Mord mit spitzer Feder - Ein Fall für Jessica Campbell

von: Ann Granger

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732514953 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Mord mit spitzer Feder - Ein Fall für Jessica Campbell


 

KAPITEL EINS


Mike Lacey, der Tierarzt, war kurz nach neun am Dienstagmorgen auf dem Weg zu Crocketts Farm. Immer wieder schaute er zum Fluss und beobachtete das Treibgut, das von der Flut vorbeigetragen wurde. Er hoffte, dass man ihn nicht gleich rufen würde, um im Wasser gefangenes Vieh zu retten. Doch was er entdeckte, war kein Tier. Mike trat auf die Bremse, griff nach dem Fernglas, das er immer im Auto liegen hatte, und sprang aus seinem verdreckten SUV. Ein Blick durch das Fernglas bestätigte, dass das Objekt, das zum größten Teil unter Wasser war, eine menschliche Gestalt besaß, und Mike glaubte, langes Haar zu erkennen. In den herabhängenden Weidenästen am Ufer, die als eine Art Filter für das Treibgut fungierten, hatte sich eine Leiche verfangen.

Mike starrte wie gelähmt auf den toten Körper und fluchte eine volle Minute lang vor sich hin. Dabei neigte er normalerweise gar nicht zu solchen Obszönitäten. Mike erkannte, dass er unter Schock stand, und so riss er sich rasch zusammen und analysierte die Situation. Der Wind blies über das Wasser, und hoch in der Luft kreisten Vögel und kämpften darum, auf Kurs zu bleiben. Unten schwappte das aufgewühlte Wasser gegen den Schlamm, und die Leiche hob und senkte sich mit ihm. Überall um Mike herum bewegte sich die Natur, doch er war wie erstarrt. Schließlich zwang er sich, die Situation als Problem zu betrachten, das es zu lösen galt, und nicht als menschliche Tragödie.

Um die Leiche zu befreien, brauchte er Hilfe. Nur kurz dachte Mike darüber nach, die Tote selbst herauszuziehen (das lange Haar legte nahe, dass es sich um eine Frau handelte). Doch sie war viel zu weit von ihm weg, und zu ihr zu waten war zu riskant, da er weder wusste, wie tief das Wasser war, noch ob der Untergrund ihn tragen würde. Mike schätzte, dass die Frau schon ein paar Stunden im Wasser lag. Er konnte sie unmöglich wiederbeleben. Hinter ihm, in seinem SUV, klingelte das Handy. Bei Crocketts warteten sie auf ihn, und vermutlich fragten sie sich, wo er blieb. Mike kehrte zu seinem Fahrzeug zurück, nahm den Anruf an (es war in der Tat die Farm) und rief dann die Polizei. Er erklärte die Situation, beschrieb so gut er konnte, wo er war, und versprach, sofort wieder zurückzukehren, sobald er seine Arbeit auf der Farm erledigt hatte.

Doch Murphys Gesetz wollte, dass bei seiner Rückkehr zwar die Polizei eingetroffen war – und das sowohl zu Lande als auch zu Wasser –, doch von der Leiche war keine Spur mehr zu sehen.

*

Jess Campbell hob schützend die Hand vor die Augen und wünschte sich, sie hätte eine Sonnenbrille mitgenommen. Das Funkeln der Sonne und die tanzenden Lichtfunken auf der Wasseroberfläche machten es äußerst schwierig zu sehen, was da vor sich ging. Jess kniff die Augen zusammen, und kurz kamen die dunklen Umrisse von Schultern und Kopf eines Menschen an die Oberfläche, doch nur um gleich darauf wieder unter den glitzernden Wellen zu verschwinden wie ein Flussgeist aus dem Märchen. Um Jess herum, im Schatten, wo die Sonne den Boden mit ihren feurigen Fingern noch nicht berührt hatte, war die Erde trotz des hellen Tages noch immer weiß von Frost.

