Someone New

von: Laura Kneidl

LYX, 2019

ISBN: 9783736308633 , 534 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Someone New


 

1. Kapitel


Wie lange muss ich das wohl noch ertragen?

Die Frage stellte ich mir zum wiederholten Mal an diesem Abend, während mich Gwendoline Finn, die beste Freundin meiner Mom, von Kopf bis Fuß musterte. Abschätzend ließ sie den Blick von meinen schwarzen Haaren mit dem kurzen Pony über mein Louis-Vuitton-Kleid hinab bis zu meinen Schuhen gleiten – ein altes Paar Jimmy Choos aus der vorletzten Frühjahrskollektion. Sie rümpfte die Nase, was in ihrem vom Botox versteinerten Gesicht allerdings nur als ein leichtes Zucken zu erkennen war.

Doch ich lebte schon von klein auf in dieser Welt, und mit der Zeit hatte ich gelernt, in den regungslosen Mienen der High Society zu lesen.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie nicht nach Yale gehen werden«, sagte Mrs Finn. Ihr Tonfall war übertrieben freundlich und gleichzeitig distanziert, als würde sie mich nicht bereits seit meiner Geburt kennen. Dabei hatte sie miterlebt, wie ich mir als Baby in die Hose gemacht und als Kleinkind den Mund mit Sandkuchen vollgestopft hatte.

»Da haben Sie richtig gehört«, antwortete ich. Ich fühlte mich wie Sam Winchester in der Serie Supernatural, als er dazu verdammt worden war, seinen Bruder immer wieder auf unterschiedliche Arten sterben zu sehen. Ich wiederum war verflucht, an diesem Abend immer und immer wieder das gleiche Gespräch zu führen. Die Unterhaltungen variierten zwar in der Wortwahl, aber sie endeten alle auf dieselbe Weise: mit Unverständnis und Verachtung.

»Und Sie werden tatsächlich das örtliche College besuchen?«

Ich sah sehnsüchtig zu einem der Ausgänge, ehe ich nickte.

Mrs Finn starrte mich fassungslos und mit einem Hauch von Ekel an, als befürchtete sie, ich könnte mir am MFC – dem Mayfield College – eine ansteckende Krankheit einfangen.

Mir lag auf der Zunge, sie darüber aufzuklären, was für einen guten Ruf das MFC genoss, aber sie hätte es ohnehin nicht verstanden. Alles, was nicht Yale, Brown, Dartmouth, Harvard oder Princeton war, lag vermeintlich unter der Würde dieser Menschen; nur ein Auslandssemester in Europa war darüber hinaus noch akzeptabel.

»Aber Sie planen weiterhin, Jura zu studieren, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, erwiderte ich mit einem falschen Lächeln und versuchte, nicht daran zu denken, wie sehr ich die nächsten Jahre hassen würde. Tatsache war, dass ich mich weder für Politik oder Gesetze noch unseren Rechtsstaat interessierte. Während der Anwaltsberuf in der Theorie für mehr Gerechtigkeit auf der Welt sorgte (was eine schöne Vorstellung war), bedeutete er in der Praxis vor allem, reiche Menschen noch reicher und arme Menschen noch ärmer zu machen, zumindest entsprach das meinen Beobachtungen der letzten Jahre.

»Das freut Ihre Eltern mit Sicherheit«, sagte Mrs Finn, aber was sie wirklich meinte, war: Zumindest ziehst du den Namen eurer Familie nicht noch weiter in den Dreck, indem du Kunst studierst. »Und Ihr Bruder? Er reist gerade durch Europa, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete ich gelangweilt. Wieso nervte mich diese Frau mit Fragen, auf welche sie die Antworten bereits kannte? Na ja, zumindest kannte sie die Lügen, die meine Eltern verbreitet hatten. Die Wahrheit war in ihren Augen zu beschämend, um mit der Allgemeinheit geteilt zu werden. Dabei waren sie diejenigen, die sich schämen sollten.

»Mein Ältester, Carter, hat einige Monate in Italien verbracht. Eine wunderbare Erfahrung.« Mrs Finn hob die Hand und winkte eine Kellnerin heran.

Sofort kam die junge Frau in schwarzer Stoffhose, weißem Hemd und dunklen Hosenträgern durch den Raum geeilt. Die Haare hatte sie straff nach hinten gebunden, und obwohl sie lächelte, war ihr Blick leer. Sie wollte genauso wenig hier sein wie ich. Dennoch hielt sie Mrs Finn, ohne mit der Wimper zu zucken, ihr Tablett hin, damit diese ihre leere Champagnerflöte darauf abstellen und sich eine volle nehmen konnte. »Gibt es noch Hummerhäppchen?«

»Ich werde in der Küche nachsehen.« Die Kellnerin hielt mir ebenfalls das Tablett entgegen.

Kopfschüttelnd lehnte ich ab, auch wenn ein wenig Alkohol den Abend sicherlich erträglicher gemacht hätte. Nur war es als Tochter zweier Anwälte nicht wirklich ratsam, gegen das Alkoholgesetz zu verstoßen, vor allem nicht in der Anwesenheit von Klienten, die ihnen Millionenbeträge anvertrauten.

»Michaella, da bist du ja!«

Die Stimme meiner Mom, die geradewegs auf uns zugelaufen kam, ließ mich und Mrs Finn aufblicken. Sie trug ein dunkles Kostüm mit plissiertem Rock, und ihre Stöckelschuhe klackerten auf dem polierten Marmorboden. Anders als viele ihrer Freundinnen hatte meine Mom ihr Gesicht noch nicht mit Botox unterspritzen lassen, aber etliche Schichten Make-up kaschierten ihre Falten und verdeckten die Sommersprossen, die auch ich auf der Nase trug.

