Meersalzküsse

von: Tanja Janz

Arena Verlag, 2018

ISBN: 9783401807928 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Meersalzküsse


 

Prolog

Drei Jahre zuvor

Nebelfelder lagen an diesem Sonntagmorgen über der menschenleeren Sandbank und saugten die Strahlen der Oktobersonne auf wie ein Schwamm. Im morgendlichen Dunst erhoben sich die Pfahlbauten, in denen Restaurants und Cafés beheimatet waren, majestätisch in luftigen sieben Meter Höhe über dem Strand.

Auch die Segelschule von St. Peter-Ording, die sich direkt am Ordinger Strand befand, war in den fahlen Schleier gehüllt, der sie vom Rest der Halbinsel abzuschneiden schien. Vor dem blau-weißen Holzzaun standen etwa zwanzig Mitglieder des Clubs, die ungeduldig auf den Segellehrer warteten und immer wieder zu dem menschenleeren Strand schauten, den sie schon bald erobern wollten. Hinter ihnen standen Segelwagen und ein Schild, auf dem Yachthafen – Yachtclub St. Peter-Ording zu lesen war. Alle Clubmitglieder hatten sich bei dem kühlen Wetter winddichte Softshelljacken übergezogen und Schals umgebunden. Einige von ihnen trugen sogar Thermoanzüge.

»Na, endlich! Dahinten kommt Henner!«, rief eine Frau mit lockigem Haar und zeigte den asphaltierten Weg entlang. Die Köpfe der restlichen Mitglieder flogen herum und alle Blicke folgten ihrem Fingerzeig.

»Das wird ja auch Zeit«, sagte ein Mädchen, das eine Strickmütze mit einem großen Bommel trug, und rieb ihre Handflächen aneinander.

»Wieso? Kriegst du etwa Frostbeulen, Schwesterherz?«, neckte sie der Junge neben ihr mit einem breiten Grinsen.

»Das hättest du wohl gerne, Brüderchen!«

Der Junge nickte. »Würde bestimmt interessant an dir aussehen«, antwortete er übermütig.

»Na warte!« Das Mädchen lachte und nahm ihn spielerisch in den Schwitzkasten, entließ ihn aber schnell wieder aus ihrem Griff, als der Segellehrer auf seinem Fahrrad näher kam. Er hatte den Oberkörper tief über das Lenkrad gebeugt und musste gehörig in die Pedalen treten, um sich gegen den Wind behaupten zu können.

»Moin! Heute geht ’ne ordentliche Brise«, sagte er gehörig außer Puste, als er bei den Wartenden angekommen war. Dann stieg er vom Rad und schob es auf den Platz zu den Segelwagen. »Da werdet ihr nachher mit locker fünfzig Stundenkilometern über den Strand fliegen!«, prophezeite er ihnen.

»Juhu!«, riefen die Geschwister und gaben sich ein High Five.

»Dann wollen wir unseren Flitzer mal einweihen, was, Kinder?«, sagte ein Mann, der neben ihnen vor einem dreisitzigen Gefährt kniete und eine Leine an einem Karabinerhaken befestigte.

»Sieht richtig schnittig aus, euer Wägelchen«, meinte Henner und betrachtete den speziellen Strandsegler, der neben den üblichen zwei Sitzen hintereinander auch noch über eine zusätzliche Sitzschale rechts vom Fahrer verfügte.

»Alles Marke Eigenbau und in Zusammenarbeit mit meinen Wirbelwinden entstanden«, sagte der Mann und schaute voller Stolz auf seine Kinder.

»Wenn das mal keine waschechte Familienkutsche ist!«, scherzte der Segellehrer und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Sollte ich mit meiner Tochter auch mal in Angriff nehmen. Was, Rike?«

Ein Mädchen mit langen braunen Haaren, das ebenfalls den Dreisitzer bewundert hatte, verdrehte die Augen. »Du weißt doch, dass ich handwerklich mit zwei linken Händen ausgestattet bin, Papa.« Sie zwirbelte ihren Pferdeschwanz zu einem Dutt zusammen und befestigte ihn mit einem Haargummi. »Außerdem segel ich lieber solo.«

»Schon gut, schon gut. War ja nur eine Idee«, erwiderte Henner lachend und hob die Hände.

Auf ein Zeichen von Henner hin zogen die Landsegler sich Handschuhe über und setzten Schutzhelme und Schutzbrillen auf. Als alle fertig waren, schoben sie die Segelfahrzeuge hintereinander in Position und banden sie aneinander fest. Wenig später tuckerte ein Bus mit den Wagen im Schlepptau zu einem abgegrenzten Bereich am Strand, der den Strandseglern zur Verfügung stand. Der Nebel hatte sich mittlerweile wie erwartet gelichtet und der Sonne das Feld überlassen.

»Ihr wisst ja, lenken über die Fußpedale und immer schön rechts vor links beachten. Und wenn ihr zu viel Speed draufhabt, dann gleich abbremsen. Den Wagen schön gegen den Wind steuern und so zum Halten kommen«, erinnerte Henner die Clubmitglieder, die sich im Halbkreis um ihn herum aufgestellt hatten. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, ging es auch schon los. Die Leute kletterten in ihre Landsegler und umfassten startklar die Segelleinen.

