Banshee Livie (Band 2): Weltrettung für Fortgeschrittene

von: Miriam Rademacher

Sternensand Verlag, 2018

ISBN: 9783906829685 , 370 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Banshee Livie (Band 2): Weltrettung für Fortgeschrittene


 

Kapitel 1


 

Mit einem breiten Lächeln stand ich auf den Zinnen von Schloss Harrowmore und blickte hinunter in die üppigen Gärten. Es war Mai und die Sonne strahlte vom blauen Himmel auf blühende Beete hinab. Sie ließ das Wasser kleiner Teiche kristallen glitzern und spiegelte sich in den Scheiben der Gewächshäuser. In der Ferne erhoben sich sanfte Hügel mit altem Baumbestand, unter dessen starken Ästen der Twinklebach lustig seines Weges plätscherte. Sogar hier oben roch es schwach nach Gänseblümchen und trockenem Gras.

Schloss Harrowmore selbst, ein riesiger Klotz, der die Baustile aller Epochen in sich vereinte, erhob sich in der Mitte dieses verwunschenen Tales in seiner ganzen protzigen Pracht.

Und all das war mein. An Tagen wie diesen, an denen ich mir der Schönheit dieses Erdfleckchens bewusst wurde, war ich wahnsinnig glücklich darüber, hier sein zu dürfen, und sehr stolz auf den ganzen Besitz.

Plötzlich fiel mir eine Szene aus einem meiner Lieblingsfilme zu meinen Lebzeiten ein und ich trat ganz nah an die von Wind und Wetter gefurchten grauen Zinnen, reckte das Gesicht der Sonne entgegen, riss die Arme empor und rief: »Ich bin der König der Welt!«

Einen Augenblick lang verharrte ich in dieser unvergleichlichen Pose und fühlte mich großartig. Bis ich hinter mir ein gekünsteltes Hüsteln vernahm. Augenblicklich ließ ich die Arme sinken und fuhr herum.

Eine tiefe Röte schoss mir in die Wangen. Verdammt. Nicht einmal der eigene Tod machte diesem albernen Erröten ein Ende. Wie war das möglich? Zweifellos ein Fall für die Wissenschaft.

»Banshee, Livie. Du bist nur die Banshee von Schloss Harrowmore und ganz gewiss kein König, tut mir leid.«

Der Wind spielte mit dem Stoff der rotbraunen Mönchskutte, die die große Gestalt vor mir komplett verhüllte. Eine Kapuze verbarg das Gesicht. Es war Walt, der Todesbote der Familie Harrowmore und somit mein Mentor, Vertrauter und seit Kurzem auch mehr als das. Ja, alles, was unter der Kutte steckte, gehörte ebenfalls mir.

Da Walts Tage als lebendiger Mensch schon viele Jahrhunderte zurücklagen, ging ich nicht davon aus, dass er jemals den Film Titanic gesehen hatte. Mit anderen Worten: Er hielt mich gerade vermutlich für komplett durchgeknallt. Es erschien mir richtig, die Situation zu erklären.

»Ich weiß das, Walt. Ich bin die Banshee, du bist der Todesbote, und somit sind wir nur zwei popelige Geistwesen, die für das Wohl der Familie Harrowmore Sorge zu tragen haben. Ich bin nicht plötzlich schwachsinnig geworden, ich bin nur glücklich.«

Die Kutte trat ganz nah an mich heran, hob die Hand mit den schlanken Fingern und strich mir zärtlich das Haar zurück. »Ich bin froh, dass du den Trubel der Londoner Straßen in deinem neuen Dasein nicht zu vermissen scheinst. Manch anderer wäre es schwergefallen, sich hier in diese beschauliche ländliche Ruhe einzufinden.«

»Ich habe doch dich«, antwortete ich und schmiegte meine Wange in seine Hand. »Dich und die Familie Harrowmore. Was brauche ich mehr?«

Walt lachte. »Immerhin sorgt die Familie gelegentlich für Abwechslung, nicht wahr?«

Auch ich wollte lachen, doch es blieb mir im Halse stecken, als sich Walts Hand plötzlich verkrampfte und seine Fingerkuppen sich unangenehm in mein Gesicht drückten.

»Walt, was …« Doch ich ahnte bereits, was passiert war. Mein Todesbote hatte eine seiner Visionen.

»Es ist an der Zeit, unserer Arbeit nachzugehen«, klang es da auch schon dumpf unter der Kapuze hervor. Die Hand an meinem Gesicht erschlaffte und fiel kraftlos herab.

»Na großartig«, seufzte ich und schob schmollend die Unterlippe vor. Meine gute Laune hatte sich soeben verflüchtigt.

Die Harrowmores hatten mal wieder für eine ihrer Abwechslungen gesorgt, denn Arbeit für die Banshee bedeutete immer, dass einer von ihnen in Lebensgefahr schwebte. Und so wie ich die Mitglieder der Familie Harrowmore in den letzten Monaten kennengelernt hatte, war die Gefahr höchstwahrscheinlich selbstverschuldet und hatte irgendetwas mit elektrischen Haushaltsgeräten oder Transportmitteln aller Art zu tun.

»Der kleine Jonathan durchstöbert gerade den ältesten Turm im Osten des Schlosses«, fuhr Walt fort und klang jetzt wieder ganz gefasst.

»Und dort wird er über ein Beil stolpern und in die eiserne Jungfrau stürzen?«, riet ich tapfer drauflos. »Oder weckt er aus Versehen den Familienvampir aus seinem hundertjährigen Schlaf?«

»Wohl kaum. Zumindest jetzt nicht mehr. Der Krümel hat sich nämlich selbst schachmatt gesetzt.«

»Wie das?«, fragte ich und krauste Nase und Stirn.

