Die Beobachterin - Thriller

von: Caroline Eriksson

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641199470 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Die Beobachterin - Thriller


 

2

Meine Schwester kauert vor dem Backofen und späht durch die schmutzige Glasscheibe.

»Jetzt ist sie fertig«, beschließt sie, zupft die Ofenhandschuhe zurecht und öffnet die Ofentür.

Eine Form mit Lasagne landet vor mir auf dem Tisch. Ein schlichter Kopfsalat und Rotwein aus dem Tetra Pak. Genau wie an den vergangenen Freitagen. Sie scheint Lasagne zu mögen, oder sie denkt, dass ich Lasagne mag. Meine Schwester nimmt den Wein und schenkt erst ihr eigenes und anschließend mein Glas voll. Dann nimmt sie mir gegenüber Platz und hält mir das Vorlegebesteck hin.

»Tu dir keinen Zwang an«, sagt sie.

Bald liegen zwei dampfende Portionen vor uns auf den Tellern. Meine Schwester isst mit Appetit. Sie redet über das Wetter, dass es eine Ungeheuerlichkeit sei, wie lange die Frühlingssonne auf sich warten lasse. Nach ihrem Versuch, eine Unterhaltung über eine neue Fernsehserie anzustoßen, von der ich noch nie gehört habe, erkundigt sie sich, wie es mir in dem Reihenhaus gefalle. Ich antworte, dass ich mich noch nicht so richtig eingelebt hätte, aber dass sich das schon finden werde.

Die Worte klingen plump und aufgesetzt. Ich fühle mich wieder so komisch, genau wie vor einer Stunde, als ich zu Hause in der Diele stand, direkt an der Haustür. Ich war schon fertig angezogen, als mich dieses Unwirklichkeitsgefühl überfiel. Das geht nicht, ich kann nicht. Mir wurde klar, dass ich anrufen und absagen musste, dass ich nicht zu dem freitäglichen Abendessen bei meiner Schwester fahren konnte, das sich inzwischen eingebürgert hatte. Dasitzen, essen, Konversation machen und so tun, als wäre alles, wie es sein sollte. Nein. Nicht schon wieder. Nie wieder. Trotzdem bin ich am Ende hingefahren.

»Ja, ja«, sagt meine Schwester. »Du musst dich nicht verpflichtet fühlen. Nur weil ich die Vermieterin kenne.«

Meine Vermieterin ist eine der zahlreichen Freundinnen meiner Schwester. Zurzeit bereist sie die Welt. Das machen die Freunde meiner Schwester so, sie fliegen und fahren herum und leben ihr Leben. Sie und ihr Mann sind auch viel gereist, mal allein und mal mit anderen Paaren. Aber das ist lange her.

»Es ist ja sowieso nur für ein paar Monate«, sagt sie, und ich begreife, dass sie noch immer vom Reihenhaus spricht. Von meinem Leben.

Meine Schwester dreht das Weinglas zwischen zwei Fingern und wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. Sie hat mir schon mal angeboten, hier zu wohnen, bei sich und ihrem Mann, und ich glaube, dass sie drauf und dran ist, ihren Vorschlag zu wiederholen.

»Das wird schon«, sage ich als Antwort auf die Frage, die sie nicht gestellt hat.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie verstohlen auf meinen Teller schaut, auf das Essen, das mehr oder weniger unberührt daliegt. Pflichtschuldig schiebe ich einen Bissen Lasagne in den Mund und spüle ihn mit Wein hinunter, ohne den Geschmack wahrzunehmen. Dann befrage ich meine Schwester zu ihrem Job und gebe mir Mühe beim Zuhören, als sie antwortet. Es geht besser, wenn der Fokus auf ihr liegt anstatt auf mir.

Ich trinke mein Glas aus, und meine Schwester schenkt nach. Der Alkohol tut seine Wirkung, er stumpft scharfe Kanten ab, dimmt und lullt ein. Fast fühle ich mich real.

»Und selbst?«, fragt meine Schwester nach einer Weile.

»Was?«

»Hast du mal über die Zukunft nachgedacht?«

Ich richte den Blick wieder auf meinen Teller, stochere in den Salatblättern herum. Die Zukunft? Die Zukunft liegt bereits hinter mir, denke ich, hüte mich aber, den Gedanken laut auszusprechen. Ich begnüge mich mit einem Schulterzucken, aber meine Schwester lässt nicht locker. Wie es mit der Schreiberei laufe, ob ich ein neues Projekt am Laufen habe? Ich benetze die Lippen und sage, wie es ist. Nein, ich sitze an keinem neuen Projekt.

Meine Schwester beugt sich zu mir vor.

»Du musst wieder an den Schreibtisch«, sagt sie mit Nachdruck. »Arbeit ist die beste Medizin.«

Ich halte inne. Arbeit ist die beste Medizin. Mutters alte Redensart, ihr Mantra. Die Worte, mit denen sie schmunzelnd auf unsere Bemühungen reagierte, wenn wir sie dazu bewegen wollten, sich auszuruhen, sich nicht zu überanstrengen. Worte, die sie permanent wiederholte, bis es rein körperlich nicht mehr möglich war. Bis die Schmerzen ihr nicht mehr erlaubten zu sprechen, geschweige denn sich im Bett aufzusetzen, um zu lesen oder zu schreiben.

Meine Schwester sagt das so neutral, als hätten die Worte keine tiefere Bedeutung für sie. Nichts in ihrer Stimme deutet darauf hin, dass sie sich erinnert. Vielleicht erinnert sie sich ja wirklich nicht mehr. Als Mutter krank wurde, war sie schon lange von zu Hause ausgezogen. Hatte im Ausland gelebt und sich nur selten daheim blicken lassen. Nur in der Endphase war sie öfter zu Besuch gekommen.

