Die Frau, die frei sein wollte - Roman nach einer wahren Geschichte

von: Hera Lind

Diana Verlag, 2018

ISBN: 9783641203122 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 10,99 EUR

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Die Frau, die frei sein wollte - Roman nach einer wahren Geschichte


 

1

Köln, Sommer 1979

Nebenan parkte ein gelber BMW.

»Baba, kennst du den?« Interessiert beugte ich mich aus dem Schaufenster unserer Lederkleidung- und Jeansboutique, um den tollen Schlitten besser sehen zu können. »Bochumer Kennzeichen«, stellte ich fest. »Was will die Luxuskarosse hier in unserer Straße?«

Vater war mit irgendwelchem Abrechnungskram in seinem Büro im Hinterzimmer beschäftigt. »Wovon redest du, Tochter?«

»Na diese quietschgelbe Karre hab ich hier noch nie gesehen!«

»Keine Ahnung, Selma.« In seiner gut sitzenden Lederjacke und mit seinen grauen Schläfen, die damals der Mode entsprechend mit beachtlichen Koteletten verziert waren, kam er ins Geschäft. Er wirkte irgendwie fahrig.

»Hör zu, Selma, ich muss dringend weg.« Er überreichte mir seinen Ladenschlüssel und kramte nach Autoschlüsseln, Geld und anderen Utensilien, die so ein türkischer Patriarch immer bei sich hat. »Ich muss dich leider alleine lassen, aber ich bin überzeugt, dass du das schaffst. Du hältst hier bis zwei Uhr die Stellung, und wenn ich bis dahin nicht zurück bin, schließt du einfach ab. Die Abrechnung mach ich dann später.«

Verwundert blickte ich meinen Vater an. Es war in unserer Familie und in unserem Kulturkreis eigentlich nicht üblich, dass ein siebzehnjähriges Mädchen allein gelassen wird, und dann noch in einer stark frequentierten Boutique. Ich war bildhübsch, hatte lange schwarz glänzende Haare, große grüne Augen und eine schlanke Figur, die ich mit engen Jeans, einem breiten Ledergürtel und einer weißen Leinenbluse aus eigener Produktion betonte. Wir waren eine moderne türkische Familie, und selbst meine Mutter trug kein Kopftuch.

Mein Vater und seine Brüder hatten sich in den Sechzigerjahren hier im Kölner Raum mit einem Schneideratelier erfolgreich selbstständig gemacht, und in diesen Sommerferien half ich mit aus, weil meine Mutter samt meinen Brüdern in die Türkei gereist war, um meine Hochzeit vorzubereiten! Üblicherweise durfte die Braut bei diesen Gesprächen nicht mit dabei sein.

Ich freute mich wahnsinnig darauf, meine Jugendliebe Ismet zu heiraten, der ganz offiziell mit seinen Eltern bei meiner Mutter und meinem ältesten Bruder Cihan um meine Hand angehalten hatte.

Meine Eltern lebten getrennt, und ich wohnte mit meinen kleinen Brüdern bei meiner Mutter in Hannover, aber damit ich nicht allein und unbeaufsichtigt war, hatte meine Mutter mich für die Ferien zu meinem Vater nach Köln geschickt. Und jetzt das! Er ließ mich in seinem Geschäft allein!

Egal. Vater ging schon lange eigene Wege, hatte immer irgendwelche dringenden Termine – leider auch mit anderen Frauen, woran die Ehe meiner Eltern trotz sechs gemeinsamer Kinder letztlich auch gescheitert war. Bestimmt hatte Baba gerade wieder so eine Dame am Start. Vielleicht hatte sie ja sogar was mit dem schicken BMW zu tun, der vor der Konditorei nebenan auf dem Parkplatz stand? Das würde auch erklären, weshalb er plötzlich so nervös war, der unverbesserliche alte Filou!

