Dein perfektes Leben - Psychothriller

von: Emma Curtis

Diana Verlag, 2018

ISBN: 9783641235840 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Dein perfektes Leben - Psychothriller


 

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Montag, 4. Januar 2010

An diesem Morgen sind die Mädchen früh auf den Beinen, springen in ihren rotbraunen Schuluniformen herum und können es kaum erwarten, nach drei Wochen Ferien endlich ihre Freunde und Freundinnen wiederzusehen. Es ist der erste Schultag. Die Vorboten des Frühlings werden langsam sichtbar, und die ersten Spitzen der Narzissen durchstechen unseren Rasen wie dunkelgrüne Zähne. Tom findet es idiotisch, dass ich die Zwiebeln im Herbst in den Rasen setze, wo die Blumen später zertreten werden können, aber ich mag die Vorstellung, dass sie im Frühjahr mal hier, mal da sprießen, als wären sie einem Beet entlaufen. Außerdem überleben jedes Jahr so viele von ihnen, dass es mir die Sache wert ist. Wenn sie blühen, mag Tom sie auch.

Eine Katze mit rötlichem Fell springt über den Zaun. Ich klopfe an die Fensterscheibe. Die Katze wendet den Kopf, wirft mir einen Blick zu, spaziert davon und hinterlässt die Abdrücke ihrer Pfoten im Tau des Rasens. Der heutige Tag steht für einen Neubeginn, aber ich bin zu erschöpft, um intensiver darüber nachzudenken. Ich weiß, dass es mich schmerzen wird – tut es ja schon –, aber darüber hinaus kann ich noch nichts sagen. Ein Tag nach dem anderen.

Tom kommt mit Josh auf dem Arm die Treppe herunter. Er ist rasiert und angekleidet: rosa-weiß gestreiftes Hemd, Lederhose, Paisley-Socken. Der maßgeschneiderte Anzug und die modisch schmal geschnittenen Schuhe warten in seinem Büro, denn Tom fährt mit dem Motorrad zur Arbeit. Er ist in der Werbebranche tätig und folgt einer Laufbahn, die er nie angestrebt hat, doch mittlerweile ist er damit glücklich. Die Filmgesellschaft, bei der er als Produzent tätig ist, heißt Marzipan. Tom arbeitet in Soho. Es ist ein toller Job, aber er hat auch seine Schattenseiten. Im Sommer herrscht dort Hochkonjunktur, was uns zwingt, in den Osterferien Familienurlaub zu machen. In den Sommerferien miete ich ein Häuschen am Strand von Pagham, wo die Kinder und ich den August verbringen. Die Mädchen würden gern in Bognor Ferien machen, und meine Mutter bietet jedes Mal an, uns in ihrem Bed and Breakfast zu beherbergen, doch das möchte ich nicht, denn dann hätte sie unseretwegen einen Verdienstausfall.

Unser Frühstückswahnsinn beginnt. Die Mädchen zanken sich. Tom versucht, über ihren Lärm und das eingeschaltete Radio hinwegzureden, während ich den Matsch zubereite, der als Babynahrung gilt. Ich mache mich daran, Josh zu füttern. Er sitzt angegurtet auf seinem Hochstuhl, brüllt, schlägt den Löffel fort, dreht sein Gesicht weg und tritt gegen den Tisch. Im Radio debattieren Experten über Immigranten. Polly und Emily streiten sich um die Packung Cornflakes. Tom fährt sie an und lacht, als er Pollys bestürzte Miene sieht. Dann will er sie trösten und wirkt schuldbewusst, als aus Pollys großen, braunen Augen zwei dicke Tränen kullern. Ich tue mein Bestes, um alles zusammenzuhalten, schaufele Brei in Joshs Mund, der zum größten Teil auf dem Fußboden, meinem T-Shirt, dem Tisch und Emilys Haaren landet. Also feuchte ich einen Lappen an und säubere zuerst mich, dann Emily. Josh hebe ich mir bis zuletzt auf, denn das wird wieder ein Kampf. Als wir fertig sind, Emily aufgehört hat zu fragen, was mit Josh los sei, Polly nicht mehr weint und Tom es mit seinem Charme geschafft hat, die Gunst seiner Töchter zurückzugewinnen, scheuche ich die Mädchen zum Zähneputzen nach oben.

