Mein heller Abgrund - Gedanken zum Leben für alle Sterblichen dieser Welt

von: Christian Wiman

adeo, 2018

ISBN: 9783863347956 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 13,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Mein heller Abgrund - Gedanken zum Leben für alle Sterblichen dieser Welt


 

MEIN HELLER ABGRUND

Mein Gott, mein heller Abgrund,
in den all mein Sehnen nicht gehen will,
wieder komme ich an den Rand all meines Wissens,
und nichts glaubend glaube ich an dies:

***

Hier endet das Gedicht. Besser gesagt, es scheitert. Denn in den Jahren, seit ich diese Strophe geschrieben habe, versuche ich, meinen Weg hin zu seinem Abschluss zu erspüren, zu erzwingen. Doch unser Wille ist für Gedichte generell nicht besonders empfänglich und dieses erweist sich aus ganz offensichtlichen Gründen als besonders störrisch. Als wäre es nicht schon schwer genug, meinen Glauben in Worte zu fassen, scheine ich ihn durch einen einzigen Vierzeiler destillieren zu wollen. Nach wie vor kenne ich so meinen Verstand, dass ich mich vortaste durch den Klang der Worte zu den Vorstellungen, die sie schaffen. Und durch diese zu Ansichten des Lebens, die darüber hinausgehen. Ich habe immer an dieses „Darüber-hinaus“ geglaubt, selbst in den langen Jahren, in denen ich Gott nicht anerkennen wollte. Insofern hatte ich für das Gedicht etwas Ähnliches erwartet. Ich wollte, dass sich vor mir ein Bild auftut, das sowohl meinen wankenden Glauben festigt, sich aber auch darüber hinaus verzweigt, um mehr auszudrücken, als ich selbst sagen kann.

***

Ehrlich gesagt, ich sehne mich derzeit danach, deutlicher auszudrücken, was es ist, das ich glaube. Es ist nicht so, dass ich poetischer Wahrheit müde wäre oder dass ich das Gefühl hätte, sie wäre irgendwie schwächer oder weniger wahr als die Vernunft. Das Gegenteil ist der Fall. Die Inspiration ist für das Denken, was die Gnade für den Glauben ist: sich einmischend, transzendent, sich verändernd, aber auch flüchtig und allzu oft ungewöhnlich. Ein Gedicht kann gleichzeitig seinen Verfasser sowohl von der Existenz tiefer ergriffen machen als auch in erheblicher Weise von ihr entfremden, was es bezogen auf den Akt, ein Ende zu finden – angesichts einer Welt, die Grenzen zu sprengen scheint und letztlich doch bloß wieder zur Welt wird –, sehr schwierig macht, in dem ursprünglichen Moment der Inspiration überhaupt einen Glauben zu bewahren. Schließlich können die Erinnerung an dieses kurzzeitige Auflodern und die Kunst, die davon ausging, zu einem Tadel werden für das feuerlose Leben, in dem man sich die meiste Zeit befindet. Bei der Gnade verhält es sich nicht anders. (Künstlerische Inspiration ist manchmal ein Gnadenakt, wenn auch bei Weitem nicht immer.) Gnade zu erfahren, ist das eine, sie ins eigene Leben zu integrieren, etwas ganz anderes. Wonach ich mich momentan sehne, ist aber diese Integration – eine Sprache zu finden, die der transzendenten Natur der Gnade gerecht wird und doch der harten Realität, in der Glaube täglich stattfindet, angemessen ist. Ich sehne mich vermutlich nach der Poesie und der Prosa des Erkennens.

***

Als ich jung war, ungefähr zwölf Jahre alt, hatte ich eines Morgens in der Kirche eine „Erfahrung“. Ich setze das Wort in Anführungszeichen, weil die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, zwar eine deutliche Sprache besaß, um zu erklären, was mit mir passierte (ich wurde vom Heiligen Geist erfüllt, ich wurde erlöst), aber ich empfinde diese Sprache nicht mehr als zutreffend oder hilfreich, wenn ich daran denke, wie sich Gott – männlich, weiblich oder göttlich oder welches hilflose Adjektiv man auch immer verwenden mag – in der Realität und im Leben eines Einzelnen offenbart. Außerdem erinnere ich mich nicht wirklich an dieses Erlebnis. Ich erinnere mich, dass es passierte, aber nur so wie in dem halb wachen, sedierten Zustand nach einer kleineren Operation. Ich erinnere mich, zum Objekt von Staunen und Beifall Erwachsener geworden zu sein, aber schon damals kam mir das Kind, das diese Erwachsenen beschrieben, das weinte, zitterte und sich im Keller der Kirche eng zusammengerollt hatte, fremd vor.

Ich wuchs in einer flach gebauten, kleinen, sandgestrahlten Stadt in West-Texas auf: mit Ölbohrtürmen und Pick-ups, Baumwolle so groß wie geerdete Wolken, einer verlassenen Straße, einer betriebsamen Müllhalde und über allem ein riesiges, blaues und grenzenloses Nichts, das mir nie wirklich auffiel, bis ich wegging, und es begann, sich besorgniserregend in meinem Inneren auszubreiten. Diesen Ort überwiegend christlich zu nennen, ist, wie die Sahara als überwiegend sandig zu bezeichnen: Ich begegnete keinem einzigen wirklich Ungläubigen – bis zu meinem ersten Tag am College in Virginia, als ein beängstigend cooler Studienanfänger, der von einer Privatschule kam, seinen Atheismus genauso beiläufig erwähnte, als spräche er von seinem Lieblingsessen. Auch wenn ich gegenwärtig meine eigene Art von belesenem Atheismus akzeptieren würde – mit, ach, Bekehrungseifer natürlich –, hätte ich in diesem Moment damals nur noch schockierter sein können, wenn dieser Student angefangen hätte, den Kopf rundherum zu drehen und aramäisch zu sprechen.

