Ein Weihnachtsschwein sieht Rosa - Roman

von: Arne Blum

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841214447 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Ein Weihnachtsschwein sieht Rosa - Roman


 

1


Das alte Haus aus roten Backsteinen stand mitten im Wald. Es sei ideal, um dort am Wochenende auszuspannen, hatte Anna gemeint, als sie es kaufte. Auf der Wiese hinter dem Haus könne man eine Schaukel und ein Fußballtor aufstellen, dann könne Mark auch Freunde einladen, und im Schuppen ließen sich wunderbar Gartengeräte und Vorräte unterstellen.

Christoph hatte Mühe gehabt, sich von Annas Begeisterung anstecken zu lassen. Für ihn war das Haus eine Ruine gewesen. Doch sie hatte sich gleich an die Arbeit gemacht. Hatte das Dach neu decken lassen und einen Elektriker aus dem Dorf engagiert, der die Stromleitungen erneuerte, und dann hatte sie selbst einen groben Pinsel in die Hand genommen, um die Küche, das Bad mit der alten vierfüßigen Wanne und die vier Räume, die sich auf zwei Etagen verteilten, weiß zu streichen. Wenn er nun daran dachte, beschlich ihn Wehmut. Wie gesund und tatkräftig Anna ausgesehen hatte – Sommersprossen im Gesicht und das blonde Haar mit ­einem ­alten Tuch zurückgebunden.

Damals waren seine Geschäfte noch gut gelaufen – sechzehn Angestellte in einer florierenden Werbeagentur, die sich mehr und mehr auf online-Marketing konzentriert hatte. In einer Fachzeitschrift war Christoph Lepper sogar als »Werber des Jahres« bezeichnet worden.

Wie lange war das her?

Nicht mehr als achtzehn Monate.

Christoph hatte nie herausgefunden, ob Anna schon damals wusste, dass sie todkrank war. Eine besonders aggressive Form von Leukämie. Er hatte sie auch nie danach gefragt, obwohl er die Wahrheit ahnte. Das Haus sollte eine Art Vermächtnis werden – ein verwunschenes, baufälliges Haus, das sie nach ihren Vorstellungen umgestaltete und einrichtete. An dem Kamin hatte sie selbst eine Mauer eingezogen, aber da war ihr die Arbeit schon schwergefallen.

Was konnte eine fünfunddreißigjährige Frau Schöneres hinterlassen als ein altes Haus, in dem sich ihr Charakter widerspiegelte?

Er drehte sich um und blickte zum Rücksitz. War Mark eingeschlafen? Nein, er starrte traurig aus dem Fenster. Das Buch, das Christoph ihm in die Hand gedrückt hatte, lag auf seinem Schoß – offenbar hatte er es nicht angerührt. Auch seinen Gameboy beachtete er nicht.

»Wir sind gleich da«, sagte Christoph, als müsse er seinen Sohn beruhigen.

Mark blickte kurz auf, sagte aber nichts.

»Erinnerst du dich noch an die Rehe, die fast bis ans Haus gelaufen sind? Anna hat …« Christoph brach ab. Er spürte einen Kloß im Hals. Kinder überwinden ­einen Verlust eher als Erwachsene, hatte Robert, sein bester Freund und Arzt, ihm erklärt. Für Mark schien diese Aussage jedoch nicht zu gelten. Annas Beerdigung lag nun neun Wochen zurück, aber Mark hatte sich immer noch in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Er ging zwar wieder zur Schule, er machte sogar ordentlich seine Hausaufgaben, aber alles bedrückt und gedämpft, als würde er durch einen Nebel waten, den nur er sah.

Christophs Versuche, Annas Tod zu erklären, waren auch vergeblich gewesen. Solche Sätze wie: Deine Mama schaut vom Himmel herunter und passt auf dich auf, brachte er nicht über die Lippen. Außerdem hatte Anna zuletzt sehr schwach und ausgelaugt ausgesehen. Auch Mark hatte es das Herz zerrissen, seine Mutter so leidend zu erleben. Was Leiden bedeutete, konnte auch ein Achtjähriger verstehen.

Gestern hatten die Weihnachtsferien begonnen. Das Wochenende wollten sie in dem alten Haus verbringen, dann würden sie zu Annas Eltern fahren, um dort Weihnachten zu feiern.

Leichter Schneefall setzte ein, als Christoph von der Bundesstraße abbog. Nun kam nur noch ein Gehöft, dann ein langer dunkler Kilometer durch den Wald, und sie hatten das Haus erreicht.

Er blickte noch einmal zu Mark. Der Junge war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Wenn noch mehr Schnee fällt, können wir morgen vielleicht einen Schneemann bauen«, sagte Christoph und zwang sich zu einem Lächeln.

Mark zuckte mit den Achseln. »Gibt es hier Wildschweine?«, fragte er und schaute nun zum ersten Mal interessiert aus dem Fenster.

»Wahrscheinlich«, erwiderte Christoph, »aber bis zu den Häusern kommen sie nicht.« Er hatte keine Ahnung­, ob das stimmte.

Die schmale Straße war so rutschig, dass Christoph die Geschwindigkeit verringern musste. Die Fenster in dem Gehöft waren erleuchtet, bemerkte er. Windhorst hieß der Bauer. Aus irgendeinem Grund war Christoph froh, sich an den Namen erinnern zu können. Anna hatte oft mit ihm gesprochen und sich Tipps bezüglich der Handwerker geholt. Sollte er Bescheid sagen, dass jemand übers Wochenende in dem Haus sein würde? Nein, entschied Christoph, wahrscheinlich interessierte es niemanden.

