Dämmer und Aufruhr - Roman der frühen Jahre

von: Bodo Kirchhoff

Frankfurter Verlagsanstalt, 2018

ISBN: 9783627022631 , 480 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Dämmer und Aufruhr - Roman der frühen Jahre


 

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Das kleine alte Hotel am schmalen Strand von Alassio an der Riviera dei Fiori heißt Beau Sejour, Schöner Aufenthalt, und war für ein paar Tage der Traumplatz meiner Eltern, so heißt es im Ehebericht für das Jahr achtundfünfzig: Wir hatten etwas Traumhaftes in Alassio gefunden, das kleine Strandhotel Beau Sejour, und verbrachten dort die letzten unbeschwerten, märchenhaften Tage, für die wir dem lieben Gott danken. Wir saßen auf unserem Balkon im zweiten Stock, sahen auf das blaue Meer und wussten, dass wir wieder etwas Geld im Rücken hatten, die Firma wenigstens bis Jahresende gerettet wäre. Und danach? Daran durfte man gar nicht denken.

Sie hatten in Nizza die Lizenz für das am zuverlässigsten arbeitende medizinische Gerät aus einer nie ganz auf die Beine gekommenen Apparatebaufirma, in der ihrer beider Träume steckten, nach Frankreich verkauft, das von meinem Vater mitentwickelte handliche Tastotherm, ein immerhin schon elektronisches Instrument für die sofortige Messung der Körpertemperatur – ein kleiner warmer Regen für die bedrängte Firma, ein Teil davon bar auf die Hand. Der Überschwang meiner Mutter rührte wohl auch von dem sichtbaren Geld und war ansteckend genug, damit sie beide unbeschwert über die nahe Grenze nach Alassio fuhren, damals wie heute ein mondänes Seebad in einer von Bergen umgebenen Bucht, bekannt für ein mildes Klima, mit fast noch sommerlichen Tagen bis in den Oktober. Ja, es waren die letzten schönen Tage, ein im Jahresrückblick unterstrichener Satz, als hätte die Verfasserin damit auch die Tage mit ihrem Mann gemeint, während der Sohn, fast ein Menschenleben später, nur das gute Wetter aufnimmt, darin aber verborgen die Melancholie der letzten schönen Tage, mit dem Bangen, wie lange es noch so weitergehe. Jeden Morgen ist es ein Ausschauhalten nach ersten Wolken beim Hinaustreten auf den einzigen Balkon im zweiten Stock des alten Hotels, einst Ferienvilla einer italienischen Familie, dem Balkon des inzwischen begehrtesten Zimmers, schon im Jahr zuvor gebucht, nachdem ich in den Kladden meiner Mutter auf das Beau Sejour in Alassio gestoßen war. Über den Aufenthalt selbst steht dort kaum etwas, nur eben dass er märchenhaft gewesen sei und es im Hotel einen Leseraum gebe (den es noch gibt), man auf einer Terrasse mit Meerblick frühstücken könne und das Zimmer klein sei, mit auch schmalem Bett – alles in allem aber unbeschreiblich schöne Tage, auch wenn mein geliebter Mann oft etwas Fernes hatte, mit einem Wein und einer Zigarette auf dem Balkon, sein ohnehin schon dunkles Gesicht in der Sonne.

