Lied der Weite

von: Kent Haruf

Diogenes, 2018

ISBN: 9783257608656 , 400 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 11,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Lied der Weite


 

{40}Victoria Roubideaux


Der Abend war noch nicht kalt, als das Mädchen aus dem Café kam. Aber die Luft wurde schon scharf, eine herbstliche Ahnung bevorstehender Einsamkeit. Etwas Seltsames lag in der Luft.

Sie ließ das Zentrum hinter sich, überquerte die Gleise und ging in der zunehmenden Dunkelheit heimwärts. Die großen Kugeln an den Straßenecken waren schon zitternd angegangen und warfen blaue Lichtpfützen auf Bürgersteige und Straße, und an den Vorderseiten der Häuser brannten die Lampen über den geschlossenen Türen. Sie bog in das schmale Sträßchen ein, ging an den niedrigen Häusern vorbei und stand bald vor ihrem Zuhause, das ihr unnatürlich dunkel und still vorkam.

Sie probierte es an der Haustür, aber sie war verschlossen. Mama?, sagte sie. Sie klopf‌te einmal. Mama?

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch das schmale Türfenster. Hinten war schwaches Licht zu sehen. Im Flur brannte eine einzelne, nackte Glühbirne.

Mama. Lass mich jetzt rein. Hörst du mich?

Sie packte den Türknauf, zog und drehte daran, klopf‌te an das Fensterchen, dass die harte kleine Scheibe klirrte, aber die Tür war und blieb zu. Dann ging das schwache Flurlicht aus.

{41}Mama. Bitte nicht. Bitte.

Sie klammerte sich an die Tür.

Was soll das denn? Es tut mir leid, Mama. Bitte. Hörst du mich nicht?

Sie rüttelte an der Tür, lehnte den Kopf dagegen. Das Holz fühlte sich kalt an, hart, sie war müde jetzt, ganz plötzlich erschöpft. Eine Art Panik bahnte sich an.

Mama. Bitte nicht.

Sie sah sich um. Häuser und kahle Bäume. Sie ließ sich in der Kälte auf den Verandaboden sinken, lehnte den Rücken an die kalten Bretter der Hauswand. Ihr war, als verflüchtigte sie sich, als wanderte sie ziellos umher in kummervoller, ungläubiger Benommenheit. Sie schluchzte ein wenig. Sie starrte zu den stillen Bäumen hinaus, auf die dunkle Straße, zu den Häusern gegenüber, in denen sich Menschen in den hellen Zimmern ganz normal bewegten, und wenn der Wind seufzte, wanderte ihr Blick hinauf in die schwankenden Bäume. Sie saß da, schaute hinaus, rührte sich nicht.

Dann riss sie sich zusammen.

Na gut, Mama, sagte sie. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Ich gehe.

Auf der Straße fuhr langsam ein Auto vorbei. Die Insassen, ein Mann und eine Frau, schauten zu ihr her, drehten die Köpfe in ihre Richtung.

Mit einem Ruck erhob sie sich von der Veranda, zog die dünne Jacke enger um ihren schmächtigen Körper, ihre Mädchenbrust, und ging vom Haus weg, auf die Stadt zu. Es war jetzt ganz dunkel, und es war kalt geworden. Die Straßen waren fast menschenleer. Einmal kam ein Hund bellend hinter einem Haus hervor auf sie zu, und sie hielt ihm {42}die Hand hin. Der Hund wich zurück und bellte, sein Maul ging auf und zu wie von einem Federwerk angetrieben. Hier, sagte sie. Er kam misstrauisch näher und schnupperte an ihrer Hand, doch als sie sich bewegte, fing er gleich wieder an zu bellen. In dem Haus gingen die Lichter an. Ein Mann tauchte in der Tür auf und schrie: Verdammt noch mal, komm rein! Der Hund drehte sich um und trottete aufs Haus zu, blieb stehen, bellte noch einmal und lief hinein.