Walt klang wie ein Oberlehrer, als er antwortete: »Jonathan konnte nicht widerstehen, als er den gewaltigen schmiedeeisernen Schlüssel, der von innen im Schloss der Turmzimmertür steckt, entdeckte. Er musste ihn einfach herumdrehen. Du kennst dieses Phänomen vielleicht. Du weißt genau, dass es falsch ist, aber du musst es tun.«

»Kenne ich nicht«, log ich. »Und was ist nun sein Problem?«

»Natürlich kennst du es. Ich weiß das, denn ich kenne dich recht gut, Livie, schon vergessen?«

Ich wusste, dass er grinste. Anscheinend hatte er den Schrecken seiner Vision bereits verdaut.

»Das Problehem«, lenkte ich energisch von mir ab.

»Ach ja. Er kriegt das rostige Ding nicht mehr zurückgedreht, sitzt dort oben fest und denkt intensiv über eine Karriere als Fassadenkletterer nach. Wenn ihm nicht jemand zu Hilfe eilt, wird er in wenigen Augenblicken das verzogene Fenster aufreißen und sich auf das morsche Fensterbrett schwingen. Meinst du nicht auch, du solltest etwas unternehmen?«

Ein Schauer überlief mich, als ich mir in düsteren Bildern ausmalte, wie der Fünfjährige einen Freiflug aus dem Turmfenster anstrebte und damit auf sein Ende zusteuerte.

»Zu schade, dass sich das alte Fenster von dem kleinen Pimpf öffnen lässt, die Tür aber nicht«, ächzte ich und beeilte mich, meinen Aussichtspunkt zu verlassen und mich nach Hilfe für den Racker umzusehen.

So schnell ich konnte, eilte ich die ausgetretenen und schadhaften Holzstufen hinab, die verrieten, dass auch dieser Turm nur noch selten besucht wurde. Walt blieb hinter mir zurück und konnte die sanfte Brise an meiner Stelle weiter genießen. Er hatte seinen Job erledigt, er war nur der Todesbote. Jetzt war es an mir, der Familie den nahenden Tod eines Harrowmores zu melden.

 

Schloss Harrowmore hatte nur wenige Bewohner, weshalb viele Teile des Schlosses dem Verfall preisgegeben waren. Man konnte lange laufen, bevor man auf einen Menschen traf.

Ich eilte knarrende Treppen hinab und rannte durch ein halbes Dutzend leerer Flure, bis ich einen bewohnten Trakt erreichte.

Wo würde ich Meldung machen? Bei den Großeltern des kleinen Kletterers, Lord Harrowmore nebst Gattin? Beide reagierten zumeist recht verschroben und unvorhersehbar auf meine Warnungen. Sie begannen zu beten, zu telefonieren oder zu meditieren, anstelle nach dem Erste-Hilfe-Kasten und einem Familienmitglied in Not zu suchen. Gelegentlich gönnte sich Lady Harrowmore auch einfach etwas Hochprozentiges auf den Schreck und war für den Rest des Tages indisponiert.

Die nachfolgende Generation war da schon zuverlässiger.

Natürlich wäre es logisch gewesen, direkt zu Klein-Jonathan zu laufen und den Jungen aus seiner misslichen Lage zu befreien, aber genau das konnte ich als Banshee nicht. Ärgerlicherweise gab es da ein paar Regeln, an die ich mich zu halten hatte. Das war sehr einfach, denn es war mir schlichtweg nicht möglich, ihnen zuwiderzuhandeln.

So durfte ich niemals die gefährdete Person selbst warnen, sondern nur ihre Angehörigen über das drohende Unheil informieren. Dabei durfte ich keine konkreten Hinweise geben, sondern konnte entweder unsichtbar in klagendes Geheul ausbrechen oder stumm, aber sichtbar mahnen. Das war nicht sehr praktisch, aber ich hatte diese Regeln ja schließlich nicht gemacht, ich war hier nur die Banshee. Und als solche hatte ich kaum mehr Bestand als ein Nebelstreif und konnte Gegenstände nur mit der Kraft meiner Gedanken bewegen, was auch nicht immer einfach war. Allein die Elemente erkannten meine Existenz an und straften mich mit Kälte, Hitze, Nässe und allem, was ihnen sonst noch einfiel. Genauso, wie sie es auch mit Lebenden machten.

Ich hatte mich schon gut an diesen Zustand gewöhnt, vergaß aber manchmal, dass ich, und nicht meine Umwelt, substanzlos war. Dann scheiterte ich an geschlossenen Türen und ähnlichen Hindernissen, die mich sogleich deutlich daran erinnerten, wer hier durchlässig war.

Inzwischen hatte ich mich auf meinem Weg dafür entschieden, dem Vater des lebensmüden Jonathan zu erscheinen. Cameron war hinter der Stirn ein wenig heller als einige seiner Verwandten und es bestand die geringe Chance, dass ich ihn auf die richtige Spur bringen konnte.

Ein weiterer Grund dafür, dass ich Cameron für meinen Auftritt bevorzugte, war, dass er so leicht zu finden war. Er verbrachte fast alle Tage, die der liebe Gott werden ließ, in der riesigen Bibliothek des Schlosses und brütete über verstaubten Schätzen.

Die schwere Tür der Bibliothek erreichend, ballte ich die Fäuste und konzentrierte mich auf ein einziges Wort.

»Auf!«

Die Tür gehorchte, drehte sich quietschend in den Angeln und ich betrat einen der größten und ältesten Räume des Schlosses.

Durch die gotischen Fenster fiel das Sonnenlicht auf alte Teppiche. Sie dämpften jeden Laut, den ich sowieso nicht verursacht hätte. Regale, die vom Boden bis in schwindelerregende Höhen reichten, wo nur Leitern zu den Büchern...