Winter meines Herzens - Roman

von: Emylia Hall

btb, 2018

ISBN: 9783641197063 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Winter meines Herzens - Roman


 

Eins

Eigentlich war Hadley Dunn aus Versehen in der Schweiz. Sie hätte vorher nie geglaubt, dass sie im Ausland studieren konnte, weil sie dachte, das wäre nur etwas für schnellzüngige Linguisten oder kleine, mandeläugige Französinnen, Mädchen, die ihre Zigarette mit Schmollmund rauchten und ihren Kaffee schwarz tranken. Doch eines ansonsten wenig bemerkenswerten Februartags war der Gedanke plötzlich aufgetaucht. Sie hätte ihn ja einfach als Tagtraum abgetan, doch mit unerklärlicher Hartnäckigkeit hatte er Wurzeln geschlagen und war weiter gewachsen.

Sie war zu früh zu einem Seminar gekommen und hatte vor dem Raum jemanden durch eine Broschüre des Institut Vaudois blättern sehen. Es war Carla, ein Mädchen mit strengem Bob und intellektueller, rechteckiger Brille. In der letzten Sitzung war sie Hadley ins Wort gefallen, als sie gerade die stumpfsinnige Lektüreliste des Professors auszuloten versuchte.

»Ist Lausanne unsere Partner-Uni?«, fragte Hadley, während sie sich neben Carla setzte.

»Partner-Uni? Das ist doch kein Schüleraustausch. Es gibt eine Vereinbarung zwischen den beiden Universitäten und den Anglistik-Fachbereichen. Ein Student wird ausgetauscht, nur einer pro Jahr. Und man spricht es ›Loh-sann‹ aus, nicht ›Lau-sann‹.«

»Loh-sann. Warum nur einer?«

Carla zuckte die Achseln und schob die Lippen vor.

»Keine Ahnung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich viele bewerben. Die Schweiz ist echt teuer.«

»Ach, das liegt in der Schweiz? Cool. Darf ich mal?« Hadley beugte sich vor, um besser sehen zu können. Das Foto zeigte ein wichtig aussehendes Gebäude aus Glas und Chrom vor einer Wiese, die so ordentlich wie ein englischer Rasen war und sich sanft bis zum Ufer eines großen Sees absenkte.

»Wohnst du nicht noch zu Hause?«, fragte Carla.

»Doch, schon.«

Hinter dem Gebäude verlief eine gezackte Bergkette. Sie hob sich eisweiß vom Blau des Himmels ab und wirkte, als hätte jemand sie nachträglich gemalt, der Inspirationsblitz eines Bühnenbildners. Hadley lehnte sich noch weiter vor. Keine Universität der Welt konnte doch wohl vor einem solchen Panorama liegen.

»Dann ist das hier also einfach die nächstgelegene Uni für dich? Du hast sie dir nicht im engeren Sinne ausgesucht?«

Endlich riss Hadley sich von dem Foto los und sah auf.

»Natürlich hab ich sie mir ausgesucht«, sagte sie. »Außerdem, was hat das denn damit zu tun?«

Während ihre Schulfreunde sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatten, war Hadley geblieben, wo sie war. Sie hatte sich an ihrer örtlichen Uni eingeschrieben, nur eine kurze Busfahrt von dem Haus in Tonridge entfernt, in dem sie mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder wohnte. Sam hatte völlig unerwartet vor vier Jahren ihre Familie erweitert, ein niedliches, ausgelassenes und endlos forderndes Bündel. Die Lachfalten ihrer Mutter waren dieser Tage tiefer als je zuvor, und die Haare ihres Vaters waren deutlich von Grau durchzogen. Wäre Hadley zu Hause ausgezogen, hätte man sie schmerzlich vermisst. Wer sonst hätte die Erbsen auf Sams Teller so herumgeschoben, dass sie ein lachendes Smiley ergaben, oder dabei geholfen, eine Schneckenzucht auf dem Boden eines Eimers zu beginnen? Mal ganz abgesehen von dem ganzen Babysitten. In den Briefen ihrer Freunde las Hadley zwischen den Zeilen; neben all den Geschichten über durchfeierte Nächte, geschwänzte Vorlesungen, leicht zu findende Liebe und noch leichter zu findende Lust gab es Stapel ungespülten Geschirrs in Wohnheimküchen, geistlose Unterhaltungen bei trockenem Toast und ein Leben im Goldfischglas. Hadley redete sich ein, dass all diese Dinge sie nicht im Namen einer vermeintlichen Freiheit von zu Hause fortlocken konnten, und meistens war sie auch davon überzeugt.

»Ich sage ja nur«, meinte Carla jetzt, »man muss abenteuerlustig sein, um im Ausland zu studieren.«

»Es wäre allerdings ein tolles Abenteuer.«

»Und das ist nicht für jeden was.«

Hadley verkniff sich ein Lächeln. »Du meinst also, für mich wäre es nichts?«

Vielleicht hatte sie sich bisher nicht nach einer größeren Welt gesehnt, aber das hieß nicht, dass sie nicht darüber nachdachte. Sie beobachtete die anderen Studenten, diejenigen, die zu Semesterbeginn mit dem eigenen Auto zum Campus fuhren, den Rücksitz mit Schreibtischlampen und Topfpflanzen beladen, oder die vom Bahnhof aus zu Fuß liefen, mit schweren Rucksäcken und von irgendeiner aufregenden Reise gebräunten Armen. Diese Leute schienen einer völlig anderen Welt zu entstammen, und Hadley fand sie eigenartig. Sie machten den Eindruck, bereits fertig entwickelt zu sein, mühelos von der Schule über die Universität in den Rest ihres zwanglosen Lebens zu gleiten. Neben ihnen fühlte Hadley sich wie ein Neuling, ihr Mangel an Erfahrung so grell wie ein weißes Laken. Dennoch glaubte sie fest daran, dass auch sie eines Tages Aufregendes erleben würde. Und wenn dieser Tag käme, wäre sie bereit.