Sie ging weiter. Wieder überquerte sie die Gleise. Vor ihr sprang die Verkehrsampel bei der Second Street ungeachtet der späten Stunde von Rot auf Gelb auf Grün, die Farben leuchteten über dem schwarzen Asphalt. Sie ging an den dunklen Geschäften vorbei und schaute ins Fenster des Cafés, wo die Tische feinsäuberlich aufgereiht standen und die Pepsi-Leuchtreklame an der Rückwand die ordentlich gespülten Gläserstapel auf der Theke beschien. Sie lief die Main Street entlang bis zur Landstraße, überquerte sie und kam am Gas and Go vorbei, an den unbeaufsichtigten Zapfsäulen unter den hellen Lampen. Drinnen las der Tankwart an der Theke in einer Zeitschrift. Sie bog an der Ecke ab und kam, drei Querstraßen von der Schule entfernt, zu dem Holzhaus, in dem Maggie Jones wohnte.

Sie klopf‌te an die Tür und wartete stumpf. Sie war sich keiner Gedanken bewusst. Nach einiger Zeit ging über ihr die gelbe Verandalampe an.

Maggie machte die Tür auf. Sie war im Bademantel, ihr schwarzes Haar war zerzaust. Sie hatte schon geschlafen. Ihr Gesicht wirkte schlichter als am Tag, unscheinbarer ohne Make-up, ein bisschen aufgeschwemmt. Ihr {43}Bademantel, den sie nicht zugebunden hatte, war aufgegangen, als sie die Tür geöffnet hatte, darunter trug sie ein weiches gelbes Nachthemd.

Victoria? Bist du’s?

Mrs. Jones. Könnte ich Sie bitte sprechen?, sagte das Mädchen.

Aber natürlich, Schätzchen. Was ist denn passiert?

Das Mädchen trat ins Haus. Sie gingen durch das vordere Zimmer, und Maggie nahm eine Decke von der Couch und legte sie dem Mädchen um die Schultern. Dann saßen sie eine Stunde lang in der Stille der Nacht am Küchentisch, redeten und tranken heißen Tee, während überall um sie herum die Nachbarn schliefen, in ihren Betten ein- und ausatmeten und träumten.

Das Mädchen saß am Tisch und wärmte sich die Hände an der Teetasse. Nach und nach hatte sie angefangen, von ihrem Freund zu erzählen. Von den Nächten auf dem Rücksitz in seinem Auto, draußen auf einem Feldweg, fünf Meilen nördlich der Stadt, wo eine alte graue Scheune und eine kaputte Windmühle standen und ein paar niedrige Bäume sich dunkel vor dem dunklen Himmel abzeichneten, wo der Nachtwind durch das offene Autofenster hereinkam und nach Salbei und Sommergras roch. Und dann von der Liebe. Darüber sprach sie nur ganz kurz. Sein Geruch, wenn er nahe bei ihr war, sein Af‌tershave, seine Hände auf ihrer Haut, dann das Ungestüme, und hinterher manchmal das ruhige Reden für ein Weilchen. Und anschließend die Fahrt nach Hause.

Ja, sagte Maggie. Aber wer war er?

Ein Junge.

{44}Ja, natürlich, Schätzchen. Aber wer genau?

Das möchte ich nicht sagen, sagte das Mädchen. Er würde das Kind sowieso nicht wollen. Er würde keine Ansprüche stellen. So einer ist er nicht.

Wie meinst du das?

Er ist nicht der väterliche Typ.

Aber er sollte doch wenigstens ein bisschen Verantwortung übernehmen, sagte Maggie.

Er ist aus einer anderen Stadt, sagte das Mädchen. Ich glaube nicht, dass Sie ihn kennen, Mrs. Jones. Er ist älter. Er ist schon aus der Schule.

Wie hast du ihn kennengelernt?

