Was die Nacht verbirgt - Kriminalroman

von: Danielle Thiéry

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841215581 , 336 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 3,99 EUR

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Was die Nacht verbirgt - Kriminalroman


 

II


»Kripo ... Mordkommission, ich höre ...«

Inspektor Talon hörte zu, runzelte die Stirn, stellte zwei kurze Fragen, unterbrach den Gesprächsteilnehmer:

»Bleiben Sie dran, ich rufe Kommissarin Marion ...«

Er legte den Hörer beiseite, drückte auf eine Taste, die es erlaubte, die Gesprächsteilnehmer bei Musik von Rachmaninow warten zu lassen – eine Idee von Kommissarin Marion –, und begab sich zum Büro 312, nachdem er mit den Fingerspitzen seine Frisur in Ordnung gebracht und seine Brille mit einer mechanischen Geste zurechtgerückt hatte.

Im Flur des dritten Stocks des Polizeipräsidiums standen eine Frau und zwei Männer vor dem Kaffeeautomaten. Die junge Frau, eine mittelgroße Blonde, schlank und hübsch, drückte mehrmals ohne Erfolg den Knopf, der den Becher auswerfen sollte.

»Drecksmaschine«, schimpfte sie.

Der jüngere der sie begleitenden beiden Männer nahm Anlauf und versetzte mit der Genauigkeit eines Fußballspielers dem Automaten einen derben Fußtritt. Der Automat gab seinen Geist auf und verschied.

»Die Centimes sind gefallen!« frohlockte der zweite, ein Vierziger in vollem Saft mit lichtem Haar.

»Bravo, Lavot!« sagte die junge Frau zweideutig. »Nun sind wir genauso schlau wie vorher.«

Talon kam dem Widerspruch seines Kollegen zuvor:

»Telefon, Chef! Die Führung ...«

Edwige Marion wandte ihm den Kopf zu:

»Ich komme. Was Sie angeht, Lavot, so schauen Sie, wie Sie zurechtkommen, aber treiben Sie mir Kaffee auf. Das wird Sie lehren, Behördeneigentum zu beschädigen.«

Hauptinspektor Lavot, Typ des gutgebauten Liebhabers auf der Leinwand, rief ihr hinterher – in seiner Rolle des Bullen mit Erbskopf und Bizeps mehr als lebensecht –:

»Arabica oder Robusta?«

Kommissarin Edwige Marion, die jeder, auch sie sich selbst, einfach Marion nannte, betrat ihr Büro. Fünf Minuten später versammelte sie ihre Gruppe.

»Lavot, Talon, Cabut, auf die Matte! Wir fahren in das Bois-Joli-Viertel am Flussufer. Ein Mord. Das Bezirkskommissariat ist an Ort und Stelle, der Erkennungsdienst ist auf dem Weg, und zur Zeit fragt sich der Vertreter des Staatsanwaltes, ob er kommt oder nicht. Was den Gerichtsmediziner angeht, der fragt sich schon nichts mehr, er wartet dort auf uns.«

Sie wandte sich einem ergrauten, etwas gebeugten Mann mit kränklichem Aussehen zu:

»Joual, Sie bleiben hier. Halten Sie ein paar Burschen in Bereitschaft, vielleicht braucht man sie später noch. Wir nehmen den Renault 21 der Bereitschaft, meiner ist in der Werkstatt.«

Joual, ein reuiger Alkoholiker, der jedoch von seiner schlechten Neigung noch kaum genesen war, nickte wortlos.

Lavot saß schon am Steuer des grauen R 21, als Marion auf den Hof des Präsidiums kam, wo die Streifenwagen mit dem Kühler zur Ausfahrt in einer Reihe standen. Sie runzelte die Stirn beim Anblick des Blaulichts, das auf dem Dach schon in Aktion war, eine Manie von Lavot:

»Brauchen wir unbedingt dieses Ding da? Soviel ich weiß, wird unsere ›Kundin‹ nicht die Flucht ergreifen!«

Lavot wandte ein:

»Man darf nicht aus der Übung kommen, Chef! Und wenn schon mal eine Frau auf mich wartet ...«

»Wie geschmackvoll!« erwiderte Marion, während der Wagen mit heulender Sirene in den Verkehr preschte.

Um den Lärm zu übertönen, sprach sie lauter und erklärte:

»Das Opfer ist eine zweiundfünfzigjährige Frau, sie lebte allein in einer Dreizimmerwohnung am Ufer und war nach dem Osterwochenende nicht wieder an ihrem Arbeitsplatz erschienen. Sicher ist sie seit ein paar Tagen tot.«

»Mein Gott, der Gestank! Immer trifft es mich!« jammerte Cabut, der oft beim Anblick von Leichen und mehr noch bei deren Gestank ohnmächtig wurde.

»Wie ermordet?« fragte Talon, während Lavot an einer roten Ampel hielt.

»Blankwaffe«, sagte Marion.

Sie wandte sich Lavot zu:

»Na, mein Lieber, mussten wir so viel Lärm machen, um wie der erstbeste Autofahrer bei Rot zu halten!«

Lavot ließ sich das nicht zweimal sagen, stieß einen kurzen Kriegsschrei aus und ließ den R 21 mit quietschenden Reifen anfahren. Ein kühner Fußgänger konnte gerade noch zur Seite springen; ein Überlebensreflex, der Lavot ein entzücktes ›Olé‹ entlockte sowie gemeinsame Protestrufe von Marion und Cabut hervorrief. Kaum drei Minuten später blieb der Wagen sanft vor der Nr. 45 der Promenade des Lilas stehen, nachdem er zu seiner Rechten zahllose Straßen mit ebenso blumigen Namen hinter sich gelassen hatte.