»Ich suche schon die ganze Zeit nach dir, um dir jemanden vorzustellen. Kennst du Marshall Millington bereits?« Sie deutete vielsagend auf den jungen Mann, den sie im Schlepptau hatte. Er war vermutlich in meinem Alter, achtzehn oder neunzehn, aber sein grauer Anzug war identisch mit dem, den mein Dad heute trug.

»Es freut mich, dich endlich kennenzulernen«, sagte Marshall und streckte mir die Hand entgegen. Er hatte ein niedliches Lächeln.

Ich ergriff seine Hand. »Marshall Millington. Schöne Alliteration. Bist du ein Superheld?«

»Wie bitte?«

»Na ja, wie Peter Parker oder Wade Wilson«, erläuterte ich.

»Wer sind diese Leute?«, fragte er verständnislos und sah Hilfe suchend zu meiner Mom, die mir einen mahnenden Blick zuwarf und kaum merklich den Kopf schüttelte. Es gehörte sich nicht für eine junge Frau, über Superhelden und Comics zu reden. Das war allein Kindern vorbehalten, und auch da nur den Jungs, zumindest in der mittelalterlichen Welt, in der meine Eltern lebten.

»Spider-Man? Deadpool? Oder der Hulk? Bruce Banner.«

Die Verwirrung in Marshalls Augen wurde nur noch größer. Wie konnten diese Leute angeblich so weltgewandt sein und gleichzeitig hinterm Mond leben? Hätte ich Anstoß für ein Gespräch über die Wall Street gegeben, hätte Marshall vermutlich einen stundenlangen Monolog über Aktien, Geldkurse und den Weltmarkt halten können.

»Mach dir nichts draus«, kam ihm meine Mom zu Hilfe. »Mir sagen diese Namen auch nichts. Michaella hatte schon immer einen sehr speziellen Geschmack. Wahnsinnig charmant.« Sie tätschelte Marshall die Schulter, wobei die goldenen Armbänder an ihrem Handgelenk klimpernd gegeneinanderschlugen.

»Mrs Finn?« Die Kellnerin war zurück. Das Tablett mit den Champagnerflöten hatte sie gegen eines mit Häppchen ausgetauscht.

Mrs Finn, meine Mom und Marshall nahmen sich jeweils einen der kleinen Porzellanteller und bedienten sich an den Horsd’œuvres.

»Willst du nichts essen?« Mom sah mich fragend an.

»Nein danke, ich habe keinen Hunger«, log ich. In Wahrheit war ich kurz davor zu verhungern, aber ich wollte nicht schon wieder erklären müssen, wieso Hummer und Kaviar nicht in meine vegetarische Ernährung passten, also sparte ich mir den Atem.

Mit gespieltem Interesse hörte ich Marshall zu, wie er von seinem Praktikum bei einer Zeitung erzählte und davon, wie er Donald Trump Jr. hatte interviewen dürfen. Natürlich war er Republikaner, was sonst? Ich blieb, bis sich die Unterhaltung unserem Präsidenten zuwandte und ich es keine Sekunde länger aushielt. Mit der Ausrede, mich frisch machen zu wollen, eilte ich davon, bevor mich weitere Klienten und Geschäftspartner meiner Eltern ansprechen konnten.

Ich durchquerte den Salon mit den hohen Decken, der dunklen Polstergarnitur und dem gigantischen Erkerfenster, das sich zum Garten hin öffnete. Doch statt ins Badezimmer flüchtete ich in die Küche. Die lauten Stimmen und grellen Lacher hinter mir wurden leiser, und ich atmete das erste Mal seit zwei Stunden erleichtert auf.

Obwohl sich meine Eltern nie in der Küche aufhielten, war sie so groß wie ein Ein-Zimmer-Apartment und verfügte über einen professionellen Herd, wie ihn sich jeder Fünf-Sterne-Koch in seinem Restaurant wünschen würde. Gekocht wurde hier allerdings nur von ihrer Haushälterin, Rita. Nicht mal die Häppchen, die das Cateringpersonal verteilte, waren hier zubereitet worden. Überall standen mit Folie abgedeckte Tabletts und Aufbewahrungsbehälter herum.

Ich öffnete den Kühlschrank, ein monströses Teil aus Edelstahl mit zwei Türen und genug Platz, um Lebensmittel für eine zehnköpfige Familie zu horten. Trotzdem herrschte darin gähnende Leere, mit Ausnahme irgendwelcher Smoothies und weiterer Horsd’œuvres. Nachdem ich den Kühlschrank wieder geschlossen hatte, zog ich mir meine Jimmy Choos aus und kletterte auf die Anrichte, was sich in dem schmal geschnittenen Kleid als ziemliche Herausforderung erwies. Da meine Eltern keinen Industriezucker im Haus duldeten, versteckte Rita im hintersten Eck in einem der Schränke immer ein paar Schokoriegel für mich. Aber mein Lager war leer.

»Fantastisch«, murmelte ich genervt und war gerade dabei, von der Anrichte zu klettern, als die Tür hinter mir aufgestoßen wurde. Ich zuckte zusammen und musste mich an einem der Küchenschränke festklammern, um nicht abzurutschen. Shit. Langsam drehte ich mich um in der Erwartung, Mom wäre mir gefolgt. Seit einem Vorfall von vor zwei Jahren ließ sie mich bei dieser Art Veranstaltungen nur noch selten aus den Augen. Doch es war nicht meine Mutter, die in die Küche gekommen...