Himmelstrand - Roman

von: John Ajvide Lindqvist

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732515004 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Himmelstrand - Roman


 

»Mama, ich muss Pipi.«

»Dann geh auf die Toilette.«

»Die ist aber nicht da.«

»Doch, sie ist da. Im Servicegebäude, wo du gestern auch schon warst.«

»Das ist nicht da.«

»Kannst du Mama nicht ein Mal schlafen lassen?«

»Aber ich muss Pipi. Ich mach mir in die Hose.«

»Dann geh zum Servicegebäude. Es sind fünfzig Meter. Das wirst du doch hinkriegen, oder?«

»Es ist aber nicht da.«

»Doch es ist da. Geh durch die Tür, links um diesen ekligen Wohnwagen herum und dann geradeaus. Da ist es.«

»Was ist links?«

»Dann pinkel doch einfach ins Gras. Lass mich schlafen. Wenn du jemanden ärgern möchtest, dann kannst du ja Papa wecken.«

»Fast alles ist weg.«

»Was redest du denn da?«

»Guck doch.«

»Was soll ich gucken?«

»Aus dem Fenster. Ich habe Angst. Beinahe alles ist weg.«

Isabelle Sundberg stemmt sich auf den Ellenbogen. Ihre sechsjährige Tochter Molly kniet zu ihren Füßen. Isabelle schiebt sie zur Seite und zieht die Gardine zur Seite. Sie will zeigen, aber ihre Hand sinkt herab.

Ihr erster Gedanke ist: Kulisse. So eine, wie bei Micky Mouse im Weihnachtsprogramm. Etwas Künstliches, Unwirkliches. Aber die Details sind zu scharf, die drei Dimensionen erkennbar. Keine Kulisse.

»Pipi, Pipi, Pipi.«

Die Stimme ihrer Tochter tut ihr in den Ohren weh. Isabelle reibt sich die Augen. Will das Unbegreifliche wegwischen. Aber es bleibt, genau wie das Genöle ihrer Tochter. Sie dreht sich im Bett um und rammt das Knie in den Rücken ihres Mannes. Zieht die andere Gardine zur Seite.

Sie blinzelt, schüttelt den Kopf. Nichts davon hilft. Sie beißt die Zähne zusammen und gibt sich selbst eine Ohrfeige. Die Tochter verstummt. Die Wange wird heiß, und nichts hat sich geändert. Alles ist verändert. Sie greift nach der Schulter ihres Mannes und schüttelt sie kräftig.

»Peter, jetzt wach endlich auf, verdammt. Es ist etwas passiert.«

º

Eine halbe Minute später wird Stefan Larsson davon geweckt, dass irgendwo eine Tür zuknallt. Sein Pyjama klebt am Körper. Es ist warm im Wagen, sehr warm. Jetzt hat er aber wirklich genug. Alle anderen haben eine Klimaanlage. Wenn sie heute zum Großeinkauf fahren, wird er zumindest ein paar ordentliche Ventilatoren besorgen.

»Bim, bim, bim. Bom.«

Oben in seinem Alkoven plappert Emil leise vor sich hin, wie immer tief in einem Fantasiespiel versunken. Stefan runzelt die Stirn. Irgendetwas stimmt nicht. Er greift nach seiner Brille mit dem dicken, schwarzen Gestell, setzt sie auf und schaut sich um.

Ihr alter, treuer Wohnwagen sieht aus wie immer. Als Carina und er ihn vor fünfzehn Jahren gekauft hatten, hatte er schon ebenso viele Jahre auf dem Buckel. Aber nach unzähligen Urlaubsreisen und ornithologischen Ausflügen ist er zu einem Freund geworden, und einen Freund verkauft man nicht einfach so für ein paar Tausender im Internet. Die abgewetzten Oberflächen glänzen matt in dem Licht, das durch die dünnen Gardinen dringt. So weit alles normal.

Carina schläft, von ihm abgewandt. Sie hat das Laken weggestrampelt, und die Linie ihrer breiten Hüfte erinnert an ein altes Gemälde. Stefan beugt sich über sie und atmet ihren salzigen Geruch ein, sieht kleine Schweißperlen an ihrem Haaransatz. Tischventilatoren, wie gesagt. Sein Blick bleibt an der Tätowierung auf ihrer Schulter hängen. Zwei Ewigkeitssymbole. Die Sehnsucht nach einer Liebe, die bleibt. Aus ihrer Jugend. Er verehrt sie. Ein seltsames Wort, aber ihm fällt kein anderes ein.

Seine Augen weiten sich. Jetzt weiß er, was nicht stimmt. Die Stille. Abgesehen von Carinas Atem und Emils Geplapper ist es vollkommen still. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Viertel vor sieben. Auf einem Campingplatz ist es niemals still. Ständig surren Klimaanlagen, und irgendwelche Maschinen laufen im Standby. Jetzt nicht. Der Ort hat aufgehört zu atmen.

Stefan steigt aus dem Bett und schaut zum Alkoven hinauf. »Hallo, Kleiner. Guten Morgen.«

Emil konzentriert sich auf die Kuscheltiere, die er vor sich hin und her schiebt, während er flüstert: »Und ich? Darf ich auch mal? Nein, Bengtson, du kümmerst die um die Kanonen.«

Stefan geht zur Spüle und füllt Wasser in die Kaffeekanne. Draußen sind Stimmen und Bewegungen zu erkennen. Der Fußballspieler und seine Frau sind auch schon aufgestanden. Und ihre Tochter. Das Mädchen klammert sich an die nackten Beine seiner Mutter, die zornig zu ihrem Mann hinübergestikuliert.

