Bitterer Calvados - Kriminalroman

von: Catherine Simon

Goldmann, 2017

ISBN: 9783641192969 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 7,99 EUR

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Bitterer Calvados - Kriminalroman


 

EINS

Hier in der ersten Etage, Madame, befindet sich das größte Büro des Kommissariats, vom Foyer einmal abgesehen. Es könnte für eine Lesung infrage kommen. Aber das hängt davon ab, mit wie vielen Zuhörern Sie rechnen. Sie entscheiden, ich habe Ihnen freie Auswahl zugesichert.«

Kommissar Jacques Leblanc sah von seinem Computer auf und blickte fragend zu seiner Kollegin Nadine hinüber. Nadine zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass sie von dem Besuch nichts wusste. Beiden war die näselnde Stimme bekannt, die vom Flur in ihr Büro drang. Bevor Leblanc eine Bemerkung entschlüpfen konnte, klopfte es fast unhörbar an die Tür, gerade mit so viel Nachdruck, als wolle jemand zeigen, dass er der Höflichkeit Genüge tat, aber eigentlich rechtmäßig befugt wäre, den Raum ohne Ankündigung zu betreten. Unmittelbar darauf wurde die Tür geöffnet, und das runde, leicht gerötete Gesicht des Bürgermeisters von Deauville erschien im Türrahmen. Schon schob Monsieur Fabius seinen schmalen, aber in der Bauchgegend nach vorn drängenden Körper über die Schwelle und trat beiseite, um einer Frau Platz zu machen, die ihn um mehr als einen Kopf überragte. Vom Treppensteigen noch außer Atem, wandte er sich an seine Begleiterin.

»Sie befinden sich hier gewissermaßen in der Schalt- und Gedankenzentrale unseres Kommissariats, Madame Colbert. Darf ich Ihnen Kommissar Leblanc vorstellen? Und das ist seine Kollegin Nadine Liard. Sie kennen Kommissar Leblanc vielleicht aus der Presse. Es wurde viel über ihn berichtet, er hat einige bedeutende Fälle bravourös gelöst.«

»Ich habe von Ihnen gehört, Monsieur.«

Die Dame schenkte Leblanc ein kurzes Lächeln, dann wurde ihre Miene wieder ernst. Gegensätzlicher konnten zwei Menschen kaum aussehen als der Bürgermeister und seine Begleiterin. Er klein, von zartem Körperbau, aber mit Bauchwölbung, sie knochig und groß, gut ein Meter achtzig, schätzte Leblanc. Er machte keine Anstalten aufzustehen. Sie würde auch ihn überragen, wenn er neben ihr stünde. Als wolle sie den Eindruck der Strenge, den ihre hagere Gestalt hervorrief, noch unterstreichen, hatte sie ihre braunen Haare straff nach hinten gebürstet und zu einem Knoten gedreht. Eine runde Hornbrille verlieh ihren Augen etwas Eulenhaftes.

»Madame Colbert ist eine der Organisatorinnen des Festivals des Kriminalromans Mord am Meer«, erklärte der Bürgermeister. »Sie wissen ja Bescheid.«

Leblanc dachte an die Plakate, die ihm seit zwei Wochen in Deauville und Trouville auf Schritt und Tritt begegneten, Plakate, auf denen markant in Pose gesetzte Schriftsteller und Schriftstellerinnen angekündigt wurden, die aus ihren »mörderischen Werken« lesen würden.

»Ich unterrichte Literatur hier am Lycée André Maurois und bin seit drei Jahren Mitglied des Festivalkomitees«, erklärte Madame Colbert. »Mord am Meer findet zum fünften Mal in Deauville statt, der Erfolg ist ermutigend. Im letzten Jahr haben wir zum ersten Mal Krimiautoren aus aller Welt einladen können. Das setzen wir in diesem Jahr fort. Da wir ständig auf der Suche nach neuen Leseorten sind, haben wir uns ans Rathaus gewandt. Eine Lesung in einem Kommissariat, das wäre sensationell, haben wir gedacht. Und Monsieur Fabius hat gleich zugesagt. Wir sind Ihnen sehr dankbar, Herr Kommissar, dass Sie uns einen Raum zur Verfügung stellen wollen.« Ihr Lächeln galt nun zu gleichen Teilen Leblanc und dem Bürgermeister.