Das Mädchen sah sich in der blitzsauberen Küche um. Geschirr stand im Trockenständer, unter den glänzenden Hängeschränken reihten sich weiß emaillierte Dosen. Sie zog die Decke enger um die Schultern.

Wir haben uns im Sommer beim Tanzen kennengelernt, sagte sie. Ich hab an der Tür gesessen, und er ist zu mir gekommen und hat mich aufgefordert. Gut ausgesehen hat er auch. Als er auf mich zukam, hab ich zu ihm gesagt, ich kenn dich ja nicht mal. Er sagte: Wozu auch? Aber wer bist du?, hab ich ihn gefragt. Ist das wichtig? Das spielt doch keine Rolle. Ich bin einfach irgendeiner, der dich bittet, auf die Tanzfläche zu kommen und mit ihm zu tanzen. So hat er manchmal geredet. Also hab ich gesagt: Na gut. Sehen wir mal, ob du tanzen kannst, egal, wer du bist, deinen Namen willst du mir ja nicht sagen. Ich bin aufgestanden, er hat meine Hand genommen und mich auf die Tanzfläche geführt. Er war noch größer, als ich gedacht hatte. Da hat’s angefangen. So hat’s angefangen.

{45}Weil er ein guter Tänzer war, sagte Maggie.

Ja. Aber Sie verstehen nicht, sagte das Mädchen. Er war nett. Er war nett zu mir. Er hat mir nette Sachen gesagt.

Ach ja?

Ja. Er hat mir nette Sachen gesagt.

Was denn zum Beispiel?

Zum Beispiel hat er mal gesagt, dass ich schöne Augen habe. Er hat gesagt, meine Augen sind wie schwarze Diamanten, die in einer Sternennacht leuchten.

Das stimmt, Schätzchen.

Aber das hatte mir noch nie einer gesagt.

Nein, sagte Maggie. Das tun sie nie. Sie schaute durch die offene Tür ins andere Zimmer. Sie nahm ihre Teetasse, trank und stellte sie wieder hin. Sprich weiter, sagte sie. Willst du mir auch den Rest erzählen?

Von da an hab ich mich öfter mit ihm im Park getroffen, sagte das Mädchen. Da hat er mich immer abgeholt. Gegenüber von den Getreidesilos. Ich bin zu ihm ins Auto gestiegen, und wir sind auf der Landstraße zu Shattuck’s gefahren und haben uns was zu essen gekauft, Hamburger oder so was, und dann sind wir eine Stunde lang mit offenen Fenstern übers Land gefahren und haben uns unterhalten, und er hat lustige Sachen gesagt, und das Radio war auf Denver eingestellt, und die ganze Zeit kam die Nachtluft herein. Und irgendwann sind wir dann immer zu dem alten Gehöft gefahren und haben da geparkt. Er hat gesagt, es gehört uns.

Aber er hat dich nie zu Hause abgeholt?

Nein.

Hast du das nicht gewollt?

{46}Das Mädchen schüttelte den Kopf. Nein, wegen Mama. Ich hab ihm gesagt, ich will das nicht.

Ich verstehe, sagte Maggie. Sprich weiter.

Da ist nicht mehr viel zu erzählen. Als Ende August die Schule wieder angefangen hat, sind wir noch ein paarmal rausgefahren. Aber dann ist irgendwas passiert. Was, weiß ich nicht. Er hat nichts gesagt. Es kam ohne Vorwarnung. Er hat mich einfach nicht mehr abgeholt. Eines Tages ist er nicht mehr gekommen.

Und du weißt nicht, warum?

Nein.

Weißt du, wo er sich jetzt aufhält?

Nicht sicher, sagte das Mädchen. Er wollte nach Denver. Er hat wen gekannt in Denver.

Maggie Jones betrachtete eine Zeitlang ihr Gesicht. Das Mädchen sah müde und traurig aus, sie hatte die Decke um die Schultern gewickelt wie jemand, der ein Zugunglück oder eine Überschwemmung überlebt hat, trauriges...