Ein Hund bellte irgendwo, als er an dem Bauernhof vorbeifuhr, und dann musste er plötzlich auf die Bremse treten, weil eine schwarze Gestalt die Straße kreuzte.

»Was war das?«, fragte Mark erschreckt.

Christoph spürte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. »Irgendein Tier«, sagte er leise, doch es stimmte nicht. Ein Mann in einem schwarzen Regenmantel war direkt vor ihnen über die Straße gelaufen.

Fünf Minuten später bogen sie ab zu Annas Haus – ja, so hieß es in seinen Gedanken noch, Annas Haus, ihre verwunschene Sommerresidenz, die sie nie wirklich bezogen hatte.

Er stieg aus und öffnete wegen der Kindersicherung die hintere Tür an ihrem Passat. Mark blickte ihn nur an und machte keine Anstalten auszusteigen.

»Wir bleiben nicht lange«, sagte Christoph besänftigend. »Ich muss ein paar Unterlagen durcharbeiten, und wir müssen das Haus winterfest machen. Damit nichts kaputtgeht und einfriert, verstehst du?«

Mark nickte. Dann öffnete er wortlos den Sicherheitsgurt und kletterte langsam aus dem Auto.

Es hatte aufgehört zu schneien, nur das neue rote Ziegel­dach war wie mit Zuckerguss überzogen.

Als Christoph die Tür öffnete, meinte er Kratzspuren am Schloss wahrzunehmen, als habe jemand versucht, in das Haus einzudringen, aber nein, Unsinn, vermutlich war die Metallkappe schon immer so lädiert gewesen. Die Tür hatten sie schließlich nicht erneuert, sondern lediglich gestrichen. Er hatte vorher nie auf das alte Schloss geachtet.

Er musste dreimal vom Auto zum Haus gehen, um die wenigen Vorräte und seine Unterlagen hineinzutragen, während Mark reglos und noch immer im Anorak in dem Wohnraum stand, als habe ihn jemand dort abgestellt. Rotwein, er hatte eine ganze Kiste Merlot mitgenommen. Nur für den Notfall, sagte sich Christoph. Zuletzt hatte er abends recht viel getrunken.

»Zieh dich aus!«, rief er Mark zu, als er die letzten Vorräte – Milch, Brot und zwei Dosen Ravioli – in die offene Küche trug. Der Junge gehorchte mit einer freudlosen und irgendwie vorwurfsvollen Bewegung.

Christoph versuchte es zu ignorieren.

Im Innern des Hauses roch es so muffig, dass er erstmal die beiden Fenster öffnen musste.

Wie geschmackvoll Anna alles eingerichtet hatte! Die Küche bestand aus teuren weißen Möbeln; sie hatte an nichts gespart, neben dem Herd und dem Kühlschrank gab es sogar eine kleine Spülmaschine. »An unseren ­Wochenenden müssen wir uns doch erholen«, hatte sie lächelnd erklärt.

Der Wohnraum hingegen war ganz in Rot gehalten; eine rote Ledercouch, zwei rote Sessel, daneben schwarze Regale, in die nichts eingeräumt worden war, und ein Fernseher mit einem DVD-Player.

Na, zumindest würde Mark sich dann nicht lang­weilen, dachte Christoph, wenn er selbst sich damit abplagen musste, sich einen Überblick über die finanzielle Lage der Agentur zu verschaffen. Wegen Annas Krankheit war einiges schiefgelaufen; drei lukrative Aufträge waren allein im November geplatzt, und ein Verlag, der seit über acht Jahren sein Kunde war, hatte bereits im Oktober, kurz vor Annas Tod, seine Aufträge zurück­gezogen, weil Christoph sich nicht mehr selbst um alles hatte kümmern können.

In der oberen Etage gab es ein Schlafzimmer, ein Zimmer für Mark und ein Zimmer, in dem sich nur ein Bett und ein Stuhl befanden und das Anna für sich hatte einrichten wollen. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein; kein Ungeziefer, keine Feuchtigkeit, die eingedrungen war. Anna hatte bei der Renovierung ganze Arbeit geleistet.

Während Christoph den Kamin anheizte, damit es möglichst rasch warm im Haus wurde, sah er, wie Mark über den Hof schlurfte. Den Kopf gesenkt trat er einen Stein vor sich her.

Wie würde er den Jungen wieder zum Sprechen animieren, geschweige die Freude in sein Leben zurückbringen können? Nur einmal, als sie sich im Kino einen Zeichentrickfilm angesehen hatten, hatte er mehrmals lauthals gelacht; hinterher jedoch war er in ein noch ­tieferes Schweigen versunken, als müsse er sich für sein ­Lachen schämen.

Christoph schloss die Fenster, dann ging er in die ­Küche und räumte die Vorräte ein. Am Abend würde es die Ravioli aus der Dose geben – viel mehr als Nudeln stand selten auf seinem Speisezettel, Anna war ihre Köchin gewesen –, und morgen würden sie irgendwo im Dorf essen gehen, bevor sie wieder abfuhren.

Als er den Kühlschrank schloss und sich umdrehte, blickte er in den Raum und meinte für einen Moment, gleich müsse Anna hereinkommen, abgehetzt und lächelnd, und dann würde sie ihm von ihrer nächsten tollen Idee erzählen. Ein Pferd … Sie wollte Mark das Reiten beibringen und ein Pferd bei den Windhorsts unterstellen, oder sie würde draußen am Schuppen einen Backofen bauen, um auf die ganz...