»Leider haben wir nichts davon erfahren, sonst hätten wir uns auf Ihren Besuch und Ihr Anliegen natürlich besser vorbereitet. Einen Kaffee können wir Ihnen aber anbieten.« Leblanc konnte seinen Ärger darüber, dass über seinen Kopf entschieden und er nicht einmal informiert worden war, nicht ganz verhehlen.

»Sie sind nicht benachrichtigt worden?«, fragte der Bürgermeister etwas kleinlaut. »Wir haben selbstverständlich die Präfektur in Caen informiert und um Zustimmung gebeten. Die kam prompt, aber irgendwie sind Sie wohl vergessen worden.«

Sein Bedauern über dieses Versäumnis hielt nicht lange an und wurde sogleich durch freudigen Optimismus ersetzt. »Ein hoffentlich verzeihlicher Fehler, dann erfahren Sie es eben jetzt – zugegeben, ein wenig kurzfristig. Aber es geht ja nur um einen Raum, und das dürfte doch kein Problem sein. Sie sind mit mir sicher einer Meinung, dass es sich bei diesem Festival um eine unterstützenswerte Unternehmung handelt. Ich denke, es ist eine ausgezeichnete Idee, einen Schriftsteller, der Verbrechen erfindet, an den Ort zu bringen, an dem Verbrechen aufgeklärt werden. Und die Zuhörer bekommen einen Eindruck von den tatsächlichen Gegebenheiten eines Kommissariats.«

Nach diesem erhellenden Vortrag, der möglichen Widerspruch im Keim erstickte, wartete der Bürgermeister auf eine Reaktion. Aber Leblanc schwieg. Er behielt seine Zweifel für sich. Eine öffentliche Lesung würde eine Menge Unruhe mit sich bringen. Der Raum musste ausgeräumt, Stühle müssten herbeigeschleppt werden. Zusätzlich zu den Polizisten, die Bereitschaft hatten, würden weitere Kollegen gebraucht, um die Besucher zu empfangen und in den ersten Stock zu bringen. Der Unmut spiegelte sich in seinen Gesichtszügen. Um zu vermeiden, dass ihrem Chef eine unbedachte Äußerung entfuhr, mit der er sich beim Bürgermeister unbeliebt, die Entscheidung aber nicht rückgängig machen würde, ergriff Nadine das Wort.

»Natürlich sind wir dabei, das wird sicher ein großartiges Ereignis. Wann soll denn die Lesung stattfinden? Und wissen Sie schon, welcher Schriftsteller aus seinem Buch vortragen wird?«

Leblanc durchschaute die wohlgemeinte Strategie seiner Kollegin und zwang sich zu einem Nicken. Die Knotenfrau, wie er Madame Colbert bei sich nannte, nahm Nadines Fragen zum Anlass, sie über das Krimi-Festival aufzuklären.

