Skulduggery Pleasant (Band 11) - Mitternacht

von: Derek Landy

Loewe Verlag, 2018

ISBN: 9783732012558 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Skulduggery Pleasant (Band 11) - Mitternacht


 

DAS ALTE SCHLOSS hob sich dunkel vor dem Sternenhimmel ab. Die großen Fenster waren leer, und die Zinnen ragten wie Zähne aus der Mauer. Auf diesen Zinnen standen, unbeeindruckt vom kalten Wind, der um die Berggipfel wehte, Pestlinge, monströse Teile aus Schorf und Geschwüren, in denen vergiftetes Blut und verwesendes Fleisch blubberte.

809 Meter westlich und 193 Meter höher lag Skulduggery Pleasant auf einem schneebedeckten Felsvorsprung auf einer Decke. Er legte seine rechte Augenhöhle ans Zielfernrohr seiner Waffe und optimierte die Schärfeeinstellung.

Er veränderte noch ein ganz klein wenig seine Haltung, ließ sich tiefer auf die Decke sinken und lag dann reglos da. Sein behandschuhter Finger zog langsam den Abzug zurück, und Walküre hob ihr Fernglas und richtete es auf den am nächsten stehenden Pestling.

Der Schuss löste sich mit einem lauten Knall, den der Wind fortriss, doch sie waren so weit vom Ziel entfernt, dass es ein paar Sekunden dauerte, bevor die Kugel traf.

Der Pestling zuckte leicht zusammen und blickte auf seine Brust hinunter. Einen Augenblick später begann er zu zittern. Die Naht, die ihn zusammenhielt, franste aus, und das Ding zerfiel. Die einzelnen Körperteile lösten sich voneinander, die gestohlenen Innereien quollen heraus, und er brach in sich zusammen. Was blieb, war ein Haufen dampfenden Fleisches in der kalten Luft.

Skulduggery visierte das nächste Ziel an und stellte das Fernrohr wieder scharf.

„Glaubst du, sie empfinden Schmerz?“, fragte Walküre.

Skulduggery hielt einen Moment inne und blickte sie an. „Bitte?“

„Die Pestlinge. Glaubst du, sie empfinden Schmerz?“

„Nicht wirklich“, antwortete er und konzentrierte sich wieder auf die Zieleinstellung seines Gewehrs.

„Aber sie haben ein Gehirn, richtig? Und sie denken, selbst wenn sie nicht die Hellsten sind. Und wenn sie denken, können sie womöglich auch etwas empfinden. Und wenn sie in der Lage sind, körperlich etwas zu empfinden, können sie dann nicht auch Gefühle entwickeln?“

Skulduggery drückte erneut ab. Walküre machte sich nicht die Mühe zu verfolgen, ob die Kugel ihr Ziel traf. Selbstverständlich traf sie es.

„Sie haben ein Gehirn“, gab Skulduggery ihr recht, „das man den Toten zusammen mit den Gliedmaßen und inneren Organen gestohlen hat. Alles wurde verformt und verdreht und wie Teile einer Maschine an den Pestlingen befestigt – denn nichts anderes sind sie. Sie sehen lebendig aus, doch alles an ihnen ist künstlich. Hast du Schuldgefühle, weil wir das hier tun?“

„Nein.“ Sie beobachtete, wie er sein nächstes Ziel ins Visier nahm. „Irgendwie schon.“

„Sie sind nichts anderes als Hohle.“ Er brachte seine Augenhöhle ans Zielfernrohr.

„Aber Hohle haben kein Gehirn.“

„Ich habe auch kein Gehirn.“

„Aber Hohle können nicht denken.“

„Glaub mir, Pestlinge denken lediglich darüber nach, wie sie jemanden auf möglichst hässliche Art und Weise umbringen können.“

Walküre schaute durch ihr Fernglas. „Deshalb bringen wir sie vorher um? Besonders aufgeklärt ist das nicht gerade, oder?“

„Wir töten sie nicht“, erklärte Skulduggery. „Diese cleveren kleinen Patronen zerlegen ihre Ziele in Einzelteile, sie bringen niemanden um.“

Er drückte ab, und sie schaute zu, wie der nächste Pestling in Einzelteile zerlegt wurde. Schwarzes Blut spritzte heraus.

Skulduggery stand auf. „Das war der Letzte.“ Er ergriff Walküres Hand und zog sie auf die Füße. Das Scharfschützengewehr ließ er auf der Decke liegen. Sie reichte ihm seinen Hut. Er war schwarz wie sein Dreiteiler, wie das Hemd und die Krawatte. Auch Walküre war ganz in Schwarz. Sie trug die Schutzkleidung, die Grässlich Schneider vor Jahren für sie angefertigt hatte, und darüber den schweren Mantel mit der pelzgefütterten Kapuze.

Von Osten zogen Wolken auf. Sie schrammten über die zerklüfteten Berggipfel und verdeckten die Sterne. Unter dem Felsvorsprung, auf dem sie standen, verlor sich die Bergwand im Dunkel. Der Wind stupste Walküre an, als wollte er sie über den Rand in die kalte Leere hinunterstoßen. Sie empfand den fast unwiderstehlichen Drang, einen großen Schritt nach vorn zu machen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Skulduggery.