Das Inseldasein, das meinen Schock ermöglicht hatte, ist zweifellos genau das, was Gott möglich machte – als eine spürbare Realität, die geneigt ist, zu handeln und einzugreifen, eine ahnungslose Seele wie eine Unwetterfront heimzusuchen. Das war, laut meiner Familie, an jenem Tag in der Kirche geschehen, als ich beim Aufruf, mich erlösen zu lassen, aufstand und, statt zum Altar und in die ausgebreiteten Arme des Pastors zu gehen, aus dem Gottesdienst floh und im Keller landete. Welche innere Anspannung erfasste mich derart, dass ich nicht ruhig bleiben konnte? Welche Liebe oder welches Urteil überwältigte mich dermaßen, dass ich nicht sprechen konnte? Schließlich fand mich, unzusammenhängende Worte murmelnd, weinend und wie in Ekstase, mein Vater. Niemand zweifelte an dem, was mit mir passiert war, noch spielte es eine Rolle, dass ich selbst keine Ahnung davon hatte. Ich war genauso heimgesucht worden wie einst Jakob oder Maria. Ich war berufen und erfüllt worden.

Es passt irgendwie, dass die intensivste geistliche Erfahrung meines Lebens wie ein Traum aus meinem Gedächtnis verschwunden ist (und damit ähnelt sie dem Leidvollen, das mich aus der Kirche getrieben hat, die mich doch offenbar so auf diesen Moment hin vorbereitet hatte). Dieser Moment bedeutet mir heute nichts, und ich neige dazu, ihn rational wegzuerklären: Ich wuchs in einer Kultur auf, die Jugendliche zu einer Bekehrung ermutigte – zu einer Bekehrung im Stillen, aber trotzdem zu einer Bekehrung. Allerdings sollte diese zeitlich so liegen, dass sie mit der Taufe eines Menschen zusammenfiel, was für Baptisten erst dann geschehen konnte, wenn man alt genug war, um zu verstehen, wozu man sich verpflichtete. Ich wurde also durch die Kultur erstklassig darauf vorbereitet, etwas zu erleben. Und dann verschworen sich meine eigene unterdrückte Fantasie und lang gehegte Langeweile, um auf diese geschürte Erwartung mit einem ausgesprochenen Entzücken zu antworten. Kurz gesagt: Ich habe es vorgetäuscht.

Doch diese Erklärung wirft Probleme auf. Denn es entspricht erstens ganz und gar nicht meiner Natur, theatralisch zu sein, die Bereitschaft zu haben, meine Gefühle ins Rampenlicht zu stellen und diese ungezügelt auszudrücken. Das alles fühlt sich für mich unangenehm an, selbst dreißig Jahre später. Auch ist es unwahrscheinlich, dass man eine solch simulierte Erfahrung einfach vergessen würde (bzw. könnte). Könnten all die dafür nötigen Überlegungen, die einstudierte Ausführung, die ganze Aufregung und Sorge der anderen Menschen tatsächlich einfach so in Vergessenheit geraten?

Natürlich gibt es da noch eine andere Möglichkeit: Die Erfahrung war echt. Zu echt. Doch nicht in dem Sinn wie Traumata, die wir deshalb in uns vergraben, sondern in einem anderen, zellenartigen Sinn – als ein vollständiges Sein, an das ich mich nicht erinnern kann, weil ich mich ihm nicht entziehen kann, weil ich kein „Ich“ finde, von dem aus ich mein Selbst sehe, das ich einen Moment lang war. Oder das ich nicht war. Angenommen, man würde von der Ewigkeit berührt, wenn einem also das ganze Drumherum von Zeit und Selbst genommen würde und man ganz Seele wäre, wenn Gott einem quasi so „passiert“ wäre – ist es dann nicht möglich, dass sich diese Erfahrung nicht mehr in das Land der Bohrtürme und Pick-ups zurückübersetzen ließe, in unsere tägliche Routine, in der wir Worte wie Selbst und Seele, Offenbarung und Bekehrung ganz selbstverständlich benutzen, so als wüssten wir, was diese bedeuten? Vielleicht habe ich es gar nicht „vergessen“. Vielleicht ist es auf zellulärer Ebene passiert – und passiert fortwährend weiter – und bedeutet mir nicht nichts, sondern alles. Vielleicht erinnere ich mich wie an einen atavistischen Impuls nicht daran, aber es erinnert sich an mich.

***

Kehrt man nach langem Umherirren zum Glauben seiner Kindheit zurück, tendieren Menschen, die völlig säkular orientiert sind, dazu, diesen Schritt abzutun oder ihn zumindest zu missbilligen. Sie sagen, er sei „psychologisch motiviert“. Dieser Motivation, das versteht sich von selbst, ist man sich selbst nicht bewusst. Wie es der Zufall will, hegt man selbst aber auch diesen Verdacht. Und dieser nagt an der Intensität der Erfahrung, die einen veranlasst hat, wenn auch still, seinen wiedergefundenen Glauben zu bekennen, sodass man sich schon bald in Argumenten zwischen Religion und Wissenschaft, Theologie und Geschichte gefangen sieht und versucht, die Glaubenslehre wie ein riesiges, zerrissenes Zelt im Wind zu befestigen.

Letztlich gibt es keine Möglichkeit, „zum Glauben der eigenen Kindheit zurückzukehren“, es sei denn, man erwacht aus einem jahrzehntelangen und absolut wörtlichen Koma. Glaube verhält...