Carlas Augen hinter der Brille waren schlammig braun und blinzelten nicht. Statt Hadleys Frage zu beantworten, verzog sie den Mund zu einem verkniffenen Lächeln und schnippte mit den Fingern nach der Broschüre. Hadley starrte sie an. Sie machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Widerstrebend gab sie Carla das Heftchen zurück, die es in ihre Tasche steckte. Der Professor, ein krähenartiger Mann, der immer nach Eiersandwichs und schalem Kaffee roch, schlurfte in den Raum und nestelte vorne am Pult an seiner Aktentasche. Hadley öffnete eine Coladose und lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Er begann, über die viktorianische Zeit und die industrielle Revolution zu reden, aber sie hörte kaum zu. Sie dachte an die Berge und wie es wohl wäre, in ihrer unmittelbaren Nähe zu leben, und ob sie irgendwelche Geräusche machten, denn wie konnte etwas so Riesiges schweigend dastehen? Wäre da ein Knistern und Wispern, ein pfeifender Wind? Würde man sich daran gewöhnen, an ihre beharrliche, ewige Gegenwart, und sein Leben weiterführen, als wäre es ganz normal? Eine andere Art von normal, aber dennoch normal? Eher doch würde man den ganzen Tag in den Himmel starren, glücklich wie eine Eintagsfliege.

Eine Woche später, als die Institutssekretärin gerade die letzten Bewerbungen für das Auslandsjahr durchzählte, warf Hadley ihre auf den Stapel.

»Abgabe war leider bis siebzehn Uhr«, sagte die Frau mit einem kurzen Blick nach oben. Ihre Miene war nicht zu deuten. Sie hatte die Jalousien vor ihren Augen heruntergezogen.

»Im Ernst?«, fragte Hadley. »Aber es ist erst halb sechs.«

»Vorschrift ist Vorschrift.«

Hadley ließ den Kopf auf den Tresen sinken. Die Sekretärin schob ihre Teetasse aus dem Weg und blätterte weiter durch die Unterlagen, zuerst aber zog sie Hadleys Formular heraus, als wäre es ein Unkraut.

»Ich brauchte die ganze letzte Woche, um mich zu entscheiden, ob ich mich bewerben möchte«, sagte Hadley. »Ich wusste bisher nicht, dass irgendetwas so aufregend und beängstigend zugleich sein kann.«

Immer noch wurden vor ihrer Nase die Papiere sortiert, ordentlich beschriebene Stapel, ohne Zweifel voller Beteuerungen persönlicher Eignung und Versprechungen von außergewöhnlichen akademischen Leistungen. Carla hatte falsch gelegen, dass sich niemand bewerben würde.

»Ich dachte, ich könnte mir das auf keinen Fall leisten«, sagte Hadley jetzt. »Aber dann habe ich herausgefunden, dass es Stipendien gibt, deshalb habe ich noch mal neu überlegt.« Sie legte der Sekretärin die Hand auf den Arm und spürte sie unter der leichten Berührung zucken. »Bitte. Ich meine, mir ist plötzlich bewusst geworden, dass ich wirklich gern fahren möchte. Wahrscheinlich werde ich ja gar nicht ausgesucht, aber ich will es zumindest probieren. Ich hab das Formular so schnell ausgefüllt, wie es nur ging. Sehen Sie, das Tipp-Ex ist noch gar nicht trocken.«

Es blieb einen Moment lang still. Draußen im Flur knallten Türen, der Tag ging zu Ende.

»Was, wenn ich sie einfach in den Stapel stecke?«, fragte Hadley. »Wir könnten so tun, als wäre sie schon drin gewesen.«

»Von mir aus, aber schnell«, sagte die Sekretärin, ohne aufzublicken.

Hadley warf die Arme hoch und beugte sich über den Tresen, um sie etwas schief zu umarmen.

Die ältere Frau blieb steif wie ein Spazierstock. »Passen Sie auf, dass ich es mir nicht wieder anders überlege.«

Drei Wochen später erhielt Hadley einen Brief von nicht mehr als vier oder fünf getippten Zeilen, der sie darüber informierte, dass ihre Bewerbung erfolgreich gewesen war. Es dauerte einen Moment, bis sie wirklich begriff. Einfach so hatte sie ein Jahr zu Hause gegen ein Jahr im Ausland getauscht. Ein Pfad war für sie vorgegeben gewesen, und sie hatte bisher nichts dagegen gehabt, darauf weiterzugehen. Würde ein so plötzlicher und dramatischer Schwenk den Verlauf des Schicksals verändern? Sie zögerte, ihren Platz anzunehmen. Sie war unsicher, ob es richtig gewesen war, ihn überhaupt zu wollen.

Es war ihre Mutter, die sie schließlich überredete. Eines Abends nach dem Essen spülten sie gerade zusammen ab, als Hadley innehielt und aus dem Küchenfenster starrte. Man sah das Nebenhaus, Reihe um Reihe ordentliches Mauerwerk. In gleichmäßigen Abständen unterbrachen die Spitzen eines Holzzauns den Rhythmus. Ihre Mutter drückte ihr die Hand.

»Sorry, ich war in Gedanken ganz weit weg«, sagte Hadley lächelnd. Sie wandte sich wieder dem schmutzigen Geschirr zu.

»Wir wollen dich auf keinen Fall zurückhalten«, sagte ihre Mutter.

»Aber ihr …«, setzte sie...