Ihr von der Kälte taubes Gesicht war schlaff geworden. Sie arrangierte ein Lächeln darauf. „Bestens“, erwiderte sie und zog ihren Mantel aus. „Gehen wir.“

Er schlang einen Arm um ihre Taille. „Bist du sicher, dass du es nicht allein versuchen willst?“

„Wenn ich wüsste, dass ich fliegen könnte, jederzeit. Aber ich habe meinen Leuten gesagt, dass ich zum Abendessen zu Hause bin. Wenn ich vorher in den Tod stürze, würden sie das für unhöflich halten, deshalb …“

Sie hoben ab und schwebten vom Felsen. Unter ihnen tat sich die Welt auf. Skulduggery lenkte den eisigen Wind ab, sodass sich auf Walküres Kopf kein Haar bewegte. Es war seltsam still, als sie so dahinflogen. Die Luft war erfüllt vom Heulen und Kreischen der Berge ringsherum, doch es erreichte sie nicht.

„Mir ist der Gedanke gekommen, dass du vielleicht erst anfängst zu fliegen, wenn es nicht anders geht“, meinte Skulduggery.

„Lass mich nicht fallen.“

„Hör mir mal einen Moment zu. Das Ausmaß deiner Kräfte ist uns immer noch ein Rätsel, richtig? Du kannst Blitze aus deinen Fingerspitzen abschießen, hast zweifellos zerstörerisches Potenzial und mindestens die hellseherischen Fähigkeiten eines Sensitiven der vierten Ebene. Außerdem bist du früher schon geflogen.“

„Schweben ist nicht fliegen.“

„Jede Wette, dass du fliegen würdest, wenn ich dich fallen ließe.“

„Ich weiß nicht, ob ich es ausdrücklich genug gesagt habe, aber lass mich nicht fallen.“

„Der unmittelbar bevorstehende Tod könnte die mentale Blockade lösen, die dich daran hindert.“

„Es wäre aber kein unmittelbar bevorstehender Tod. Du würdest mich auffangen. Es besteht keine Gefahr. Du würdest mich retten, weil du mich immer rettest. Wenn du mich fallen ließest, würdest du damit lediglich erreichen, dass ich eine Stinkwut auf dich hätte.“

Skulduggery schwieg einen Moment.

Lass mich nicht fallen“, wiederholte Walküre.

Er seufzte und sie flogen weiter hinüber zum Schloss, wo sie neben einem Haufen Pestlingresten landeten. Ein plötzlicher Windstoß brachte den Gestank von fauligem Fleisch und menschlichen Ausscheidungen mit. Er drang Walküre in Nase und Mund, und sie würgte. Als Skulduggery die verdorbene Luft mit einer Handbewegung wegschob, machte Walküre einen Satz auf die Zinnen zu, da sie das Gefühl hatte, sich gleich übergeben zu müssen – doch dann schluckte sie und es gelang ihr, alles bei sich zu behalten.

„Manchmal tut es mir leid, dass ich keinen Geruchssinn habe“, bedauerte Skulduggery. „Heute Abend ist das nicht der Fall.“

Walküre spuckte aus, wischte sich über den Mund und blieb einen Augenblick, wo sie war, um sich zu erholen. Sie war sicher, dass man ihr einmal die richtigen Bezeichnungen für die verschiedenen Teile der Befestigungsanlagen genannt hatte, konnte sich jedoch beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.

Da ihr der Wind die Haare ins Gesicht wehte, band sie sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann holte sie eine Holzkugel ungefähr in der Größe eines Golfballs aus ihrer Tasche, umfasste sie mit beiden Händen und drehte die beiden Hälften in entgegengesetzte Richtungen. Eine durchsichtige Blase blubberte heraus, hüllte sie ein und verharrte dann so. Diese Taschentarnkugeln hatten nicht annähernd die Reichweite ihrer normalgroßen Versionen, waren aber genauso effektiv und vor allem wesentlich einfacher mitzunehmen.

Skulduggery holte seine eigene Tarnkugel heraus, drehte die beiden Hälften ebenfalls in entgegengesetzte Richtungen und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Sie steckte ihre Kugel wieder in die Tasche und trat näher an ihn heran. Ihre Tarnblase verband sich mit seiner, und plötzlich sah sie ihn wieder.

Nebeneinander stiegen sie eine Steintreppe hinunter. Ein Schneeschauer jagte ihnen im Dämmerlicht hinterher. Kurz bevor sie am Fuß der Treppe anlangten, hob Skulduggery die Hand. Auf der letzten Stufe glänzte ein Stolperdraht.

„Ganz schön hinterhältig“, fand Walküre.

Sie übersprangen die letzten paar Stufen, und kurz bevor sie landeten, fing Skulduggery Walküre auf, und sie blieben in der Luft stehen.

„Druckempfindliche Platten“, erklärte er.

„Noch hinterhältiger.“

Sie schwebten über den Gang und hielten am Ende kurz an, damit Walküre die Tür öffnen konnte. Auf der anderen Seite setzten sie auf dem Boden auf und nahmen die steinerne Wendeltreppe nach unten. Skulduggery ging voraus.

Im Flur standen zwei Wachen am offenen Fenster. Sie trugen schwarze Helme und Sicheln auf dem Rücken. Ripper. Es war eiskalt auf diesem Flur, doch sie standen reglos da, die Arme an den Seiten, als könnte die Kälte ihnen nichts anhaben, und beobachteten die Straße, die zum Schloss führte.

„Welchen willst du?“, fragte Skulduggery.

Walküre wies mit dem Kinn auf den am nächsten Stehenden. „Den da“, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass ihre Stimme außerhalb der Blase, die sie einhüllte, nicht zu hören war.

„Zähle bis zehn“, erwiderte Skulduggery, entfernte sich und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Walküre näherte sich dem Ripper von hinten. Bei zehn trat sie dicht an ihn heran. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der andere Ripper verschwand, als Skulduggery dasselbe tat.

Sie...