»Kein Schnee weit und breit«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Auf weiße Weihnachten werden wir wohl verzichten müssen. Schade. Die Kinder hatten so darauf gehofft.« Den Worten folgte ein Stapfen von Füßen auf der gefrorenen Erde. Detective Sergeant Nugent war kalt. Er wollte so schnell wie möglich in sein wohltemperiertes Büro zurück und sich gemütlich vor seinen Computer hocken.

»Ich kann Weihnachten nicht ausstehen«, knurrte eine andere Stimme. »Weihnachten kostet ein Vermögen, und das Einkaufen ist der Horror. Dabei ist alles nach vierundzwanzig Stunden schon wieder vorbei. Da kann man sich auch die Mühe sparen.«

»Wenn Sie was gegen Gedränge haben, können Sie ja online einkaufen«, erwiderte Nugent.

Um dem Gezänk ein Ende zu bereiten, warf Jess ein: »Also ich mag Weihnachten. Ich mag es, wenn in den Geschäften was los ist. Ich mag die Weihnachtsbeleuchtung auf der High Street, und ich mag den Schmuck an den Häusern. Das bringt wenigstens ein wenig Licht in eine dunkle, kalte Zeit.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann murmelte der andere Mann, eine moderne Ausgabe des Ebenezer Scrooge: »Unser Nachbar auf der anderen Straßenseite hat einen Weihnachtsmann, der seinen Kamin hinaufklettert. Der blinkt den ganzen Abend.«

Diese Worte weckten eine Erinnerung in Jess. Diese Sonnenflecken auf dem Wasser, die wie Lametta glitzerten, erinnerten sie an die Lichter am Weihnachtsbaum in ihrer Kindheit. Sowohl Jess als auch ihr Bruder hatten die funkelnden Diamanten zwischen den dunkelgrünen Tannennadeln geliebt. Dann, eines Heiligabends, während sie alle zugeschaut hatten, waren die Lichter mit einem hörbaren Zischen und Knistern verloschen und hatten nie wieder geleuchtet. »Mach die wieder ganz, Daddy!«, hatte Jess ihren Vater angebettelt, doch Dad hatte das Problem nicht beheben können. Die gesamte Lichterkette wurde abgenommen und entfernt, ›aus Sicherheitsgründen‹. Zwar waren die Christbaumkugeln hängen geblieben, und der Engel hatte weiter schief auf der Spitze gehockt, dennoch hatte der Baum nun nackt und leblos gewirkt. Weder Jess noch ihr Bruder hatten seinen Anblick ertragen. Es war, als hätte das Herz des Baumes aufgehört zu schlagen.

Aber wir reden hier nur um den heißen Brei, dachte Jess. Der Grund für diese sinnlose Diskussion war, dass niemand darüber sprechen wollte, was wirklich vor sich ging und was das bedeutete. Die drei Beamten standen einfach nur da und warteten. Wasser schwappte wenige Schritte entfernt auf die verschlammte Erde; dabei lag das eigentliche Ufer ein ganzes Stück von der Straße entfernt. Nur einem leichten Anstieg war es zu verdanken, dass nicht auch der Asphalt überschwemmt war. Jess wünschte, sie hätte Phil Morton mitbringen können, doch der hatte gerade erst geheiratet und war in den Flitterwochen zum Skifahren in die Hohe Tatra gefahren. Nugents Gezappel machte sie nervös.

Der Mann, der Weihnachten verabscheute, hörte auf den Namen Corcoran, und er war zusammen mit den Polizeitauchern angekommen. Jess kannte ihn nicht. Als die Taucher wieder an die Oberfläche kamen und signalisierten, dass sie nichts gefunden hatten, stapfte Corcoran ins Wasser. Seine großen Gummistiefel hinterließen tiefe Abdrücke im Schlamm, und Brackwasser schwappte über seine Füße. »Wie ist die Strömung?«, rief er.

