Bergkristall 302 - Heimatroman - Sie liebte ihren Lebensretter

von: Maria Fernthaler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732559916 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Bergkristall 302 - Heimatroman - Sie liebte ihren Lebensretter


 

Lachen und übermütige Zurufe folgten dem Mann im gelben Skianzug, der etwas mühsam seine Skier um die Torstangen zu lenken versuchte und dabei den einen oder anderen Stock ausließ. Erschöpft blieb er unten am Ziel stehen und sah hinauf zum Start, wo eine Gruppe junger Mädchen wartete. Aus seinem Anorak holte er eine Stoppuhr und winkte hinauf.

„Los, die Erste muss hinunter. Gaby hat die Nummer eins.“

Ein rundliches Mädchen schob sich nach vorn. Das Gesicht mit den vielen Sommersprossen war vor Eifer gerötet. Sie kam allerdings nicht weit, nahm eine der Torstangen mit und stürzte. Voller Wut hieb sie mit dem Skistock in den Schnee.

Eine nach der anderen fuhren die Mädchen nun nach unten, mal gut und elegant, mal unbeholfen und ängstlich. Schließlich stand nur noch eine oben und wartete auf das Startzeichen.

Gaby unten im Ziel neben dem Lehrer maulte ein wenig: „Bestimmt macht Silvia wieder das Rennen. Es macht gar keinen Spaß zu fahren, wenn sie dabei ist.“

Dr. Hofner warf ihr einen strafenden Blick zu.

„Solches Gerede mag ich nicht, Gaby. Silvia fährt nun einmal am besten, und wir sollten ihr den Sieg gönnen. Aber schaut, da kommt sie schon.“

Wie keine andere nahm das Mädchen Silvia die Torstangen. Einem Wirbelwind gleich fuhr sie in eleganter Haltung, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Die Kameradinnen sahen ihr bewundernd zu und klatschten, als sie mit Schwung durchs Ziel fuhr. Es gab keinen Zweifel: Sie hatte auch in diesem Jahr wieder das Rennen gemacht. Zum letzten Male heuer, denn für die Mädchen war nach den Ostertagen die Schulzeit zu Ende. Sie hatten ihr Abitur gemacht und würden nach dieser letzten Klassenfahrt in die Berge auseinandergehen.

„Bravo, Silvia!“ Dr. Hofner schlug dem Mädchen kameradschaftlich auf die Schulter. „Du hast es wieder einmal geschafft.“

Silvia Rieger hatte den auffälligen roten Skihelm von den dunklen Locken gezogen, die jetzt weit über die Schultern fielen. Ihre dunklen, samt schimmernden Augen strahlten, während die Kameradinnen ihr gratulierten.

„Dieser Sieg wird gefeiert“, rief sie laut, „ich lade euch alle zu einem Glühwein in die Almhütte ein!“

Der Lehrer nickte zustimmend.

„Dann aber los, lange können wir uns nicht mehr Zeit nehmen. Es wird bald dunkel, und sicher wird es wieder zu schneien anfangen. Und für die Abfahrt brauchen wir eine gute halbe Stunde.“

Sie stellten ihre Skier zusammen in den Schnee. Während er hinter den Mädchen zu der Hütte am Rande der Piste stapfte, dachte Dr. Hofner über seine Gruppe nach. Gaby zum Beispiel war zweifellos eine seiner besten Schülerinnen, und doch war sie anders, so, als gehöre sie gar nicht zu dem lustigen Haufen, der seit zehn Jahren beinahe unzertrennlich war. Sie verstand sich nicht mit Silvia Rieger, und hierfür wusste der junge Lehrer auch den Grund. Gaby kam aus ärmlichen Verhältnissen, sie musste nebenbei noch mehrere kleine Geschwister versorgen, weil die Mutter berufstätig war. Silvia hingegen war das einzige Kind des schwerreichen Fabrikanten Rieger. Vor wenigen Wochen war durch die Presse gegangen, dass sie sich nach Schulabschluss mit Rainer König, dem Sohn des Stadtkämmerers, verloben sollte.

Aber wozu machte er sich Sorgen? Nur noch wenige Tage, dann würden sich die Mädchen eh nicht mehr sehen.

Es war sehr lustig in der gemütlichen Hütte, und nach einem Glas voll heißem Wein wurde den Mädchen, die den ganzen Tag über im Freien gewesen waren, schön warm. Abends wollte Dr. Hofner noch mit ihnen zum Tanzen gehen als schöner Abschluss des Tages.

Als sie schließlich wieder draußen vor der Hütte standen, sah der Lehrer erschrocken zur Uhr. Er hatte sich wieder einmal von seinen Mädchen einwickeln lassen und zu spät zum Aufbruch gemahnt.

„Nun aber nichts wie hinunter“, befahl er, und schnell schnallten sich die Mädchen die Ski wieder an. „Wir nehmen die Abfahrt über das Hörndl, die ist nicht so steil. Bitte alle zügig hinter mir herfahren.“

Nach der Pause war der Schwung der Mädchen allerdings deutlich erlahmt. Sie kamen nur langsam vorwärts, und Silvia, die als Letzte fuhr, schüttelte den Kopf. Die andere Abfahrt war viel schneller, und sie war eine geübte Fahrerin. Unten würde sie die anderen dann wieder treffen.

Das Schneien hatte sich verstärkt, und Silvia suchte in ihrem Anorak nach der Schneebrille. Keine hatte sich umgedreht, sie sah die Mädchen und den Lehrer unter sich immer kleiner werden. Dann schwang sie auf den anderen Hang ab. Er war menschenleer. Sie war ihn schon einige Male gefahren und kannte seine Tücken. Allerdings war er jetzt in der Dämmerung schwieriger zu nehmen. Die Piste war vereist, die Temperaturen waren wieder gesunken.