Ich blähe meine Lunge auf und halte die Luft an. Erst als mein Brustkorb zu bersten droht, erst als ich keine andere Wahl mehr habe, atme ich aus.

»Nur dass du es weißt, ich arbeite sehr wohl. Die ganze Zeit eigentlich.«

Und das stimmt. Ich nehme so viele Lesungen und Übersetzungen an, wie ich kann.

»Gut, dass du eine Beschäftigung hast. Aber du bist Autorin, Elena. Und eine Autorin schreibt doch, oder? Und stochert nicht nur in Texten von anderen herum.«

Mein Glas ist leer. Schon wieder. Ich starre den Wein an.

»Ich habe nichts, worüber ich schreiben könnte.«

Meine Schwester schenkt Wein nach, steht auf und holt die Ketchupflasche aus dem Kühlschrank.

»Was sagt dein Verleger immer über das Schreiben? Sein Ratschlag? Grab dein eigenes Grab oder so?«

Ein seltsamer Laut, der auch als Lacher hätte durchgehen können, kommt stoßweise über meine Lippen. Meine Schwester runzelt die Stirn, und ich schlage wieder die Augen nieder. Ich bin nicht mehr ganz nüchtern.

»Grab da, wo du stehst«, korrigiere ich leise.

»Ja, ja«, erwidert meine Schwester und greift wieder zum Besteck. »Whatever. Ich weiß jedenfalls, dass du diesen Spruch mehrmals zitiert hast. So bist du doch auch bei deinen bisherigen Manuskripten vorgegangen, oder?«

Ich nicke bedächtig. Große Teile meines Lebens war ich eine Beobachterin, eine Person, die eher zuschaut als aktiv teilnimmt. Das hat mir beim Schreiben geholfen. Ausgangspunkt für meine Erzählungen waren Geschehnisse und Ereignisse, die ich entweder selbst miterlebt habe oder die mir zu Ohren gekommen sind. Die Vorlagen für die Figuren in meinen vier Büchern sind allesamt Menschen aus meinem Umfeld, auch wenn das den Betroffenen nicht klar ist. Man muss sich als Autorin nur einer ganz einfachen Tarnung bedienen, das Alter oder den Beruf ändern, damit sich niemand wiedererkennt und dahinterkommt, dass es im Buch eigentlich um sie geht. Ich habe über Freunde und Arbeitskollegen geschrieben, über Menschen, die mir nahestanden oder die ich nur vom Sehen kannte. Ich habe über meine Eltern geschrieben, sogar über meine Schwester. Allerdings glaube ich nicht, dass sie das überreißt.

»Weißt du noch«, sagt sie plötzlich und strahlt über das ganze Gesicht, »wie ich deine Manuskripte gelesen habe, bevor du sie abgeschickt hast? Das war vor allem am Anfang, als du noch nichts veröffentlicht hattest, aber auch danach. Zumindest bei deinen ersten beiden Büchern. Du hast selbst gesagt, ich hätte kluge Einwände und ich hätte dir geholfen, den Text so gut wie möglich zu machen.«

Obwohl ich das Glas eben erst abgestellt habe, nehme ich es wieder in die Hand. Der Wein rinnt meine Kehle hinab, vollmundig und herb.

»Ich würde das gerne wieder machen«, fährt meine Schwester fort. »Lesen, was du schreibst, meine ich.«

Ihr klebt etwas Ketchup am Kinn, und als ich sie darauf aufmerksam mache, führt sie ihre Serviette zum Gesicht.

»Wie gesagt«, wiederhole ich, während sie sich abtupft. »Es gibt nichts zu lesen.«

»Aber dieser Ratschlag, grab da, wo du stehst, wenn der früher funktioniert hat, kannst du es doch einfach wieder so machen, oder?«

Ich lehne mich im Stuhl zurück.

»Warum ist das denn so wichtig für dich?«

»Weil ich denke, dass du etwas brauchst, eine richtige Aufgabe. Auf die du dich voll und ganz konzentrieren kannst, während du das durchmachst … was du gerade durchmachst.«

Wir sehen uns an. Schließlich macht meine Schwester eine ausholende Geste und murmelt okay, okay. Dann wechselt sie das Thema, hält mir die Ketchupflasche hin und fragt, ob ich nicht noch ein paar Bissen essen wolle, ich hätte das Essen ja kaum angerührt.

Ich erkläre, dass ich keinen Hunger habe, und schiebe den Teller beiseite.

»Wo ist denn Valter heute Abend?«, frage ich, um die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. Weg von mir.

»Beim Bowlen, glaube ich.«

Bisher war ich fest davon ausgegangen, dass meine Schwester und ihr Mann eine gute Beziehung führen, es sah einfach danach aus. Jetzt bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher. Ein verheiratetes Paar, das jeden Freitagabend getrennt voneinander verbringt, ist das nicht ein bisschen merkwürdig? Und dann das mit den Reisen, warum fahren sie nicht mehr gemeinsam in den Urlaub oder ins Wochenende?

Ich betrachte meine Schwester eingehend. Verschweigt sie mir etwas? Vielleicht ist das Verhältnis zwischen ihr und Valter doch nicht so gut?

»Wie geht es ihm denn? Habt ihr …?«

Weiter komme ich nicht, als mich Geräusche aus der Wohnung über uns unterbrechen. Helle Stimmen und Juchzer, gefolgt von einem Poltern.

»Kürzlich eingezogen«, sagt meine Schwester und lächelt, dieses schiefe Grinsen, das so typisch für sie ist. »Drei Kinder, keins älter als sieben.«

Sie verdreht die Augen Richtung Decke, und ich tue so, als würde ich ihrem Blick...