Lassiter 2231 - Lassiter und die Verzweifelten

von: Jack Slade

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732510801 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Lassiter 2231 - Lassiter und die Verzweifelten


 

Lassiter hatte die Winchester im selben Moment im Anschlag.

Doch der Verzweifelte legte sich die Laufmündung an die Schläfe. »Du sollst sehen, was du angerichtet hast«, sagte er auf Spanisch. »Du hast mich ins Verderben getrieben. Für mich gibt es keine Zukunft mehr.«

Lassiter ließ die Winchester sinken. Noch mehr als zuvor zwang er sich, ruhig zu bleiben. »Rede mit mir«, sagte er und schob die Winchester in den Scabbard.

»Wozu?« Der andere schniefte. »Du hast die ganze Zeit versucht, mich zu erschießen.«

»Nein. Ich wollte dich lebend haben.«

»Ach! Damit ich meine Compadres verrate? Denkst du, ich bin ein Verräter? Da irrst du dich gewaltig, Gringo. Lieber gehe ich in den Tod – mit einem reinen Gewissen.«

Du redest zu viel, lag Lassiter auf der Zunge. Doch er hütete sich, den armen Kerl in eine Kurzschlusshandlung zu treiben. Deshalb fragte er: »Wie heißt du?«

»Warum willst du das wissen?« Der Gejagte runzelte die Stirn. Dadurch bewegte sich auch die Revolvermündung an seiner Schläfe – nur um den Bruchteil eines Millimeters – und verursachte dort kleine Hautfalten.

»Mit einem, den man kennt, redet es sich besser«, begründete Lassiter seine Frage mit ruhiger Stimme.

Der Mexikaner war mittelgroß und sah verhärmt aus. Unter dem speckigen Sombrero hingen ihm schwarze Haarsträhnen in die Stirn. Sein Gesicht war blass und eingefallen.

Er stieß einen verbitterten Laut aus. »Es gibt nichts mehr zu bereden. Zwischen uns beiden schon gar nicht.«

»Also gut«, erwiderte der große Mann und seufzte. »Dann nenne ich dich José. So heißen, glaube ich, die meisten von euch Mexikanern.«

»Es ist mir egal, wie du mich nennst. Es spielt keine Rolle mehr, weil ich sterben will, und zwar vor aller Augen. He, warum willst du auf einmal, dass ich weiterlebe? Gib es zu, du willst mich zum Verräter machen.«

Lassiter schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Regierungsagent der Estados Unidos, der Vereinigten Staaten. Ich habe den Auftrag, die Viehdiebstähle im Grenzland von Arizona und Sonora zu untersuchen.«

»Also doch. Du willst Informationen, damit du meine Leute an die Rurales ausliefern kannst. Mit denen steckt ihr Gringo-Agenten doch alle unter einer Decke.«

»Nein. Wenn es so wäre, hätte ich mir einen von den mexikanischen Strolchen in Nogales geschnappt und ihm Geld geboten. Aber diese Burschen hätten mir wahrscheinlich nur Lügen aufgetischt. Meine Regierung ist daran interessiert, die Hintergründe aufzudecken.«

»Das glaube ich nicht.« Der Verzweifelte senkte die Stimme. »Wenn es so wäre, würde deine Regierung uns helfen, statt uns zu jagen.«

»Bueno«, sagte Lassiter rau. »Genau darüber will ich mit dir reden.« Auch er sprach nun so leise, dass nur sein Gegenüber es hören konnte. »Verdammt, jetzt nimm endlich den Sechsschüsser herunter und verhalte dich wie ein Mensch, der noch seine fünf Sinne beisammenhat.«

Auf einmal sah der Mexikaner aus, als ob er aufhorchte. Sein Blick erforschte die Augen und die Gesichtszüge des großen Mannes. Einen Atemzug später schien es, als hätte der Gejagte etwas entdeckt – etwas, das ihn zu einer Entscheidung führte.

Er ließ den Revolver sinken.

Langsam und geradezu umständlich steckte er die Waffe in ein altes Armeeholster, das er vor dem Bauch trug, direkt unter der Stelle, an der sich die geschulterten Patronengurte über der verdreckten weißen Peones-Kleidung kreuzten. Sie enthielten Gewehr- und Revolvermunition.

Er war dunkelhaarig und schlank, mit einem struppigen Schnauzbart, der seine Lippen vollständig überdeckte. Er zog sich die Patronengurte und den Gurt mit dem Revolverholster über den Kopf und reichte alles seinem Bezwinger.

»Ich heiße tatsächlich José«, sagte er und hob den Kopf. »Das hast du gut erraten.«

Lassiter schürzte die Lippen. »War nicht schwer.« Er nahm die Gurte und ließ sie hinter sich zu Boden sinken. »Jeder zweite Latino heißt José, oder nicht?«

»Jeder dritte. Jeder zweite ist übertrieben.« José fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sein Galgenhumor war von kurzer Dauer. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollte er in Tränen ausbrechen. Er senkte den Kopf und fragte mit dumpfer Stimme: »Was geschieht jetzt?«

Lassiter ließ sich aus dem Sattel gleiten. Steifbeinig von dem tagelangen Ritt ging er um den Brunnen herum. Neben José blieb er stehen und lehnte sich an den steinernen Rand.

»Ich nehme dich fest«, antwortete er. »Ich bringe dich nach Arizona. Dort werden meine Kollegen und ich deine Aussage zu Protokoll nehmen. Anschließend werden deine Angaben überprüft und ausgewertet.«

»Und dann?« José wirkte enttäuscht.