Sie war etwa fünf Minuten gefahren, als sie vor sich eine Nebelwand sah. Erschrocken blieb sie stehen, damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht einmal mehr die Hand vor Augen konnte man sehen, während mehrere Meter oben noch alles klar war. Es hatte jetzt auch keinen Sinn, wieder hinaufzusteigen. Der Nebel würde auf jeden Fall schneller sein.

Wenn sie vor Einbruch der völligen Dunkelheit unten sein wollte, musste sie da hindurch. Langsam fuhr sie an, in den Nebel hinein. Sie sah keine Pistenmarkierungen mehr und auch nicht die Felsen am Rand des Schneefeldes. Sie fuhr auf gut Glück mit einigem Herzklopfen.

Plötzlich hatten die Skispitzen vorne keinen Halt mehr, keinen Schnee mehr unter sich. Es musste die Schlucht sein, vor der sie jetzt stand. Tränen liefen ihr über die kalten Wangen. Über sich sah sie einen Felsvorsprung. Zu ihm musste sie gelangen, dort konnte sie sich unterstellen. Sie schnallte die Ski ab und trat auf den Schnee, die Stöcke in der Hand. Ein Ski machte sich selbstständig und verschwand im Nebel.

Das Mädchen tastete sich zu dem Felsvorsprung. Hier war sie vor dem Schnee sicher, aber nicht vor Kälte und Dunkelheit. Bange sah sie hinauf zum verhangenen Himmel, wo jetzt die ersten Sterne sichtbar wurden. Wann würden die unten sie vermissen und suchen? Jetzt konnte ihr nur noch der Herrgott helfen, dass es nicht zu spät sein würde …

***

„Dank dir schön, Thomas, dass du mir das Dach noch repariert hast.“ Der Hüttenwirt, ein alter Mann mit weißem Bart, schenkte ein Schnapsglas bis zum Rand voll. „Wenn ich einen vom Dorf hätt heraufkommen lassen müssen, wär eine Woche vergangen, und wir hätten die Stube net derheizen können.“

Thomas Bruckner streckte sich lachend. Er hatte dem alten Josl gern geholfen, für den Mann wäre es zu schwierig gewesen, bis hinauf aufs Dach zu steigen und die undichten Stellen auszubessern. Er schaute auf die Uhr.

„Ich muss hinunter, es ist höchste Zeit. Gib mir bitte eine Lampe mit, dann kann ich die steile Abfahrt nehmen und bin schneller unten.“

„Hast es wohl eilig, zu deinem Schatz zu kommen?“ Der Alte grinste und zeigte seinen einzigen Zahn, den er noch im Mund hatte. „Wann soll denn die Hochzeit sein mit der Liesel?“

Der junge Skilehrer grinste.

„Bald schon, Josl, nur wollen wir eine schönere Zeit abwarten. Im Mai vielleicht.“

„Ich freu mich mit dir, Thomas. Ist was Wahres dran an dem Gerede, dass du dann schon im nächsten Winter die Skischule von der Liesel ihrem Vater übernehmen sollst?“

Thomas schüttelte ein wenig unwillig den Kopf.

„Dass die anderen sich immer den Kopf über mein Leben zerbrechen müssen! Erst hat es geheißen, ich nehm die Liesel nur, weil ihr Vater die Skischule hat, und jetzt soll ich sie auch schon übernehmen. Nein, das wird noch eine gute Weile dauern.“

Der Alte sah den jungen Burschen blinzelnd an.

„Er kann aber auch stolz auf seine Liesel sein, der alte Festl, weil sie sich gerade den besten von den Skilehrern ausgesucht hat.“

Thomas winkte ab und band sich die große Lampe um seinen Skianzug.

„Also, behüt dich, Josl, bis morgen. Vielleicht streich ich noch einmal ein bisserl Teer über die Schindeln.“

Der alte Mann nickte und machte sich ans Aufräumen, zusammen mit seiner Frau, die den hilfsbereiten jungen Mann ebenfalls in ihr Herz geschlossen hatte.

„Er schaut am besten aus von all unseren jungen Burschen, und gefällig ist er auch. Das ist net so häufig heutzutag“, sagte sie oft.

Für Thomas war der plötzliche Nebel nichts Außergewöhnliches. Schon oft hatte er um diese Stunde die Abfahrt gemacht. Er hielt sich immer ein bisserl länger oben bei den Hüttenbesitzern auf, ganz einfach, weil er die beiden Alten gernhatte und es ihm Freude machte, ihnen ab und zu helfen zu können.

Plötzlich war es ihm, als dränge aus dem Nebel eine Stimme zu ihm herauf. Er bremste ab und lauschte. Mit seiner Lampe leuchtete er die nächtliche Umgebung ab. Nebel, wohin er auch sah. Und dann wieder dieser seltsame Ton, der wie der Hilferuf eines Menschen klang. Sollte jemand noch im Nebel diese Abfahrt gewagt haben? Was für ein unbeschreiblicher Leichtsinn. Diese Abfahrt war schon bei günstigem Licht sehr schwierig.

Dort drüben war die Schlucht, der Hang nahm damit ein jähes Ende. Und genau aus dieser Richtung schien der Hilferuf zu kommen. Er musste die Ski abschnallen, in den Schnee stecken und hinüber zu den Felsen stapfen.

Die Rufe waren verstummt. Ein eisiger Wind wehte Thomas den Schnee ins Gesicht, und seine Hände froren trotz der dicken Handschuhe. Aus dem Nebel tauchten die zackigen Felsvorsprünge auf. Mit der einen Hand hielt er sich dran fest, mit der anderen hielt er die Lampe.

„Hallo!“ Jetzt war er es, der rief, und...