Lore-Roman 19 - Zwei Mädchen und ein Geheimnis

von: Karin Weber

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732560073 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Lore-Roman 19 - Zwei Mädchen und ein Geheimnis


 

Es gibt Erinnerungen, die wir nicht loswerden. Am Tage können wir sie vielleicht vergessen, ins Unterbewusstsein verdrängen; denn wir wissen ja, es ist alles gut gegangen, es ist nichts geschehen. Aber nachts kommen diese Erinnerungen als Träume wieder …

Frau Sonja hatte solch einen Traum, der immer wiederkehrte. Ein brennendes Haus, ein kleines, kahles Zimmer mit einem Bett; sie hörte das Knistern der Flammen, schmeckte den Rauch in der Kehle und wimmerte wie damals, als es geschah.

Sie lag in der Klinik auf der Wochenstation, und das Krankenhaus brannte. Es war Nacht.

„Mein Kind …“ Frau Sonja fuhr schweißgebadet in die Höhe.

Ihr Blick irrte durch das dunkle Zimmer. Gott sei Dank, sie hatte nur geträumt.

Neben ihr schlief Robert. Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Langsam beruhigte sich Frau Sonja. Entspannt ließ sie sich in die Kissen zurückgleiten.

Robert war damals rechtzeitig zurückgekommen und hatte sie aus der brennenden Klinik herausgeholt. Sie und ihr Kind. Zwei Tage alt war Marion gewesen. In eine alte, verschlissene Decke gewickelt, hatten sie die Kleine ins Freie getragen. Die Klinik brannte lichterloh.

In den letzten Jahren kam dieser Traum immer seltener. Marion war kein Säugling mehr, sie hatte sich zu einem recht selbstbewussten, verwöhnten Teenager entwickelt. Nur manchmal träumte Sonja noch von dem, was damals geschehen war. Und hätte geschehen können.

Aber es war ja alles gut gegangen. Das jedenfalls glaubten sie, ihr Mann und ihre Tochter. Sie hatten eben Glück gehabt.

***

Mehr als siebzehn Jahre waren seit jener Nacht vergangen. Robert Mattern dachte kaum noch daran zurück. Es war vorbei. Vergangenheit.

„Wo ist Marion?“, fragte er an diesem Morgen, als er sich an den gedeckten Frühstückstisch setzte.

Seine Frau lächelte nachsichtig. „Sie ist noch nicht fertig. Ich habe sie pünktlich geweckt, aber du kennst sie ja. Das Aufstehen fällt ihr schwer.“

Robert Mattern schüttelte den Kopf.

„Es wird Zeit, dass sie kommt. Das Kind muss in Ruhe frühstücken.“

„Ich bin kein Kind mehr!“ Marion hatte seine letzten Worte gehört. „Ich bin eine junge Dame.“

„Eine entzückende junge Dame“, versicherte der Mann freundlich. „Aber auch eine entzückende junge Dame muss in Ruhe frühstücken, wenn sie in der Schule etwas leisten will.“

Marion beugte sich zu ihm hinab und gab ihm einen Kuss.

„Du siehst heute mal wieder umwerfend aus“, stellte sie fest.

„Vielen Dank, Kleines“, entgegnete er ernsthaft, aber in seinem Blick lag Belustigung.

„Zur Elternversammlung musst du diesmal unbedingt mitgehen. Mutti, erlaube ihm nicht, dass er sich wieder drückt.“

„Kind, du weißt doch, wie wenig Zeit dein Vater hat.“ Sonja lächelte über den Stolz ihrer Tochter auf den gut aussehenden Vater. „Ich werde wieder allein hingehen und Vater berichten, was es Neues gibt.“

„Ich möchte aber, dass die Lehrer Vati sehen. Mensch, ich kenne die anderen Väter, also das sind vielleicht Figuren … Sie haben Bäuche, Glatzen, Plattfüße, tragen Brillen und sehen uralt aus. Lebende Leichen. Du dagegen …“

„Mach deinem Vater keine Liebeserklärungen.“ Sonja lachte. „Und vergiss nicht zu essen.“

„Ich muss nämlich gleich ins Büro, liebes Kind, und deinetwegen werde ich nicht zu spät kommen.“

„Bin ja gleich fertig. Muss eigentlich ein tolles Gefühl sein, solch einen Mann zu haben, Mutti.“

„Was ist heute nur mit dir los?“, fragte Sonja kopfschüttelnd.

„Nichts.“ Marion biss mit Appetit in das Brötchen. „Ich war gestern nur mit den Jungs im Beatschuppen. Schreckliche Kinder sind das noch.“

„Ihr passt zusammen. Auch wenn du natürlich in Wirklichkeit eine junge Dame bist.“

Beim Lächeln bildeten sich Fältchen um Robert Matterns Augen. Er war groß, schlank, und sein dunkles Haar war an den Schläfen leicht ergraut.

Er sah wirklich ungewöhnlich gut aus, aber darauf bildete er sich nichts ein.

„Ich wünschte, ich hätte nicht so ein rundes Gesicht.“ Marion spülte den letzten Bissen mit Kaffee hinunter. „Wie bin ich nur dazu gekommen? Ihr habt nicht aufgepasst.“

„Du hast kein rundes Gesicht“, erklärte Sonja energisch.

Ihre Tochter beklagte sich nämlich häufig über ihr Aussehen, obwohl sie dazu überhaupt keinen Grund hatte. Sicherlich, ihr Gesicht war nicht schmal, aber deshalb war sie doch eine kleine Schönheit. Besonders ihr silberblondes Haar zog die Blicke der Männer auf sich.

