Wirf dein Herz voraus und spring hinterher - Roman

von: Anna Paulsen

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641211103 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 4,99 EUR

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Wirf dein Herz voraus und spring hinterher - Roman


 

Kapitel 1
Sicher ist sicher

Der Dienstag, an dem Lianes Albtraum zur schrecklichen Gewissheit wurde, begann unspektakulär. Wie an jedem Werktag klingelte ihr Wecker pünktlich um halb sechs, und sie gestand sich maximal drei Minuten zu, bevor sie energisch das Federbett zurückklappte, ihre ungebräunten Beine über die Bettkante schwang und sich streckte. Liane hielt nicht viel davon, sich träge im Bett hin und her zu wälzen und das Aufstehen unnötig lang hinauszuzögern. Sie hielt generell nicht viel von Disziplinlosigkeit. Ohne Disziplin säße die Menschheit noch auf Bäumen, davon war sie felsenfest überzeugt. Wo käme man denn hin, hätten alle nur noch ihr Vergnügen im Sinn? Liane wollte sich lieber nicht ausmalen, was dann geschähe.

Manchmal fühlte sie sich wie das letzte Exemplar einer aussterbenden Art. Zum Beispiel, wenn sie, wie jetzt gerade, bei geöffnetem Fenster ihre Morgengymnastik absolvierte. Dabei hatte sie nicht die geringste Freude an Kniebeugen, Liegestützen und Sit-ups, und auch den wunderbaren Blick auf den Stadtpark genoss sie kein bisschen. Aber sie wusste, dass ein langes, gesundes Leben ohne körperliche Ertüchtigung bei frischer Luft kaum möglich war, und so biss sie eben regelmäßig in diesen sauren Apfel.

Während Liane ihr Trainingsprogramm abspulte, dachte sie an ihre Kollegen, die alle zwischen Mitte und Ende zwanzig waren. Ungefähr so alt wie sie damals, als sie bei »Trend + Fun« angefangen hatte. Sie konnte nicht glauben, dass sie jemals so sorglos gewesen war wie Fabian, Sina, Alex, Niklas und Jenny, die vermutlich eher Bungee-Jumping machten als solide Morgengymnastik. Noch törichter waren nur noch die Kunden der Eventagentur, in der sie seit nunmehr zwölf Jahren arbeitete. Es war ihr nach wie vor ein Rätsel, was das für Menschen waren, die freiwillig einen Haufen Geld dafür ausgaben, Leib und Leben zu riskieren. Die sich in rasanten Schlauchbooten irrwitzig steile Abfahrtpisten hinabstürzten und es Snowrafting nannten. Oder mit pfeilschnellen Automobilen über unbefestigte Pisten brausten und es Rallyefahren nannten. Und sich in lächerlich enge Anzüge zwängten, aus einem Helikopter hüpften und es Fallschirmspringen nannten.

Liane nannte es unverantwortlich. Eher würde sie jeden Tag um halb fünf aufstehen und ihr Sportprogramm verdoppeln, als auch nur eines der Angebote ihres Arbeitgebers Trend + Fun auszuprobieren. Was für andere Spaß pur bedeutete, verursachte ihr Herzrasen und Panikattacken, wenn sie nur daran dachte.

Auch jetzt geriet sie unverhältnismäßig schnell außer Atem, und das lag bestimmt nicht an den fünfzig Kniebeugen, die sie schließlich gewohnt war, sondern an ihrer Grübelei. Sie zwang sich, an etwas Erfreulicheres zu denken. Oder wenigstens an etwas weniger Beunruhigendes. Zum Beispiel den bevorstehenden ärztlichen Check-up-Termin heute Nachmittag. Liane versäumte niemals eine Untersuchung, und weil ihr der von der Krankenkasse vorgesehene zweijährliche Rhythmus bei Weitem nicht ausreichend erschien, hatte sie die Häufigkeit ihrer prophylaktischen Arztbesuche eigenmächtig auf alle zwei Monate festgelegt. Solange sie Beschwerden hatte, konnte ihr Hausarzt seine Untersuchungen auch problemlos abrechnen, und daran mangelte es Liane nie. Wenn sie nur tief genug in sich hineinhorchte, wurde sie beunruhigender Symptome gewahr, die einer dringenden Abklärung bedurften. Vielleicht sollte sie heute diese ungewöhnliche Kurzatmigkeit erwähnen? Ja, Liane freute sich auf den Arzttermin. Es hatte so etwas wunderbar Beruhigendes, aus kompetentem Munde zu hören, dass kein unmittelbarer Grund zur Sorge bestand …