Stefan legt den Kopf schief. In einer parallelen Wirklichkeit müsste er diese Frau begehren. Sie trägt nichts als eine Unterhose und einen BH und sieht aus, als wäre sie einem Werbeplakat entstiegen. Jeder normale Mann musste hinter ihr her sein. Aber Stefan hat sich für etwas anderes entschieden, und daran hält er fest. Es ist unter anderem eine Frage der Würde.

Die Kaffeekanne ist voll. Stefan dreht den Hahn zu, füllt die Kaffeemaschine auf, und nachdem er das Kaffeepulver in den Filter gelöffelt hat, drückt er den Startknopf. Nichts passiert. Er kippt den Schalter ein paar Mal hin und her, überprüft den Stecker und denkt:

Stromausfall.

Was auch das Fehlen der elektrischen Geräusche erklärt. Er kippt das Wasser in einen Topf und stellt ihn auf den Herd. Hallo? Er klatscht sich auf die Stirn. Stromausfall. Dann funktioniert der elektrische Herd natürlich auch nicht.

Er bückt sich, um den Gaskocher anzuschließen, und wirft gleichzeitig einen Blick aus dem Fenster, schaut an dem streitenden Paar vorbei, um nach dem Wetter zu sehen. Der Himmel ist strahlend blau, man kann also auf einen schönen …

Stefan schnappt nach Luft und hält sich an der Spüle fest, als er sich näher zum Fenster beugt. Er versteht nicht, was er sieht. Der rostfreie Stahl unter seinen Händen ist kühl, er wird von Schwindel erfasst. Wenn er die Spüle losließe, würde er ins Nichts stürzen.

º

In der rechten Tasche seiner Shorts findet Peter ein Bonbonpapier. Es knistert leise, als er es in seiner geschlossenen Faust knetet. Isabelle schreit ihn an, und er fixiert den Punkt auf ihrer Wange, auf dem seine Hand landen würde, wenn sie nicht gerade mit dem Bonbonpapier beschäftigt wäre.

»Wie kann man bloß so dumm sein, die Schlüssel im Auto zu lassen, wenn man gesoffen hat wie ein Schwein. Da kann natürlich jeder Idiot kommen und uns wegschleppen. Und dann landen wir hier in dieser … in dieser …«

Er darf sie nicht schlagen. Wenn er es täte, würde sich die Machtbalance verschieben, vorübergehende Friedensverträge würden zerrissen und alles ins Chaos gezogen. Ein Mal hat er es getan. Die Befriedigung war enorm, die Folgen unerträglich. Beides hat ihn erschreckt. Der Genuss, sie körperlich zu züchtigen, und ihre Fähigkeit, ihn seelisch zu verletzen.

Er denkt: zehntausend. Nein. Zwanzigtausend. So viel wäre er bereit, für fünf Minuten Stille zu bezahlen. Um nachdenken zu können, um eine Erklärung zu finden. Isabelles Worte prallen auf seine Oberfläche, und darunter vibriert, wie eine zum Zerreißen gespannte Sehne, seine Selbstkontrolle. Er kann nichts anderes tun, als das Bonbonpapier auseinanderzufalten und wieder zu zerknüllen.

Molly klammert sich an die Beine ihrer Mutter und spielt das verschreckte Kind. Sie macht das gut, nur ein paar kleine Übertreibungen lassen Peter ihr Spiel durchschauen. Sie hat gar keine Angst. Auf eine Art, die Peter nicht nachvollziehen kann, scheint sie das Ganze sogar lustig zu finden.

Jemand räuspert sich. Der Mann mit den dicken Brillengläsern, die fleischgewordene Langeweile aus dem Wohnwagen nebenan, kommt auf sie zu. Isabelle verstummt, Molly starrt den Neuankömmling an.

»Entschuldigt bitte«, sagt der Mann, »aber wisst ihr, was hier passiert ist?«

»Nein«, sagt Isabelle. »Erzähl du es uns.«

»Ich weiß auch nicht mehr als ihr. Alles ist weg.«

Isabelle wirft den Kopf in den Nacken und faucht: »Jetzt fängst du auch damit an? Du meinst also, da ist jemand gekommen und hat die anderen Wohnwagen weggenommen? Den Kiosk, das Servicegebäude und was sonst noch hier rumstand? Klingt das etwa logisch? Wir sind natürlich weggeschleppt worden!«

Der Mann mit der Brille schaut auf die anderen Wohnwagen, die von Saluddens Campingplatz übriggeblieben sind, und sagt: »Dann haben sie anscheinend mehrere von uns weggeschleppt.«

Molly zieht am Saum von Isabelles Unterhose. »Wer sind die, Mama? Wer hat das getan?«

º

Vier Wohnwagen, vier Autos.

Die Wohnwagen unterscheiden sich in Alter, Größe und Bauart voneinander, aber sie sind alle weiß. Die Autos unterscheiden sich noch mehr, aber zwei von ihnen sind Volvos. Sie haben natürlich alle eine Anhängerkupplung. Zwei besitzen einen Dachgepäckträger.

Darüber hinaus: nichts als Menschen. Drei Erwachsene und ein Kind, die zwischen den Wagen und den Autos hin und her gehen, die anderen schlafen noch, unwissend, vielleicht träumend.

Außerhalb des kleinen Kreises von Fahrzeugen gibt es nur Gras. Eine Rasenfläche aus etwa drei Zentimeter hohen Halmen, die sich in alle Himmelsrichtungen erstreckt, so weit das Auge reicht.

Es ist ein leerer Ort.

Was sich hinter dem Horizont befindet, unter der Erde oder über dem Himmel, lässt sich nicht erahnen, aber im Augenblick ist es ein leerer Ort. Es gibt nichts. Außer Menschen. Und jeder Mensch ist eine Welt für sich.

º

Molly...