„Iss noch ein Brötchen“, drängte sie, als Marion einen Blick auf die Uhr warf.

Von draußen ertönte die Hupe des Wagens. Robert Mattern runzelte leicht die Stirn.

„Du kannst ja mit dem Fahrrad in die Schule fahren, Marion.“ Er tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und erhob sich. „Zum Mittagessen werde ich pünktlich zu Hause sein, Sonja.“

Seine Frau stand auf und lächelte ihm zu. Sie war ungeheuer stolz auf ihren Mann. Sie liebte ihn, weil er ein guter Mensch war, weil ihm seine Familie über alles ging.

„Arbeite nicht so viel, Robert.“ Sie gab ihm einen Kuss.

Marion seufzte. „Wenn ich einmal heirate, dann nur einen richtigen Mann“, erklärte sie temperamentvoll. „Aber ich glaube, richtige Männer sind ausgestorben.“

„Du wirst schon einen finden. Willst du nicht lieber doch noch ein Brötchen essen?“

„Nö. Hab keinen Hunger.“ Marion griff nach ihrer Büchertasche. „Tschüss dann, bis heute Mittag, Mutti – Komm jetzt, Vati.“ Sie schob ihren Arm unter seinen und strahlte ihn an.

Schmunzelnd schaute Robert Mattern auf seine bildhübsche Tochter.

„Du bist schon ein Racker“, sagte er halblaut.

„Wenn die anderen vor der Schule sehen, dass ich mit dem Wagen gebracht werde … Mensch, die platzen alle vor Neid.“

„Kleine Angeberin. Du solltest lieber zusehen, dass du auf deine Leistungen stolz sein kannst. Deine letzte Lateinarbeit …“

„Hör davon auf!“ Marion lief zur Tür und öffnete sie für den Vater. „Darf ich bitten, mein Herr?“ Sie knickste tief.

„Nach Ihnen, meine Dame.“

Robert Mattern strich ihr leicht über das silberblonde Haar. Von wem mag sie es wohl geerbt haben?, fragte er sich. In seiner Familie waren alle dunkel. In der seiner Frau auch. Eine seltsame Laune der Natur.

***

„Das ist sein Wagen. Du musst ihn heute ansprechen, Vater.“

Else Petermann runzelte die Stirn, als sie einen Blick auf das Gesicht des neben ihr stehenden Vaters warf.

Seine Unentschlossenheit regte sie manchmal auf.

„Mutter hat recht, er bezahlt dir zu wenig für die Hunde. Und mit Mattern kann man sprechen, sagst du doch immer.“

„Jaja, aber man muss einen günstigen Zeitpunkt erwischen …“ Karl Petermann zog den Kopf zwischen die Schultern. „Mattern ist ein großer Herr, der von unsereinem nicht belästigt werden will.“

„Er muss dir mehr Geld geben.“ Elses Stimme klang fest.

„Jaja.“ Ihr Vater nickte zögernd. Er schaute auf den Wagen, der kurz vor dem Pförtnerhaus anhielt und dann langsam weiterfuhr.

Schmidtgen, Robert Matterns Fahrer, öffnete seinem Chef die Wagentür vor dem siebenstöckigen Bürohaus.

„Herr Direktor …“ Eine leise, demütige Stimme.

Robert drehte unmutig den Kopf. „Was gibt es?“

Der Nachtwächter Petermann schien unter seinem Blick noch kleiner zu werden. Er wirkte übernächtigt, und in seinem abgetragenen Mantel machte er alles andere als eine gute Figur.

„Nun reden Sie schon, Mann!“ Robert Mattern war ungeduldig.

„Ich dachte nur … es ist nämlich so, Herr Direktor, eigentlich hat mich meine Frau hierhergeschickt, und … die Frauen kaufen ja ein, Sie wissen ja, wie das ist, immer liegen sie einem in den Ohren, dass das Geld nicht reicht. Und es stimmt ja, die Hunde fressen ungeheuer viel.“

Robert Mattern klopfte mit der flachen Hand gegen seine Aktenmappe. Schrecklich, wie umständlich diese Leute redeten!

„Und weil wir die Hunde ja brauchen …“

„Mein Vater bittet Sie, das Futtergeld für die Hunde zu erhöhen“, mischte sich eine jugendlich helle Stimme ein.

Erst jetzt warf Robert Mattern einen Blick auf das Mädchen neben Petermann. Er erinnerte sich dunkel, dass sein Nachtwächter eine Tochter hatte.

„Woher kenne ich Sie?“, fragte er.

Er hatte ein ungeheuer gutes Gedächtnis für Gesichter. Er vergaß niemanden, mit dem er einmal gesprochen hatte.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass Sie mich schon gesehen haben, Herr Direktor.“

Mattern durchforschte noch immer seine Erinnerung.

„Ich habe Sie gesehen, widersprechen Sie mir nicht. Wenn ich nur wüsste, wo. Arbeiten Sie vielleicht im Werk?“

„Nein.“

Diese knappe Antwort gefiel Robert. Sie beantwortete nur seine Frage, ohne hinzuzufügen, wo sie beschäftigt war.

„Ist ja auch weiter nicht wichtig.“

„Wie steht es mit dem Futtergeld für die Hunde? Mein Vater bekommt zwanzig Mark im Monat. Das ist viel zu wenig.“

„Was Sie nicht sagen.“ Ihr energischer Ton ließ Mattern belustigt den Mund verziehen. „Wie viel möchten Sie haben?“

„Das doppelte.“ Else Petermann schaute ihn fest an. Sie war noch jung, wahrscheinlich ungefähr in Marions Alters, aber ein ganz...