Als Emily noch ein Baby war, gab es keine selbstgefälligeren Eltern als Tom und mich. Wenn irgendwelche Freunde darüber klagten, wie erledigt sie seien, wie schwierig das Leben mit einem Kind sei, trafen sich Toms und mein Blick, und wir lächelten einvernehmlich. Wir wussten nicht, was das Theater sollte. Bereits mit acht Wochen schlief Emily nachts durch. Tagsüber war sie hinreißend, jammerte so gut wie nie, erreichte pünktlich jeden Meilenstein in ihrer Entwicklung. Polly war ebenso unproblematisch. Anders als ihre eigenständige Schwester, war sie jedoch am glücklichsten, wenn sie geknuddelt wurde und wie ein kleines Beuteltier an uns hing. Tom und ich beglückwünschten uns erneut.

Und dann kam Josh. Unsere Meinung, wir hätten eine natürliche Begabung, Eltern zu sein, wurde von jetzt auf gleich widerlegt. Wir machten alles wie vorher, benutzten die gleichen Anreize wie bei den Mädchen, doch statt sich wie Emily an die Regeln zu halten oder so sanftmütig wie Polly zu sein, ist Josh ein Rebell. Als Erwachsener wird ihm das vielleicht zugutekommen, doch im Moment bedeutet er vor allen Dingen harte Arbeit. Es gibt Zeiten – wie heute Morgen –, an denen ich verzweifeln könnte.

Hannah, Toms ältere Schwester, sagte mir einmal: »Als Säugling war Tom mehr wie deine Töchter, ein lieber Junge, der gern geschlafen hat. Josh muss nach dir kommen.« Und meine Mutter erklärte: »Du warst genau wie Josh, ein Horrorkind. Aber mach dir keine Sorgen, mit der Zeit bist du ruhiger geworden.«

»Alles okay mit dir?«, fragt Tom.

»Schlecht geschlafen, aber geht schon.«

Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Das verstehe ich.«

Ich lächele unsicher.

»Sieh zu, dass du dich ein bisschen ausruhen kannst. Und kauf dir einen Donut mit Füllung.«

Ich lache, doch als Tom sich umdreht, flüstere ich: »Ich liebe dich.«

Er hört mich nicht, denn Polly hat ihre Arme um seine Beine geschlungen. Tom hebt sie hoch, und die beiden schauen sich mit bedingungsloser, sklavischer Liebe an.

»Kann ich für die Pause einen Schokoriegel haben?«, fragt Emily.

Tom ist vor einer Stunde losgefahren. Pünktlich um halb acht ist er durch die Tür, glatt rasiert und nach Seife riechend. In seiner schwarzen Lederkluft wirkt er voluminös, die schweren Stiefel lassen seine Füße riesig wirken. Während die Mädchen ihre Betten machen, setze ich mich mit Josh ins Wohnzimmer und nehme mir eine kleine Auszeit. Das Wetter ist grauenhaft. In den Autos, die an unserem Haus vorbeirauschen, malen Schulkinder Strichmännchen auf die beschlagenen Scheiben. Im Haus gegenüber öffnet sich die Eingangstür, Kinder und Hunde stürzen heraus. James Boxer läuft unter einem schwarzen Regenschirm zum Bahnhof. Seine Frau Millie jongliert mit zwei Schultaschen. Ihre Füße verheddern sich in den Leinen der beiden Dackel, die aufgeregt hin und her rennen. Das Baby liegt im Kinderwagen, die beiden Jungen sind damit beschäftigt, ihr Frühstücksbrot zu essen, ihre Haare noch vom Schlaf zerwühlt. Ich muss langsam in die Gänge kommen. Weiter unten auf der Straße lässt jemand den Motor seines Wagens aufheulen, ein ums andere Mal.