»Gibt es eine faire Gerichtsverhandlung. Je nachdem, wie weit uns deine Aussagen geholfen haben werden, kannst du mit Strafmilderung rechnen.«

»Das klingt nicht sehr – großzügig.«

Lassiter legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich kann dir nichts versprechen, José. Ich kann dir nur sagen, was du meiner Erfahrung nach zu erwarten hast. Vergiss nicht, du hast Rinder von einer amerikanischen Ranch gestohlen – zusammen mit deinen Gefährten.«

Die Letzteren hatten sich in alle Himmelsrichtungen verstreut, als Lassiter sie gemeinsam mit einem Aufgebot aus Arizona verfolgt hatte. Lassiter hatte sich schließlich auf den Mann konzentriert, der jetzt neben ihm stand. Die übrigen Mitglieder der Posse hatten aufgegeben und waren nach Arizona zurückgekehrt

»Aber …«, wollte José aufbegehren.

»Bleib ruhig«, fiel Lassiter ihm ins Wort. »Wichtig ist, dass wir gut zusammenarbeiten und dass ich mich auf dich verlassen kann. Deine Entscheidung muss Hand und Fuß haben. Immerhin wolltest du dich vor zwei Minuten noch umbringen. Was war der Grund für deinen Sinneswandel?«

José musste nicht nachdenken.

»Du meinst es ehrlich mit mir«, sagte er. »Das sehe ich dir an. Deshalb vertraue ich dir.«

***

Die Offenheit des Mexikaners verblüffte den großen Mann. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Deshalb war er froh, dass José und er abgelenkt wurden.

Er hörte Schritte. Während er sich umdrehte, sagte er: »Wir reden nachher. Erst einmal muss ich sehen, wo wir dich hier unterbringen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er die Straße hinunter, in die Richtung, aus der er gekommen war. »Wer ist das?«

José hatte die drei Männer bereits erblickt. »Der Alcalde und seine Beschützer.«

»Ein Bürgermeister mit Leibwächtern?« Lassiter runzelte die Stirn.

»Das Grenzland ist gefährlich«, erklärte José.

Lassiter verzichtete auf eine Antwort. Die Mehrheit der Menschen in diesem Land musste sich selbst schützen. Wenn einer Leibwächter beschäftigte, musste er sie bezahlen können. Oder jemand bezahlte sie für ihn. Die interessantere Frage war, wer oder was dahintersteckte.

Das Dorf, in dem sie sich befanden, war auf keiner der Landkarten verzeichnet, die Lassiter in seiner Satteltasche trug.

»Hat das Dorf wirklich keinen Namen?«, fragte Lassiter. Während er sprach, beobachtete er die drei Männer. Sie schienen es nicht eilig zu haben.

»Nein«, erwiderte José. »Die Leute hier haben es immer nur ›El Pueblo‹ genannt, das Dorf. Der Alcalde möchte, dass es seinen Namen trägt. Campillo. Sein voller Name ist Señor Don Javier Campillo de Morales. Den Dorfnamen muss er noch in Hermosillo genehmigen lassen.«

Lassiter hatte genügend Zeit, die näherkommenden Männer zu betrachten. Sie waren noch gut fünfzig Yard entfernt. Don Javier, der Alcalde, war ein schlanker, hochgewachsener Mann. Zum Schutz gegen die Sonne trug er einen weißen Sombrero mit ausladender Krempe. Darunter lugte ein schwarzer Haaransatz hervor. Sein Anzug war ebenfalls weiß, von makelloser Passform und ohne eine einzige Falte.

»Der ehrenwerte Don Javier sieht nicht aus wie ein Dorfbewohner«, überlegte Lassiter laut.

»Er ist auch keiner«, antwortete José. »El Pueblo existiert noch nicht so lange. Höchstens zwanzig, dreißig Jahre – seit die Menschen erkannt haben, dass man in der Nähe der Grenze besser zurechtkommt als in der Wüste.«

»Also ein Dorf von Viehdieben und Bankräubern«, folgerte der große Mann.

José lächelte müde. »Die meisten Leute hier sind Peónes, die auf den Haciendas in der Umgebung arbeiten.«

»Und kaum davon leben können«, ergänzte Lassiter.

»So einen hast du hier vor dir.« José tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust.

Lassiter nickte. »Wenn du das als Entschuldigung meinst, wird es dir vor Gericht nicht viel nützen. Viehdiebstahl bleibt Viehdiebstahl.«

José presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf. »Ich weiß. In den Estados werden sie mich dafür hängen.«

Lassiter schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn du mir bei der Aufklärung hilfst. Dann werden sie dir mildernde Umstände geben.« Er unterbrach sich, denn der Alcalde und seine Begleiter waren nicht mehr weit entfernt. Deshalb fragte er: »Wer sind die Leibwächter? Männer aus dem Dorf?«

»Nein«, erwiderte José. »Sie stammen aus Hermosillo, wie Don Javier auch. Er hat sie mitgebracht. Alle drei wurden sozusagen in El Pueblo eingesetzt.«

»Von der Regierung des Bundesstaats Sonora?«

José hob die Schultern an und ließ sie wieder sinken. »Jedenfalls wurden sie aus Hermosillo hergeschickt. Don Javier soll dort eine riesige Villa haben – mit Wohnungen für die...