»Lenkung sauber? Schot frei?«, schloss Henner noch schnell den obligatorischen Vorflugcheck ab, bevor der Wind auch schon kräftig in die Segel blies und die Wagen sogleich schwungvoll in Bewegung setzte.

Geräuschlos glitten die Landsegler in den windschnittigen Wagen in fast waagerechter Haltung über den harten Strand. Die Wagen glichen Kajaks mit Segeln, die auf drei breiten Gummireifen über den Strand fegten. Die meisten von ihnen waren Einsitzer. Hier und da konnte man auch Wagen mit zwei Sitzen hintereinander ausmachen.

Henner beobachtete fasziniert den selbst gebauten Dreisitzer, der von dem Vater des Geschwisterpärchens gesteuert wurde. Fast zwei Jahre lang hatte er an dem Geschoss gefeilt, gezimmert und herumgetüftelt, bis es endlich für den heutigen Tag bereit zum Start war. Der Junge saß gleich hinter ihm und das Mädchen neben ihrem Vater. Die Mutter der Kinder sah man nur selten im Yachtclub. Sie konnte dem Strandsegeln keine Begeisterung abgewinnen. Da war sie genau wie seine Frau. Zum Glück kam seine Tochter Rike nach ihm, die seit einigen Jahren ebenfalls vom Strandsegelvirus infiziert war, der hauptsächlich aus dem Rausch der Geschwindigkeit bestand, wobei der Adrenalinspiegel genauso schnell in die Höhe schoss, wie der Standsegler an Fahrt gewann.

Der Dreisitzer ging mit hohem Tempo in eine Kurve und der Wind trug aus der Ferne die Jubelschreie der Teenager und das Kreischen der Möwen zu ihm herüber. Der Vater der Kinder war ein langjähriges Mitglied des Yachtclubs und obendrein ein erfahrener Fahrer, der über einen DSV-Pilotenschein verfügte. Er wusste genau, was er tat, und konnte die wirkenden Kräfte aus Wind und Geschwindigkeit beim Strandsegeln realistisch einschätzen. Um den Wagen und seine Insassen musste Henner sich also keine Gedanken machen.

Er löste seinen Blick von dem Dreisitzer, um seine Aufmerksamkeit auch den übrigen Segelführern zu widmen – speziell seiner Tochter. Zufrieden beobachtete er die anderen Piloten. Selbst die Mitglieder, die erst seit Kurzem dabei waren, fuhren schon ordentlich und sicher, stellte er lächelnd fest. Im Gegensatz zum Segeln lernten seine Kursteilnehmer das Strandsegeln in relativ kurzer Zeit und konnten schnell mit den Fortgeschrittenen mithalten.

Eine kräftige Böe ergriff das Segel seiner Tochter und verlieh ihrem Wagen noch mehr Geschwindigkeit. Gekonnt überholte sie den Strandsegler neben sich. Bei Rike hatte es weniger als zwei Monate gedauert, bis sie so routiniert wie ein alter Hase über die Sandbank geflitzt war. Seine Tochter war im wahrsten Sinne des Wortes ein Naturtalent, wenngleich eines von der waghalsigen Sorte. Eine echte Draufgängerin, die sich vor dem Strandsegeln nicht fürchtete.

Gedankenverloren beobachtete er Rike und vergaß dabei für einen Moment die Welt um sich herum. Seine Tochter beschleunigte nun. Die kräftige Seebrise blähte das Segel auf, Wasserfontänen aus vollen Prielen spritzten unter dem Segelwagen empor. Rike beherrschte das millimetergenaue Spiel an der Schot und peitschte schnell wie ein Sturm über die Sandbank.

Henner legte eine Hand wie einen Schirm an seine Stirn, um die Sonnenstrahlen abzuschotten. Er schätzte, dass Rike nun über hundert Sachen in der Stunde draufhatte. Obwohl er seiner Tochter vertraute, spannte sich alles in ihm an. Langsam könnte sie das Tempo ruhig wieder runterfahren, dachte er, wobei ihm im nächsten Augenblick der Atem stockte. Rike setzte bei der hohen Geschwindigkeit zu einer Wende an. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Das war doch Wahnsinn! Er wollte ihr eine Warnung zurufen, doch in dem Moment leitete sie das Manöver schon ein und verlor durch den Schwung die beidseitige Bodenhaftung der Räder. Sie schoss, auf eine Seite gekippt, um die Kurve.

Ein lauter Knall durchbrach das friedliche Dahingleiten am Strand. Henner zuckte zusammen, atmete im nächsten Moment aber auf. Rike hatte ihre waghalsige Wende gemeistert und fuhr wieder im langsameren Tempo über den Strand. Doch kaum hatte er realisiert, dass seine Tochter wohlauf war, fuhr er herum und suchte nach der Ursache für den Knall. In ungefähr 250 Meter Entfernung entdeckte er einen stehenden Strandsegler. Der Dreisitzer! Oh nein! Henner wurde heiß und kalt zugleich. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und er rannte los. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals so schnell in seinem Leben gelaufen war, und trotzdem hatte er das Gefühl, als käme er auf dem sandigen Untergrund und durch den Wind von vorn nur im Schneckentempo vorwärts.

Seine Gedanken stolperten durcheinander. Das konnte doch nicht sein! Es war doch bisher nie etwas passiert! Er zwang sich dazu, Ruhe zu bewahren, und kramte stattdessen sein Wissen als ehemaliger Rettungssanitäter hervor und darüber, was in einer...