Das Bett in dem Zimmer ist inzwischen breiter, ein französisches Doppelbett, kein Kingsize, zumal in das Zimmer nachträglich Dusche und Toilette eingebaut worden sind, während alles Übrige, der Schrank, der Schreibtisch, die Bilder, auch die Balkonstühle und der kleine gusseiserne Außentisch, alt ist oder mir so alt erscheinen will, dass schon meine Eltern diese Stühle genutzt haben könnten, meine Mutter mit Kissen im Rücken, dabei die Füße an der Brüstung, wie einst auf dem Holzbalkon in dem Gasthof oberhalb des Schwarzsees, wenn sie ihre nächste Rolle memoriert hat oder einfach nackt in der Sonne saß, zwei rote Blüten auf den Lidern. Aber was ist das, sich am vermutlich letzten Glücksort seiner toten Eltern aufzuhalten, diesen Raum einzunehmen, ja darin zu schreiben? Eine stille Übertretung, als hätte man als Kind, nachts von rätselhaften Lauten geweckt, die elterliche Schlafzimmertür geöffnet; aber auch eine Verbeugung vor ihren Tagen hier, die sie sich aus dem Leben geschnitten hatten, den Kämpfen um den Erhalt der kleinen Firma – Unternehmer sein, Traum meines Vaters, der als Habenichts mit einem Bein aus dem Krieg kam – und den Kämpfen um den Erhalt der Ehe: Traum meiner Mutter, das Liebesglück mit dem idealen Mann bis ans Ende aller Tage. Die erste Nacht in dem Zimmer war noch zerrissen, traumzerfurcht, und in der zweiten Nacht hat schon das Meer geholfen, die Geräusche der Wellen, ihr Anrollen und Brechen am Strand vor dem Hotel; der alte Sohn einst junger Eltern, die das Zimmer bewohnt hatten – sein Vater zweiundvierzig, die Mutter vierunddreißig –, hat tief geschlafen und war am nächsten Morgen von einer Wachheit wie unter einer Droge, wenn sich das Chronologische auflöst, Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen nebeneinanderstehen und es keine Grenzen der Erinnerung mehr zu geben scheint.

Mit meinem vierten Geburtstag endete das Zweisame und zugleich Einsame der Mittagsschlafstunden in dem Dachzimmer mit dem Geruch des aufgeheizten Moorsees, der in Wellen hereinzog. Wir wechselten wieder in den Gasthof Vordergrub, damit Das Menscherl, wie die Wiener Großmutter ihr Einundalles nannte, auch gefeiert werden konnte. Sie, meine Hüterin, hatte für Gratulanten gesorgt, die Kinder der Wirtsleute eingeladen, einen Buben und ein Mädel, beide mit Spangen im frisierten Haar – Gott, wie adrett, hieß es, als sie auftauchten –, sowie die Buben von dem Bauernhof, auf dem ihre Schwester wohnte, sie kamen barfuß, aber gekämmt immerhin, und jemand machte ein Foto von der Geburtstagsrunde, lauter lachende Kinder, bis auf den kleinen Jubilar, der etwas Abweisendes um seinen Mund hat. Die Eingeladenen sind im Grunde Claqueure zum Bejubeln der ausgepackten Geschenke, Spielzeug aller Art, das sie anschauen und berühren dürfen, aber nicht ausprobieren. Nur das Geburtstagskind darf, nachdem die Gratulanten verabschiedet worden sind, mit einem Ball spielen und ein Blechauto anschieben, damit es von allein weiterfährt, in einem Bilderbuch blättern und schließlich, als Höhepunkt, einen Pappzylinder aufsetzen und den dazugehörigen Zauberstab auf die drei Frauen am Tisch richten. Es darf sie verzaubern, und weil auf der Wiese vor dem Gasthaus Hühner umherlaufen, verwandelt es sie, Abrakadabra, in Hennen: drei, die sich im Hennesein überbieten, gackern und flügelhaft die Arme bewegen, zum Erstaunen aller übrigen Gäste – ein Spektakel, das den Zylinderträger vergessen lässt, was ihm die Mutter in der letzten gemeinsamen Bettstunde, sich den schon leicht gewölbten Bauch streichelnd, als großes Geheimnis erzählt hat: dass er bald ein Geschwisterchen bekomme. Und so fühlt er sich jetzt noch ganz als der Alleinige und lässt sich Zeit, den Zauber wieder aufzuheben, während das Wesen, in das er selbst verwandelt wurde – ein Unkind, das schon haben will, was es hatte, das schon begehrt –, als ihm eigenes Wesen bleibt. Unauslöschlich eingebrannt ist dieser Alpensommer, jedes Geschehen darin, alles so schrecklich Schöne, das unter keinem guten Stern stand, letztlich noch unter dem Unstern, dem Desastrum, das die elterliche Welt keine zehn Jahre zuvor heimgesucht hatte und das, von Kitzbühel und ähnlichen Orten abgesehen, noch überall sichtbar war.