»Baba, mach dir keine Sorgen, ich pack das schon.« Ein bisschen den Laden hüten? Das würde ich wohl noch schaffen. Dann konnte ich wenigstens meine Lieblingsmusik hören, und das waren keine türkischen Liebesschnulzen, sondern die neuesten Hits aus dem Radio.

»Aber sei pünktlich bei Onkel und Tante und deiner Cousine Yasemin, hörst du? Ich komme zum Mittagessen auch zu Engin und Sule, also bis spätestens halb drei!« Baba klimperte schon mit den Autoschlüsseln. »Mein Bruder und meine Schwägerin wollen das Wochenende mit uns verbringen. Sie haben dich doch so lange nicht gesehen.«

»Natürlich, Baba.« Ich gab ihm einen Kuss auf die stoppelbärtige Wange. Vater roch immer so gut! Nach Kindheit und Geborgenheit, aber auch nach großer weiter Welt. Es war ein orientalisches Parfüm. Natürlich hatte er ein Date! Ich unterdrückte ein wissendes Grinsen. »Ich nehme den Bus um zehn nach zwei.«

Baba sprang in seinen Mercedes – ebenfalls ein teurer Schlitten, der für ihn als Statussymbol sehr wichtig war – und brauste davon.

Im Radio wurde der »Swan Song« von den Bee Gees gespielt, und sorglos summend machte ich mich daran, die Pullover zu falten, die meine letzten Kunden achtlos auf einen Haufen geworfen hatten. Hüftschwingend und mit kleinen, gut gelaunten Tanzschrittchen räumte ich sie nach Größen und Farben geordnet wieder in die dafür vorgesehenen Regale. Schon bald würde ich in die Türkei fliegen, zu meiner eigenen Traumhochzeit! Ismet und ich kannten uns von der Schule in Köln, wo ich damals noch mit beiden Eltern lebte. Obwohl ich erst dreizehn gewesen war, hatte der damals achtzehnjährige, gut aussehende und vor allem gut erzogene junge Mann jeden Tag heimlich auf mich gewartet. Hand in Hand waren wir verstohlen am Fluss entlangspaziert, hatten uns scheu unsere Liebe gestanden und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Natürlich war allein schon das harmlose Händchenhalten mit einem Jungen streng verboten, und niemand hätte davon erfahren dürfen, aber jetzt … Jetzt war alles offiziell! Ismet war mit seinen Eltern nach Hannover gekommen und hatte ganz traditionell um meine Hand angehalten, und Mutter hatte Ja gesagt! Mein Jugendtraum Ismet studierte inzwischen Medizin, und unserer gemeinsamen Zukunft stand nichts mehr im Wege! Wir würden natürlich in Deutschland leben, denn hier waren wir beide aufgewachsen. Aber die prunkvolle Traumhochzeit würde traditionsgemäß in der Türkei stattfinden. Die Glücksgefühle prickelten wie Kohlensäurebläschen in einer Zitronenlimonade, das Leben war herrlich und leicht! Zum ABBA-Song »Super Trouper« hängte ich gerade eine schwere Lederjacke auf den Bügel, als die Ladenglocke ertönte und ein junger dunkelhaariger Mann forsch die Boutique betrat. Gut gelaunt steckte ich den Kopf hinter den Jacken hervor. »Kann ich Ihnen helfen?«

Wow, der sah gut aus. Pechschwarzes, nach hinten gegeltes Haar, frisch rasiert, kräftige Augenbrauen, männliche Statur. Für den hatte ich ein paar schicke Klamotten im Angebot!

»Hallo, Selma!« Mit zwei langen Sätzen war er bei mir und gab mir zwei galante Wangenküsschen.

Kannten wir uns irgendwoher? Er roch nach irgendetwas Süßlich-Scharfem, das ich nicht einordnen konnte.

»Dein Blick verrät mir, dass du dich gerade fragst, woher wir uns kennen, stimmt’s?« Der attraktive Kunde fixierte mich mit dunklen Augen, in denen es eigentümlich flackerte. Erst jetzt bemerkte ich die Narbe bei seiner rechten Augenbraue.

