Ich bin die Angst - Thriller

von: Ethan Cross

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838758909 , 556 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Ich bin die Angst - Thriller


 

2


Marcus Williams starrte auf die Leiche der misshandelten Frau. An den blauen Flecken und den Fesselspuren erkannte er, dass sie vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden war.

Der kleine Anbau hinter der Fabrik befand sich im Zustand fortgeschrittenen Verfalls. Aufgrund von Wasserschäden fiel der Putz von den Wänden, und im Dach klafften Löcher, durch die man den klaren Nachthimmel sehen konnte. Schnee war durch die Öffnungen gerieselt; eine dünne weiße Schicht bedeckte alles im Raum. Ein Regal an der hinteren Wand war umgekippt und hatte seinen Inhalt über den Boden verstreut: rostige Rohrmuffen, Bindedraht, halb aufgelöste Pappschachteln, zerfledderte Handbücher.

Die Leiche war abgelegt worden wie Müll zur späteren Entsorgung. Nach der Starre der Toten zu urteilen, lag der Mord erst ein paar Stunden zurück. Sie war mit einem kleinen stumpfen Gegenstand, einem Hammer vielleicht, erschlagen worden.

Wäre er nur ein bisschen früher eingetroffen …

Marcus verdrängte Wut und Schuldgefühle. Beides nutzte ihm jetzt nichts. Er verließ den Anbau durch die Außentür, drückte sie zu und verkeilte sie mit einem Stein, damit sie nicht wieder aufschwingen konnte. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert gewesen, das Marcus mit einem Halligan-Tool aufgebrochen hatte, einem Werkzeug, das einer Brechstange ähnelte, wie man sie bei Einbrüchen benutzte. Er musste verhindern, dass ein Windstoß die Tür aufriss und gegen den Rahmen knallte. Er wollte sich das Überraschungsmoment bewahren.

Marcus überquerte den Parkplatz, kletterte über einen Maschendrahtzaun und sprang auf einen Gehweg hinunter. In der Nähe befanden sich andere, modernere Fabriken, doch der Besitzer des Firmengebäudes, in dem die Leiche lag, war bankrott gegangen und hatte die Fabrik aufgegeben. Die Bank Crew, wie sie von der Presse getauft worden war, hatte dem Makler unter der Hand Geld hingeblättert, damit er ihr Zugang zu dem baufälligen Ziegelgebäude gewährte. Marcus hatte den Mann nicht lange in den Schwitzkasten nehmen müssen, um das zu erfahren. Ein paar Worte über eine Gefängnisstrafe wegen Beihilfe hatten gereicht, und der Makler war zusammengebrochen wie ein Kartenhaus.

Marcus verfolgte schon mehrere Wochen die Spur der Bank Crew, aber nach ihrem letzten Coup war sie untergetaucht. Erst vor zwei Tagen hatte sie wieder zugeschlagen und die Frau sowie die beiden Töchter eines Juweliers als Geiseln genommen. Es war die gewohnte Vorgehensweise der Crew, die Familie eines Opfers zu kidnappen, das Zugang zu Bargeld oder Wertsachen besaß. Die Bande zwang die Betreffenden, ihr das Geld zu bringen, indem sie drohte, ihre Familie zu ermorden. Im Grunde war es eine normale Lösegelderpressung, aber die Bank Crew stach durch extreme Brutalität hervor. Die Opfer erfüllten fast immer die Forderungen, doch die Crew mordete trotzdem. Sobald sie das Geld hatte, tötete sie als Erstes den Vater. Dann missbrauchten sie die weiblichen Familienangehörigen, ehe sie auch ihnen das Leben nahmen.

Die Polizei wusste, dass die Bande aus vier Komplizen bestand, aber mehr auch nicht, denn die Verbrecher hinterließen keinerlei Hinweise. Die einzige brauchbare Spur war ein Fingerabdruck, der an einem Tatort entdeckt worden war. Der Besitzer dieses Abdrucks, Ty Phillips, hatte ein ellenlanges Vorstrafenregister, war aber wie vom Erdboden verschwunden, seit die Bank Crew in Erscheinung getreten war.

Die Polizei in Oakland, die Tys Großmutter Rosemary vernommen hatte, war überzeugt, dass die Frau mehr wusste, als sie zu sagen bereit war, aber sie hatte nicht mehr tun können, als Rosemarys Haus rund um die Uhr zu überwachen. Marcus hatte die alte Frau persönlich aufsuchen wollen, doch Ackerman war ihm zuvorgekommen.

Marcus riss die Tür des schwarzen GMC Yukon auf, ließ sich hinters Lenkrad fallen, schaltete die Sitzheizung ein und pustete sich in die Hände. Ein paar Sekunden später öffnete sich die Beifahrertür, und Andrew Garrison stieg ein. Er riss sich die Mütze vom Kopf, sodass sein kurzes sandblondes Haar zum Vorschein kam. Im Unterschied zu Marcus, der einen dunklen Dreitagebart trug, war Andrew glatt rasiert und eine gepflegte Erscheinung.

»Irgendwas rausgefunden?«, fragte Marcus.

»Ja. Ich weiß, wo die Crew die Töchter festhält. Im Hauptgebäude habe ich einen von den Bastarden gesehen. Sie haben einen Klapptisch und ein paar Möbelstücke hergeschafft, um es sich gemütlich zu machen. Außerdem haben sie die Fenster der vorderen Büros vernagelt. Und was ist mit dir?«

»Ich habe die Mutter gefunden.«

Andrew schien auf nähere Erklärungen zu warten, doch als Marcus’ Schweigen anhielt, wusste Andrew, was Sache war. Er blickte durch die Windschutzscheibe. »Verflucht. Wie willst du es anpacken?«

»Wir gehen hinten rein und arbeiten uns durchs Gebäude vor.« Marcus seufzte. »Ich gebe es durch.«

Er zog ein Handy aus der Tasche und wählte. Der Director der Shepherd Organization antwortete nach dem ersten Klingeln. »Haben Sie sie?«, fragte er ohne Umschweife.