Das Hamburg meiner ersten Jahre war ein Hamburg der entmutigenden, ihrer Farbe beraubten Farben, mit dem rußigen Klinkerrot der Häuser, dem Grau des Hafenwassers, der Werften, des Himmels; dem Düsteren der Speicher mit den Spuren von Ebbe und Flut, dem Schwärzlichen der Kanäle. Dazu am Abend das fahle Licht der Laternen, das Geduckte der Brücken, der eilige Heimweg, die Zigarette in hohler Hand, als gäbe es noch immer Verdunklung und ein Leben mit eingezogenem Kopf. Noch schien der Krieg durch seine Zeugnisse über den Menschen zu wachen, mit Ruinen, mit Bunkern, mit wie ausgebrannten Hochbahnstationen. In den Zügen standen Männer mit leerem Jackettärmel, die Hand, die sie noch hatten, am Haltegriff, während Männer mit leerem Hosenbein auf den Plätzen für Schwerkriegsverletzte saßen, die hochgeschlagenen Hosenbeine oder Ärmel oft nur lose angenäht, als würden sie noch einmal gebraucht, weil das Bein und der Arm vielleicht wieder nachwachsen, wenn es auch allgemein aufwärtsgeht. Aber von diesem Aufwärts war in Hamburg noch nichts zu sehen. Es herrschte ein Halblicht zwischen Tag und Nacht, die Sonne schien lediglich rund um die Alster, das war der Eindruck; dort waren die Villen auch hell (wie eine Vorstufe zu ihrem heutigen Unschuldsweiß), und der Mercedes vor der Tür war schwarz. Noch hielten sich die Reichen im Hintergrund, das Hamburg meiner frühen Kindheit war eine Arbeiterstadt, ein geschundener, aber in sich zäher Stadtleib, mit nicht totzukriegenden Organen, St. Pauli, St. Georg, Altona, Hoheluft oder Winterhude – ich führte diese Namen im Mund, wie die Namen von Spielgefährten, die es nicht gab. Und ich mochte es, an den Ruinen vorbeizugehen, oft noch mit einem kleinen Laden darin, einem Milchgeschäft im Souterrain, oder einer einzelnen Wohnung im ersten Stock, einem Fenster mit Gardine zwischen Ausgebranntem, so gerettet wie verloren. Bis auf die Pracht um die Außenalster ist mir nichts froh in eine Zukunft Weisendes aus den frühen Hamburgjahren in Erinnerung, und letzten Endes zielte die ganze elterliche Anstrengung darauf, aus dieser allgemeinen Düsternis an ein bleibendes Licht zu kommen. Das Desaster des Krieges, das zwei alles andere als füreinander Bestimmte vereint hatte, blieb für die beiden Entronnenen folgenschwer, mit den sichtbaren Folgen der Zerstörung und mehr noch den unsichtbaren, vor allem der ständigen Sorge, wieder in das Chaos zurückzufallen und nur durch unaufhörliche Anstrengungen die Bresche in eine bessere, die hellere Zukunft offenhalten zu können.

Vereint, ein zu romantischer Begriff für das, was zu dieser Verbindung geführt hatte. Ein Zahnarzt und Angehöriger der SA, mit dem meine künftige Großmutter im Wien der letzten Kriegsmonate wohl etwas mehr als eine Affäre gehabt hatte, war mit einem jungen Hauptmann, der dort nach einer Beinamputation im Lazarett lag, in irgendeiner Form bekannt genug, um ihm gegenüber die schöne Tochter seiner getrösteten Kriegerwitwe mehr als einmal zu erwähnen, eine...