Alles ist möglich - Roman

von: Elizabeth Strout

Luchterhand Literaturverlag, 2018

ISBN: 9783641198022 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Alles ist möglich - Roman


 

Das Zeichen

Tommy Guptill hatte früher ein Milchbetrieb gehört, den er von seinem Vater geerbt hatte, gut zwei Meilen außerhalb von Amgash, Illinois. Das war jetzt viele Jahre her, aber noch heute schreckte Tommy manchmal aus dem Schlaf hoch, wenn ihn wieder die Bilder der Nacht bedrängten, als sein Hof abgebrannt war. Das Haus war mit abgebrannt; der Wind hatte die Funken zum Haus hinübergetragen, das nicht weit von den Ställen stand. Es war seine eigene Schuld gewesen – etwas anderes wäre ihm nie eingefallen –, weil er sich an dem Abend nicht vergewissert hatte, dass die Melkmaschinen alle ordnungsgemäß abgeschaltet waren, und bei den Melkmaschinen war das Feuer ausgebrochen. Und nachdem es einmal ausgebrochen war, hatte es in Windeseile um sich gegriffen. Sie hatten alles verloren, bis auf den Messingrahmen des Wohnzimmerspiegels, den er am nächsten Tag in den Trümmern entdeckt und einfach liegen gelassen hatte. Die Leute sammelten für sie, etliche Wochen gingen seine Kinder in den Kleidern ihrer Klassenkameraden zur Schule, bis er seine Sinne und das wenige Geld, das er besaß, halbwegs beisammenhatte; das Land verkaufte er dem Besitzer der Nachbarfarm, aber viel brachte es nicht ein. Dann kauften er und seine Frau, eine kleine, hübsche Frau namens Shirley, neue Kleider, und er kaufte auch ein Haus; Shirley hatte das alles bewundernswert gut verkraftet. Es reichte nur zu einem Haus in Amgash, einem heruntergewirtschafteten Ort, und seine Kinder mussten die Schule wechseln; zuvor hatten sie die Schule in Carlisle besuchen können, denn die Farm lag genau an der Grenze zwischen den beiden Landkreisen. Tommy nahm eine Stelle als Hausmeister in der Schule an; es war etwas Beständiges an dem Job, das ihm zusagte, und auf der Farm eines anderen hätte er nicht arbeiten können, das hätte er nicht ertragen. Er war zu der Zeit fünfunddreißig Jahre alt.

Die Kinder waren inzwischen erwachsen, sie hatten eigene Kinder, die auch schon erwachsen waren, und er und Shirley lebten noch immer in ihrem Häuschen; Shirley hatte rundherum Blumen gepflanzt, was man in dieser Stadt sonst nicht oft sah. Tommy hatte sich zur Zeit des Feuers große Sorgen um seine Kinder gemacht: Eben noch hatten sie ein Zuhause gehabt, zu dem Schulausflüge unternommen wurden – jedes Frühjahr waren die Fünftklässler aus Carlisle für einen Tag zu ihnen herausgekommen, um auf den Holzbänken draußen ein Picknick zu machen und dann durch die Ställe zu trappeln, wo die Kühe gemolken wurden und wo durchsichtige Plastikschläuche die weiße, schäumende Flüssigkeit zur Decke hinaufpumpten und dort über ihren Köpfen entlangbeförderten –, und nun mussten sie zuschauen, wie ihr Vater, in grauer Hose und einem weißen Hemd, auf dem ein rotes Tommy eingestickt war, das »Zauberpulver« wegfegte, das über das Erbrochene gestreut wurde, wenn ein Kind sich im Gang übergeben hatte.

Nun gut. Sie hatten es alle überlebt.

An diesem Vormittag war Tommy nach Carlisle unterwegs, um Besorgungen zu machen; es war ein sonniger Samstag im Mai, und bis zum zweiundachtzigsten Geburtstag seiner Frau blieben nur noch ein paar Tage. Er fuhr langsam; ringsum breiteten sich Felder aus, der Mais war frisch gepflanzt, die Sojabohnen ebenso. Eine Reihe von Äckern lag noch brach, gepflügt und bereit für die Saat, aber hauptsächlich war da der hohe blaue Himmel mit ein paar vereinzelten weißen Wölkchen nahe dem Horizont. Tommy fuhr an dem Schild an der Stichstraße vorbei, auf der man zu den Bartons kam; SCHNEIDER- UND ÄNDERUNGSARBEITEN stand da immer noch, obwohl die Frau, die das Schneidern und Ändern besorgt hatte, Lydia Barton, schon seit vielen Jahren tot war. Die Bartons waren Ausgestoßene gewesen, selbst in einem Städtchen wie Amgash, was an ihrer extremen Armut und ihrem merkwürdigen Verhalten lag. Das Älteste der Kinder, ein Mann namens Pete, lebte jetzt allein in dem Haus, die mittlere Tochter wohnte zwei Ortschaften weiter, und die Jüngste, Lucy Barton, war vor Jahren schon von hier geflohen und schließlich in New York gelandet. Tommy hatte viel über Lucy nachdenken müssen. Sie war nach dem Unterricht immer in der Schule geblieben, allein in einem der Klassenzimmer, von der Vierten bis in ihr Abschlussjahr; es hatte mehrere Jahre gedauert, bis sie ihm auch nur ins Gesicht schauen konnte.