»Falls wir uns überhaupt kennen«, gab ich tapfer zurück. Als unverheiratetes türkisches Mädchen durfte ich ihm eigentlich nicht in die Augen sehen, also wandte ich den Blick ab und schaute sittsam auf den Boden.

»Aber Selma!« Er hielt mich auf Armeslänge von sich ab und lachte. Sein Atem roch nach Pfefferminz. »Du weißt wirklich nicht mehr, wer ich bin?«

Noch einmal sah ich ihn verlegen an, dann entfuhr mir ein nervöses Kichern. »Orhan? Bist du das? Der Sohn von Vaters ehemaligen Mitarbeitern Muhamet und Neslihan?«

»Ja, jetzt hast du’s, Kleine! Du bist ja noch viel hübscher geworden! Wie machst du das, dass dein Haar so glänzt?«

»Das ist mein Geheimnis.« Geschmeichelt, aber auch verunsichert wich ich ein paar Schritte zurück und hielt schützend die weiche Lederjacke samt Bügel vor mich. »Wie lange ist das jetzt gleich wieder her?«

»Dass meine Eltern für Alper Tuclu, deinen Vater geschneidert haben?« Orhan schaute zur Decke und schien zu rechnen. »Warte mal. Vor zwei Jahren haben wir uns mal kurz im Betrieb deines Onkels Engin getroffen. Daran wirst du dich nicht mehr erinnern, da warst du ja auch noch ein schüchternes kleines Schulmädchen.«

Das längst heimlich mit Ismet zusammen war!, dachte ich. Auch wenn wir uns jahrelang nur schrieben. Natürlich hatte ich keine Augen für andere Jungs gehabt, auch nicht für Orhan, der mir jetzt schon etwas großspurig vorkam.

»Und, wie geht’s dir so?« Nervös pustete ich mir eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Im Spiegelbild der offen stehenden Umkleidekabine sah ich eine ziemlich verwirrte, rotfleckige Selma. »Ich dachte, du wärst damals mit deinen Eltern zurück in die Türkei gegangen?«

»Ja, aber da hab ich keine Arbeit gefunden. Wir sind schon länger wieder in Deutschland.«

Beiläufig musterte er die Jacke, hinter der ich mich verschanzt hatte, und zupfte daran herum. Ich sah die schwarzen Härchen auf seinen durchtrainierten Unterarmen und versuchte, eine Berührung zu vermeiden.

»Wie läuft denn der Laden?«, fragte er gönnerhaft.

»Gut, denke ich. Ich helfe hier ja nur während der Sommerferien aus.« Ich räusperte mich nervös. »Meine Mutter, meine siebenjährigen Zwillingsbrüder und ich wohnen ja jetzt schon seit drei Jahren in Hannover, wo ich in einem Jahr mein Abi machen werde.« Ich grinste verlegen. »Und danach will ich Modedesign studieren.«

»So? Dein Abi?! Wow.« Täuschte ich mich, oder zuckten seine Mundwinkel spöttisch?

Was erzählte ich ihm denn da für Familiengeheimnisse? Vielleicht wusste er noch gar nichts von der Trennung meiner Eltern? Für das türkische Moralempfinden war das nichts, was man an die große Glocke hängen sollte. Und nachdem seine Eltern nicht mehr für meinen Vater arbeiteten, konnte mir dieser Orhan auch ziemlich egal sein. Ich setzte ein professionelles Gesicht auf. »Kann ich dir irgendwas zeigen? Sonst würde ich nämlich gleich schließen.« Geschäftig hängte ich endlich die Lederjacke zurück, um aus dieser Ecke herauszukommen, in die er mich gedrängt hatte.

»Nee, lass mal, Selma. Ich wollte eigentlich DICH sehen.« Orhans Augen...