Nach dem Frühsport stellte Liane das Teewasser auf und nahm eine schnelle Dusche. Mehr als fünf Minuten unter der Brause hielt sie für Verschwendung. Zum Abschluss duschte sie ihren gesamten Körper eiskalt ab, wozu sie all ihre Selbstbeherrschung aufbieten musste, denn Liane fror nun wirklich nicht gern, aber was sein musste, musste eben sein. Wechselbäder waren gesund für Kreislauf und Venen, härteten ab und gehörten nun mal zu ihrer Morgenhygiene wie warmer Porridge und Fencheltee zu ihrem Frühstück. Nicht zu vergessen die Vitamintabletten, Mineralstoffkapseln und weiteren Nahrungsergänzungsmittel für Nägel, Haare, Stoffwechsel sowie körpereigene Abwehrkräfte. In dieser Hinsicht überließ Liane ihr Schicksal ungern dem Zufall. Da könnte sie auch gleich ungeimpft in ein Seuchengebiet reisen …

Exakt eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn steckte Liane ihre schulterlangen Haare zu einem Knoten auf. Das sorgfältig aufgelegte Tages-Make-up war perfekt, aber dezent. Als Business-Outfit kamen nur ein knielanger Bleistiftrock, eine faltenfrei geplättete Bluse und ein Paar elegante, nicht zu hohe Pumps infrage. Schließlich war sie Chefsekretärin, und sie legte Wert darauf, sich von den Jeans tragenden, Kaugummi kauenden, Skateboard fahrenden Kolleginnen und Kollegen zu unterscheiden. Auf den Gedanken, dass eine optische Abgrenzung dazu überhaupt nicht notwendig war, kam sie gar nicht erst.

Henning Piper betrat federnden Schrittes die Räumlichkeiten der Eventagentur, die er vor fast zwanzig Jahren gegründet hatte und an deren überwältigendem Erfolg er sich auch heute noch täglich erfreute. Wie immer trug er irrsinnig teure Designerjeans, darüber ein Markenhemd – heute in Knallrot – und italienische Slipper, die zwar ein bisschen drückten, vor allem am linken Fuß, wo der Hallux valgus besonders ausgeprägt war, aber extrem lässig aussahen.

»Hi, People«, dröhnte er zur Begrüßung. »Alles geschmeidig?«

»Danke, auch dir einen schönen Tag«, erwiderte Liane Klein, die alte Spaßbremse. Henning verstand bis heute nicht, was ihn damals dazu gebracht hatte, sie einzustellen. Liane passte kein bisschen in sein junges, dynamisches Team. Als hätte sich Fräulein Rottenmeier ins falsche Jahrtausend verirrt mit ihrer scheußlichen Omafrisur, dem uncoolen Schuhwerk und diesen Klamotten, die irgendwie nach Stewardess aussahen. Oder nach Politesse. Jedenfalls nicht nach Eventagentur. Außerdem trieb sie das Durchschnittsalter seiner Belegschaft in die Höhe, was ihm so gar nicht gefiel.

Nun gut, wäre er ehrlich gewesen, hätte er zugeben müssen, dass er selbst mit seinen zweiundvierzig Jahren sogar ein halbes Jahrzehnt älter war als Liane und damit fast eine Generation älter als die meisten seiner Mitarbeiter. Andererseits sah doch ein Blinder mit Krückstock, dass er mit Liane so viel gemeinsam hatte wie mit einem Außerirdischen. Nämlich nichts.