»Ich vermute, Sie haben unser Programm nicht bekommen.« Sie nahm ein paar Broschüren aus ihrer Tasche und legte sie auf den Tisch. »Ich lasse Ihnen einige Programmhefte da, darin finden Sie alle teilnehmenden Schriftsteller, die Lesungen und Leseorte. Das Festival beginnt morgen Abend mit der spektakulären Eröffnung im Theatersaal des Casinos. Wir konnten den Bestsellerautor Jean-Paul Picard gewinnen, die Karten sind längst ausverkauft. JPP ist Ihnen sicher ein Begriff, seine Kriminalromane sind in siebzehn Sprachen übersetzt und sogar verfilmt worden. JPP wird auch an der Diskussionsveranstaltung am Samstagabend teilnehmen, wo Autoren und Kritiker über die gegenwärtige Popularität des Kriminalromans debattieren. Die Veranstaltung hier im Kommissariat haben wir auf Freitag, achtzehn Uhr angesetzt. Im Programm ist noch kein Raum angegeben, das heißt, wir müssen im Foyer eine Tafel zur Orientierung für die Besucher anbringen. Vorgesehen für diese Lesung ist die Schriftstellerin Esther Badiou, die ihren neuen Roman Wenn der Hahn kräht, bist du tot vorstellen wird, eine Persiflage auf die immer beliebter werdenden regionalen und dörflichen Kriminalromane. Wir würden uns natürlich freuen, wenn Sie beide anwesend wären.«

Lebhaft, fast leidenschaftlich trug Madame Colbert ihre Ausführungen vor. Ihre großen Hände bewegten sich, als wollte sie ein Orchester dirigieren, die Finger tanzten auf und ab, und sie verlor dabei ihre strenge Lehrerinnen-Ausstrahlung. Leblancs Fantasie setzte die begonnene Verwandlung fort: Der Knoten öffnete sich, und die braunen Haare fielen auf die Schultern, die Brille verschwand, die hohen Wangenknochen kamen zur Geltung, den Mund betonte ein dunkler Lippenstift, statt des biederen Faltenrocks trug sie enge Jeans und eine seidene Bluse, die einen Blick auf die zimtfarbene Haut des Dekolletés zuließ. Eine Modelfigur, so schlank und langbeinig, wie sie war.

»Wir kümmern uns darum, dass der Raum übermorgen entsprechend hergerichtet wird, nicht wahr, Chef?«

Leblanc nickte erneut. Er war gerade woanders. Diese gedanklichen Abschweifungen passierten ihm gelegentlich, auch wenn sie bei der Person, die sie auslöste, zu gar nichts führten. Die reine Vorstellung belebte ihn und versetzte ihn in einen angenehmen Erregungszustand. Irgendetwas in ihm führte ein Eigenleben. Er zwang sich zur Aufmerksamkeit.

»Ja, natürlich, das machen wir.«

»Ich wusste, dass Sie Feuer und Flamme für dieses Projekt sein würden«, kommentierte der Bürgermeister die Zustimmung des Kommissars. »Unsere Stadt ist stolz darauf, dass wir neben dem mittlerweile legendären Festival des amerikanischen Films nun auch das Festival des Kriminalromans vorweisen können, das sich zu einem einschlägigen, großartigen Event entwickelt.«

»Ich freue mich über Ihre Kooperation«, unterbrach Madame Colbert den Bürgermeister. »Zur Organisation würde ich vorschlagen, dass Sie den Raum bis spätestens sechzehn Uhr geräumt haben. Wir lassen Stühle hertransportieren und aufstellen, darum müssen Sie sich nicht kümmern. Einen Schreibtisch können Sie für die Autorin stehen lassen. Wir werden natürlich darauf hinweisen, dass es der Original-Arbeitsplatz eines wirklichen Kommissars ist.« Madame Colberts Lächeln machte die Runde vom Bürgermeister über Leblanc bis zu Nadine. »Die Lesung wird etwa eineinhalb bis zwei Stunden dauern, danach sind alle Zuhörer verschwunden, und Sie können sich wieder Ihrer Arbeit widmen.«

»Falls Sie Ihr Büro am Freitagabend überhaupt noch benötigen. Wir gehen davon aus, dass sich die Verbrechen in den nächsten Tagen nur auf dem Papier abspielen.« Der Bürgermeister lächelte über seinen Scherz. »Leblanc, dieses Festival liegt uns sehr am Herzen. Die Hotels, und nicht nur die vor Ort, sind komplett ausgebucht....