»Es riecht nach Frühling«, murmelte Cabut, ohne dass man wusste, ob er auf das Viertel anspielte oder auf den Duft eines vorzeitigen Frühlings.

Kommissarin Marion überschaute mit einem Blick die Uferpromenade, die mit Bänken und noch kahlen Blumenbeeten geschmückt war. Bis hin zur Fahrbahn, die zwischen dem Kai und den anliegenden Gebäuden verlief, zeugten noch feuchte Schlammströme vom jüngsten Hochwasser des Flusses. Ein Phänomen, verursacht durch Regengüsse, wie man sie in der Gegend noch nie erlebt hatte. Die seit einem Monat eingestellte Flussschiffahrt kam langsam wieder in Gang. Ein Frachtkahn, den Bug dicht über den Wellen, betätigte seine heisere Sirene, als er vor der reglosen jungen Frau vorbeifuhr.

Während Talon sich ein paar Notizen machte, begab sich Edwige Marion flott zu der Gruppe, in deren Mitte Lavot Eindruck zu schinden versuchte, wohingegen Cabut, den Kopf abgewendet, sich auf das Schlimmste gefasst machte. Schutzmänner und Feuerwehrleute, neugierige, aufgeregte Gaffer traten zur Seite, um die Kommissarin, der ihre Männer folgten, durchzulassen.

›Meine Prätorianergarde als Nachhut‹, dachte sie belustigt.

Sie wusste schon, welche Gesichter die Bullen vom Bezirkskommissariat bei ihrem Aufkreuzen machen würden. Lavot, der Playboy mit den langen braunen Haaren, zu engen Jeans, abgetragenem Lederblouson und zu dunkler Ray Ban. Cabut, ein eingepacktes Nichts, nachlässig in seine Klamotten gestopft, watschelnder Gang, der Kopf so kahl, dass er schließlich die restlichen graumelierten Haare abrasiert hatte, um aufzufallen. Seine spitzwinkligen Augenbrauen gaben seinem Gesicht einen ständig überraschten Ausdruck. Talon, der Kleinste und Jüngste, Jeans-Blouson-Turnschuhe, gab sich wie ein Intellektueller mit seinen zurückgekämmten braunen Haaren und seiner schwarzen Schultasche, die er oft auf dem Rücken trug, wie die Schüler von früher, damit er die Hände frei hatte. Sie, schwarze Jeans, schwarzer Lederblouson, Lederstiefeletten, ohne Handtasche, die Hände in den Jackentaschen, verbarg hinter ihren wirren blonden Strähnen schwarze Augen, die vor Lebendigkeit blitzten.

Die anderen Bullen beobachteten sie aus dem Augenwinkel, auf der Zunge kritische Bemerkungen, überrascht und womöglich neidisch auf den Schwung, mit dem sie sich an diese abstoßende Arbeit machten und Freude daran hatten.

Im zweiten Stock, vor der halboffenen Wohnungstür des Opfers, fiel der Gestank, den sie schon auf der Treppe wahrgenommen hatten, über sie her. Marion rümpfte die Nase und wandte sich Cabut zu, der ein Taschentuch unter die seine presste.

»Stecken Sie das weg«, sagte sie, »das nützt nichts! Wenn Sie ein Problem mit dem Gestank haben, dann stecken Sie sich eine Zigarette an und behalten Sie sie im Mund. Das hilft. Aber passen Sie auf die Asche auf, streuen Sie nicht alles auf den Boden.«

Cabut war als letzter in die Gruppe gekommen. Dank seiner Leidenschaft für Kunst und seiner profunden Kenntnisse auf diesem Gebiet war er sechs Jahre lang in einer Pariser Abteilung untergebracht gewesen, die auf die Bekämpfung von Kunstdiebstählen spezialisiert war – eine Tätigkeit, bei der keine Leichen in den Museumsgängen umherliegen.

Cabut hatte seine Versetzung zu Marion beantragt, um näher bei seinen Eltern zu wohnen. Auch um von einer Geliebten mit teuflischem Charakter wegzugehen, die ihn zur Heirat drängen wollte. In Paris hatte er sich auf den Kompromiss einer wilden Ehe eingelassen. Im Vergleich zu dieser Erfahrung schien ihm die Hölle ein beneidenswertes Los, und er hatte seine Rettung nur in der Flucht gefunden. Eine gefühlsmäßige und örtliche Wahl, deretwegen er sich jetzt verfluchte, während er mit zitternder Hand eine Marlboro anzündete.

Bevor sie hineinging, atmete Marion tief durch. Lavot beugte sich zu ihr herab und schnitt eine Grimasse:

»Erinnert Sie das an etwas?«

Sie nickte. Vor einem Jahr hatten sie beide die Leiche einer Prostituierten entdeckt, die man in ihrer Sitzbadewanne erwürgt hatte. Seit zwei Monaten saß sie im Wasser und zerfiel. Um die Ermittlungen durchzuführen, mussten sie zur Ausrüstung der Feuerwehrleute greifen. Sauerstoff-Flaschen und Masken. Der Gestank war so unerträglich, dass das ganze Gebäude evakuiert werden musste. Selbst die Gegenstände, die man im Wasser fand – ihre Fingernägel, ein Goldring und ein goldenes Collier –, konnten nicht in der Dienststelle aufbewahrt werden, da der Gestank durch die versiegelten Plastikbeutel drang.

Talon, dem die Unbequemlichkeit des Moments sichtbar gleichgültig war, notierte alles, was er sah, machte Skizzen, hielt die Daten der Wohnung fest: eine moderne Dreizimmerwohnung, bescheiden möbliert, aber sauber und schmuck.

Marion ging in den Flur, wo zwei Männer leise diskutierten, und schüttelte ihnen die Hand. Der Staatsanwalt, ein junger, geistesabwesend...