Was wird David gerade machen? Wahrscheinlich das Gleiche wie Tom vorhin, nämlich seine Frau und Tochter zum Abschied küssen und sich auf den Weg zur Arbeit begeben. Die Erinnerung an sein durchtriebenes Lächeln trifft mich wie ein Messerstich, so scharf, dass meine Lider zucken. Ich brauche Zeit, um mit dem, was geschehen ist, fertig zu werden. Da ich kein Teenager mehr bin, fehlt mir der Luxus, mich in mein Zimmer zu verkriechen und schnulzige Popsongs zu hören, was sehr schade ist.

Hinter mir spielt Josh auf dem Fußboden mit bunten Bauklötzchen aus Kunststoff. Er wirft eines davon, es prallt gegen das Kamingitter und rollt unter einen Sessel. Josh wird langsam mobil, legt sich auf die Seite und späht in den dunklen Hohlraum unter dem Sessel. Ich bücke mich und hole das Klötzchen hervor.

»Mummy!«

Wie lange steht Emily schon da? Ich konzentriere mich und erinnere mich an die Frage, die ich mit halbem Ohr gehört habe. Schokoriegel.

»Ja. Pack auch für Polly einen ein. Zieh deine Schuhe an und sieh nach, wo Pollys Schuhe sind. Sobald ich Josh fertig gemacht habe, geht’s los.«

»Polly soll ihre Schuhe selber suchen. Sie ist doch kein Baby mehr.«

Emily reckt bockig das Kinn vor und zieht die Brauen zusammen. Am liebsten würde ich über ihre gefurchte Stirn streichen und sie glätten. Über Emily könnte ich manchmal lachen. Ihre Selbstgerechtigkeit und überlegene Miene, ihre Strenge, selbst wenn es um Banalitäten geht, ihre höhere Vorstellung von dem, was richtig und falsch ist, all das ist zu komisch. Aber ich lache nicht, denn wenn es um ihre Würde geht, fehlt Emily jeglicher Sinn für Humor.

»Bitte, Emily. Du würdest mir sehr helfen. Wenn wir warten, bis Polly ihre Schuhe findet, kommen wir zu spät.«

Emily fällt die Kinnlade runter. »Ich will nicht zu spät kommen.«

Sie rennt aus dem Zimmer und ruft nach Polly. Ich nehme Josh auf und verfrachte ihn in seinen Schneeanzug. Das bringt ihn in Rage. Zum Dank für meine Mühen haut er auf mein Ohr. Mir steigen Tränen in die Augen.

Als wir an der Schule angelangt sind, kommen mehr Menschen aus dem Eingangstor heraus, als mit uns hineingehen. Eine fröstelnde Hilfslehrerin mit aufgespanntem Regenschirm streckt die Hand aus, damit die Kinder sie schütteln können. Verstohlen schaue ich mich nach David um, aber ohne großes Herzflattern. Die Chance, dass er morgens an der Schule auftaucht, geht gegen null.

»Vicky!« Imogen Parker marschiert auf mich zu, die Zwillinge im Schlepptau. »Wie war dein Weihnachten?«

Ich knipse mein Lächeln an. »Schön. Einfach wundervoll. Und wie war es bei euch?«

Millie Boxer tritt zu uns und auch Charlotte Grunden, die aussieht, als müsste ihr Baby jeden Moment kommen; dann Amber, bereits professionell gekleidet, in schickem Trenchcoat, hohen schwarzen Stiefeln, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Plötzlich scheint mir alles gar nicht mehr so schrecklich zu sein. Diese Frauen sind meine Freundinnen. Ich...