immy hatte ihre eigenen »Wenns«. Wenn ihr Vater nur vergessen könnte, was mit Bob passiert ist. Diesem Idiot von Bob, der Auto gefahren war, obwohl er das nicht durfte. Nach dem Unfall hatte sich sein Herz genau wie das Sehvermögen rapide verschlechtert, und er war im gleichen Pflegeheim wie seine Frau gelandet. Nicht einmal ins Gefängnis hatten sie ihn gesteckt! Es gab zwar eine Gerichtsverhandlung, aber er war mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.

Unbegreiflicherweise hatte ihr Vater ihn dann sogar im Pflegeheim besucht. Als er von dort zurückkam, erzählte er, Bob hätte geweint. Immy fand das unmöglich. Besser gesagt wurde sie richtig wütend. Sie schrie ihren Vater an. Sie schrie, weil er überhaupt erst hingegangen war. Sie war selbst überrascht, wie sehr sie sich darüber ärgerte. Es war, als seien alle bislang unterdrückten Gefühle plötzlich hochgekocht und nach draußen geschleudert worden. Ihr Vater hatte erwidert, sie müsse einfach einsehen, dass jeder seine eigenen Schlachten zu schlagen habe. Natürlich hätte Bob einen Fehler gemacht, einen Fehler mit ganz schlimmen Folgen. Er wollte unbedingt, dass seine Frau glücklich sei, und hätte alles daran gesetzt, um nach einem langen, gemeinsamen Leben auch jetzt noch zusammen sein zu können. Immy wollte das als Argument nicht gelten lassen. Ihrer Meinung nach hatte Bob genau das bekommen, worauf er von Anfang an aus war – jetzt lebte er ja mit seiner Frau zusammen und brauchte gar kein Auto mehr. Sie hatte gesagt, dass Bob eigentlich hinter Gitter gehöre, und zwar für immer. Ihr Vater hatte nur geseufzt und gemeint, Bob hätte sich sein eigenes Gefängnis gebaut und würde sich darin bis an sein Lebensende bestrafen.

Die Badezimmertür ging auf, und Immys Mutter kam zum Vorschein.

»Ach, ihr seid schon auf!«, sagte sie und zeigte mit der Zahnbürste auf Immy und ihren Vater. »Und am Frühstücken. Gut gemacht.«

Immy wartete ab, ob ihr Vater das vielleicht in den falschen Hals bekommen würde. Das passierte in letzter Zeit öfters. Um den Frieden zu wahren, schob sie sich ein halbes Brötchen in den Mund und...