»Der Typ ist wirklich ein richtiges Ekel, oder was meinen Sie, Ma’am?«, bemerkte Nugent nun, da Corcoran ihn nicht mehr hören konnte.

Jess seufzte zustimmend. Keiner von beiden war erfreut darüber, so kurz vor Weihnachten noch arbeiten zu müssen und das auch noch in einem so potenziell grausigen Fall. Und Corcorans mürrisches Auftreten machte das Ganze nur noch schlimmer.

Corcoran kam wieder zurück, und der Zweifel stand ihm ins teigige Gesicht geschrieben. »Im Wasser ist nichts. Auf dem Grund liegen nur zwei Einkaufswagen und ein paar leere Weinflaschen. Natürlich könnte die Strömung die Leiche inzwischen eine halbe Meile weitergetragen haben. Aber vielleicht hat der da sich das alles ja auch nur eingebildet.«

Corcoran nickte in Richtung von Mike Laceys SUV, der hinter ihnen am Straßenrand parkte. Hinter dem Steuer war die dunkle Silhouette des Fahrers zu erkennen, der gerade aus einer Dose trank. »Wir sollten den Kerl mal blasen lassen.«

»Wegen einer Dose 7UP? Wohl kaum«, entgegnete Jess. »Außerdem ist es noch früh am Morgen, und er stinkt nicht nach Alkohol. Und er ist ein angesehener Tierarzt aus der Gegend hier, der gerade auf dem Weg zu einem Notfall war, als er da drüben die Leiche mit dem Gesicht nach unten gesehen hat.« Sie deutete auf eine Stelle, wo die Äste der Bäume wie Finger ins Wasser ragten.

»Die schwimmen alle zuerst mit dem Gesicht nach unten«, erklärte Corcoran, der Experte, »bis sie schließlich sinken. Dann liegen sie bis zu zwei Wochen am Grund, bis sich genug Faulgase gebildet haben, um den Körper wieder an die Oberfläche zu tragen. Natürlich hängt das von Wassertiefe und Temperatur ab. Einige kommen nie wieder hoch.« Er schüttelte den Kopf. »Zeugen machen Fehler. Vielleicht hat das, was er gesehen hat, nur wie ein Mensch ausgesehen. Vielleicht war es nur ein großer Ast, der gestern abgebrochen und im Fluss gelandet ist. Oder ein Sack Müll, der sich im Geäst verfangen hat, oder ein Kleidungsstück, das irgendwie im Wasser gelandet ist … oder ein Tierkadaver. Aber was auch immer es war, die Strömung hat es mitgerissen, und wir müssen weiter flussabwärts suchen.«

»Der Mann ist Tierarzt!«, schnappte Jess. »Er hat in seinem Leben wahrscheinlich schon genügend tote Tiere gesehen, um einen Tierkadaver erkennen zu können.«

»Die Sonne scheint«, konterte Corcoran. »Da kann es schon mal zu optischen Täuschungen kommen.«

Corcoran war ein stämmiger Mann mit vom Wetter gegerbter Haut und zottigem Schnurrbart. Während er sprach, strich er sich mit der Hand über das Gestrüpp an seiner Oberlippe, und Jess erhaschte einen Blick auf seine Zähne. Sie waren auffallend weiß und ungewöhnlich gleichmäßig. Das musste eine Prothese sein.

Dave Nugent war ebenfalls groß und kräftig gebaut. Jess stand zwischen den beiden Männern, und sie war sich nur allzu bewusst, dass sie mit ihrer schlanken Gestalt und den kurzgeschorenen roten Haaren wie ein Kind zwischen zwei Erwachsenen wirkte … wie ein jugendlicher Delinquent zwischen zwei Beamten.

Jess öffnete den Mund, um zu erwidern, dass Lacey sich die Situation mit seinem Fernglas genau angeschaut hatte und dementsprechend sicher war, doch Corcoran war fest...