»Ja. Die Mutter ist tot.«

»Verdammt! Sind Sie bereit für den Zugriff?«

»Ja.«

»Gut. Der Beirat hat Ihnen volle Handlungsfreiheit garantiert. Seien Sie vorsichtig. Hals- und Beinbruch.« Ohne ein weiteres Wort legte der Director auf.

Marcus ließ das Handy sinken und starrte aus dem Wagenfenster auf den Schnee. Seit über einem Jahr war er nun »Shepherd«, ein Hirte, doch er war immer noch nicht sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Shepherd Organization arbeitete innerhalb des Justizministeriums unter dem Deckmantel einer beratenden Abteilung im Kampf gegen Gewaltverbrechen, spezialisiert auf Serienmörder. Von ähnlichen Strafverfolgungsbehörden, beispielsweise der berühmten Verhaltensanalyseeinheit des FBI, unterschied sie sich durch ihr Hauptaufgabengebiet: Die Shepherds waren nicht allein mit der Festnahme von Mördern befasst, sondern versuchten, sie auf jede erdenkliche Weise aus der Welt zu schaffen. Um dies zu erreichen, beugten oder brachen sie notfalls die Gesetze. Die Shepherds waren als Sondereinheit konzipiert, der jedes Mittel erlaubt war, die sämtliche Vorschriften missachten durfte und ihre Aufgaben erledigen konnte, ohne sich Gedanken über Beweismaterial und Verfahrensregeln machen zu müssen. Was die Shepherds taten, unterschied sich nicht sonderlich von den Operationen, mit denen die CIA und das Militär seit Jahren feindliche Zielpersonen in Übersee ausschalteten. Der Unterschied bestand darin, dass die Shepherd Organization auf amerikanischem Boden gegen US-Bürger tätig wurde.

Die Organisation bestand aus kleinen Zellen. Aufgrund bestimmter Begabungen, die Marcus während seiner Zeit als Kriminalbeamter bei der New Yorker Mordkommission an den Tag gelegt hatte, war er als Leiter eines dieser Teams angeworben worden. Als Polizist hatte Marcus mit seinem Ermittlungsgeschick große Hoffnungen geweckt, hatte sich dann aber seine Zukunft zerstört, indem er das Recht selbst in die Hand nahm und einem Senator aus mächtiger Familie, der mit Vorliebe junge Mädchen misshandelte und ermordete, eine Kugel durch den Kopf jagte. Er war einer Mordanklage nur deshalb entgangen, weil das Vorleben des Senators nicht ans Tageslicht kommen sollte.

Marcus besaß die operative Befehlsgewalt über seine Einheit, war aber einem Mann verantwortlich, den er nur als »Director« kannte, sowie einem »Beirat« aus gesichtslosen Männern oder Frauen, über die er rein gar nichts wusste.

»Was ist los?«, riss Andrew ihn aus seinen Gedanken.

»Hast du jemals einen Vorgesetzten kennengelernt?«, fragte Marcus. »Ein Mitglied des Beirats?«

»Wo kommt das plötzliche Interesse her?«

»Das ist kein plötzliches Interesse. Es ist ein Verdacht, der mir zu schaffen macht. Hast du dich nie gefragt, weshalb wir mit allem davonkommen, was wir tun? Oder wer die Fäden in der Hand hält?«

Andrew zuckte mit den Schultern. »Sicher. Aber ich glaube an das, was wir tun. Ich glaube, die Welt wird ein besserer Ort, wenn wir unseren Job machen. Deshalb konzentriere ich mich darauf. Ich versuche, mit den Gedanken bei den Dingen zu bleiben, die ich beeinflussen kann.«

»Meinst du wirklich, dass wir das Richtige tun?«

»Wir beschützen die Leute vor Monstern, von deren Existenz sie am liebsten gar nichts wissen würden. Was kann falsch daran sein?«

»Gandhi hat mal gesagt: Ich lehne Gewalt ab, weil das Gute, das sie bewirkt, nicht anhält. Nur das Schlechte ist von Dauer.«

»Das mag ja stimmen, aber was hätte Gandhi gesagt, wenn jemand, den er liebte, tot da drüben in dem Haus läge?«, erwiderte Andrew. »Kann sein, dass wir genauso schlecht sind wie die Verbrecher, die wir jagen. Kann sein, dass wir die Menschenrechte der Täter verletzen. Aber wer so argumentiert, hat nie sein eigenes Kind beerdigen müssen, nachdem es von irgendwelchen Bestien abgeschlachtet wurde. Wer nie in eine solche Lage geraten ist, kann unmöglich begreifen, was wir tun.«

Marcus schwieg und rieb sich die Schläfen. Die Migräne war in letzter Zeit schlimmer geworden, und wenn er in einer Woche fünfzehn Stunden schlief, konnte er von Glück sagen. Und die Existenz Ackermans machte alles noch viel schlimmer. Der Killer war während Marcus’ Anwerbung eingesetzt worden, um ihm das wahre Gesicht jener Bestien zu zeigen, die die Shepherd Organization jagte. Doch diese Demonstration war nach hinten losgegangen. Der Killer war entkommen. Und was noch viel schlimmer war: Er war zu der Überzeugung gelangt, Marcus und er stünden in irgendeiner schicksalhaften Verbindung. Ackermans Fixierung auf Marcus führte zu regelmäßigen Anrufen und unerwünschten Versuchen, ihn bei seinen Ermittlungen zu unterstützen....