Um zu überspielen, dass sie an Jahren den coolen Teammitgliedern näher war als er, pflegte sich Henning über Liane lustig zu machen. Wenn sie es nicht mitbekam. Denn sie zu verlieren, wollte er nicht riskieren. Trotz ihrer Schrullen war Liane mit Abstand die zuverlässigste, effektivste und fleißigste Mitarbeiterin, die er je hatte. Deshalb verlor er auch kein Wort darüber, dass sie ständig wegen irgendwelcher Arzttermine wegmusste, und das während der Arbeitszeit. Aber sie holte die versäumten Stunden stets nach. Und er wusste ja selbst, wie schwer es war, in den angesagten Fachpraxen überhaupt einen Termin zu bekommen! Wenn er nur daran dachte, wie lange er nun schon darauf wartete, dass sich ein Spezialist mal seinen Hallux anschaute …

Kaum hatte Henning an seinem schwarzen hochglanzpolierten Schreibtisch Platz genommen, da schwebte Liane auch schon herein, servierte ihm den Espresso Macchiato mit leichtem Milchschaum und zwei Stück Zucker, genauso, wie er es mochte, und nahm Platz, um die Termine des Tages mit ihm durchzugehen. Aufrecht wie eine Soldatin saß sie da und zückte einen gespitzten Bleistift. Himmelherrgott, einen Bleistift, das musste man sich mal überlegen! Wer benutzte heutzutage noch derartiges Steinzeit-Werkzeug? Urplötzlich war Henning wahnsinnig genervt von Liane – von ihrer verdammten Effektivität, ihrer Schmallippigkeit, ihren gestrafften Schultern und ihrer knitterfreien Bluse.

»Planänderung, Li«, verkündete er. Ihr winziges Stirnrunzeln registrierte er sehr wohl. Natürlich hasste Liane es, wenn er ihren Vornamen abkürzte. Genau deshalb hatte er es getan. Er wusste genau, wie kindisch das war, aber besser kindisch als altmodisch …

»Meeting in einer Viertelstunde«, fuhr er fort. »Sag allen Bescheid.«

Liane schien zu ahnen, dass ihr Boss etwas im Schilde führte, was ihr nicht gefallen würde. Doch sie ließ sich nichts anmerken. »Okay, ich sage den anderen Bescheid und besorge belegte Brötchen.«

»Wir brauchen keine Brötchen«, winkte Henning Piper ab. »Und übrigens: Das Meeting betrifft das gesamte Team. Auch dich.«

Sina ließ sich auf einen Sessel plumpsen und unterdrückte nur mit Mühen ein Seufzen. Es ging ihr gar nicht gut. Hätte sie doch bloß nicht so viel von diesem widerlichen Gin getrunken, der auf so unerfreuliche Weise nach einer Mischung aus Rasierwasser und Seife geschmeckt hatte. Irgendwie hatte sie gehofft, sich langsam mit dem Aroma anzufreunden. Schließlich war es uncool, ein In-Getränk nicht zu mögen. Aber sosehr sie es auch versucht hatte, es war ihr nicht gelungen, der Plörre irgendetwas Positives abzugewinnen. Das Ende vom Lied war, dass sie mit Fabian in der Kiste gelandet war und nun nicht nur einen ordentlichen Kater, sondern auch ein Verhältnis mit einem Kollegen hatte. Wo doch jeder wusste, dass so etwas nur Ärger brachte.

Und jetzt auch noch dieses dämliche Meeting. Hoffentlich erwartete Henning keine Geistesblitze – damit würde sie heute bestimmt nicht dienen können.

Natürlich setzte sich Fabian neben sie. Okay, das tat er auch sonst häufig, aber diesmal hatte er...