Aber jetzt näherte sich Tommy der Stelle, wo früher sein Hof gestanden hatte – nur noch Äcker jetzt, nichts deutete mehr auf die Farm hin –, und dachte, wie so oft, an sein damaliges Leben. Es war ein gutes Leben gewesen, aber er bedauerte nicht, was geschehen war. Es lag nicht in Tommys Wesen, Vergangenem nachzutrauern, und in der Nacht des Feuers – inmitten seiner wahnsinnigen Angst – hatte er begriffen, dass alles, was auf dieser Welt zählte, seine Frau und die Kinder waren, und er dachte, dass andere ihr ganzes Leben lebten, ohne sich dessen so klar und so konstant bewusst zu sein wie er. Insgeheim sah er das Feuer als Gottes Zeichen an ihn, dieses Geschenk gut zu hüten. Insgeheim, denn er wollte nicht als der Typ Mensch dastehen, der sich eine Tragödie schönredete, und niemand, nicht einmal seine innig geliebte Frau, sollte solche Anwandlungen bei ihm vermuten. Aber während seine Frau in jener Nacht mit den Kindern vorn bei der Straße stand – er hatte sie alle aus dem Haus gescheucht, sowie er das Feuer im Stall entdeckte – und er die gewaltigen Flammen in den Nachthimmel emporschlagen sah und dann das furchtbare Brüllen der darin gefangenen Kühe hörte, da hatte er alles Mögliche gefühlt, doch in der Sekunde, als das Dach des Wohnhauses einstürzte, einfach in das Haus selbst stürzte, in ihre Schlafzimmer und in das Wohnzimmer darunter mit all den Fotos seiner Kinder und seiner Eltern, in dieser Sekunde hatte er etwas gespürt, unbestreitbar, das er nur als die Nähe Gottes begreifen konnte, und er hatte plötzlich gewusst, warum Engel immer mit Flügeln dargestellt wurden, denn genauso hatte es sich angefühlt, wie ein Rauschen von Schwingen, und dann war es, als rückte Gott, der kein Gesicht hatte, aber ganz klar Gott war, dicht an ihn heran und übermittelte ihm ohne Worte – so kurz, so flüchtig – eine Botschaft, die Tommy erreichte als: Es ist gut, Tommy. Und da begriff Tommy: Ja, es war gut. Es überstieg seine Vernunft, aber es war gut so. Und tatsächlich dachte er später oft, dass seine Kinder vielleicht zu mitfühlenderen Menschen herangewachsen waren, weil ihre Mitschüler aus armen Elternhäusern stammten statt aus solchen, wie sie es selbst einmal gewohnt gewesen waren. Seither hatte er zwar vereinzelt Gottes Gegenwart gespürt, eine Empfindung, als wäre ihm ein goldenes Leuchten sehr nahe, aber nie wieder empfing er eine Botschaft von Gott wie in dieser Nacht, und er wusste nur zu gut, was die Leute dazu sagen würden, weshalb es auch bis an sein Lebensende ein Geheimnis bleiben musste – sein Zeichen von Gott.

Dennoch, an einem Frühlingsmorgen wie diesem erinnerte ihn der Geruch nach Erde an den Geruch seiner Kühe, an ihre feuchten Mäuler und warmen Leiber, seine Ställe (er hatte zwei Ställe gehabt), und er überließ sich ein Weilchen den versprengten Szenen, oder Bruchstücken von Szenen, die ihm durch den Sinn trieben. Vielleicht weil er eben an der Einfahrt der Bartons vorbeigekommen war, fiel ihm der Mann ein, Ken Barton, der Vater dieser armen, unglücklichen Kinder, der ab und zu auf der Farm ausgeholfen hatte, und dann dachte er – wie er es manchmal tat – an Lucy, die aufs College gegangen und zuletzt in New York gelandet war. Sie schrieb jetzt Bücher.

Lucy Barton.

Tommy schüttelte ganz leicht den Kopf beim Fahren. In den mehr als dreißig Jahren, die er in der Schule dort Hausmeister gewesen war, hatte er so einiges mitbekommen. Er wusste von den Schwangerschaften einzelner Schülerinnen, von betrunkenen Müttern und fremdgehenden Vätern, denn er hörte, was die Schüler redeten, wenn sie in Grüppchen vor den Toiletten oder bei der Cafeteria standen; in gewisser Weise war er unsichtbar, das begriff er gut. Aber Lucy Barton hatte ihn am stärksten beschäftigt. Sie und ihre Schwester Vicky und Pete, der Bruder, waren von den anderen Kindern und sogar einigen der Lehrer grausam verspottet worden. Aber da Lucy so viele Jahre hindurch nach dem Unterricht noch geblieben war, schien sie ihm (auch wenn sie selten den Mund aufmachte) am vertrautesten. Einmal, sie war in der Vierten gewesen und er in seinem ersten Jahr an der Schule, hatte er die Tür zu einem der Klassenzimmer geöffnet, und da lag sie auf drei aneinandergeschobenen Stühlen dicht vor der Heizung, ihre Jacke als Decke über sich, fest schlafend. Er hatte sie angestarrt, ihre Brust, die sich leicht hob und senkte, hatte die Schatten unter ihren Augen bemerkt und die Wimpern, die sich auffächerten wie kleine, blinkende Sterne, denn ihre Lider glänzten feucht, als hätte sie vor dem Einschlafen geweint, und dann hatte er sich fortgeschlichen, so leise er nur konnte; es war ihm fast ungehörig vorgekommen, dass er sie so sah.

Aber ein andermal, daran musste er jetzt denken – in der Mittelstufe musste sie damals gewesen sein –, war er ins Klassenzimmer gekommen, und sie stand an der Tafel und malte etwas. Als er eintrat, hörte sie auf. »Lass dich nicht stören«, sagte er. An die Tafel war eine Rebe mit vielen kleinen Blättchen gemalt. Lucy machte einen Schritt von der Tafel weg und öffnete dann plötzlich den Mund. »Ich hab die Kreide zerbrochen«, sagte sie. Nicht schlimm, sagte Tommy. »Mit Absicht«, fügte sie hinzu, und er meinte ein winziges Lächeln aufblitzen...