Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an

von: Veneda Mühlenbrink

Ulrike Helmer Verlag, 2018

ISBN: 9783897419551 , 250 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an


 

Prolog


Der Schreibtisch im Arbeitszimmer ist über und über mit Notizzetteln bedeckt, eiligst bekritzelt in fast unleserlicher Schrift, es muss immer schnell gehen, wenn es sich um Luise dreht. Bücher über Stadtgeschichte stapeln sich zu einem schiefen Turm, längst hätten sie zurückgebracht werden müssen in die Bibliothek. Ausgedruckte Internetseiten über die Zwanziger Jahre, eine Kurzbiographie über Adele Sandrock liegen unter Kopierpapier. Es ist halb acht abends, seit Stunden sitzt Valerie vor dem PC, ihr Rücken schmerzt. In der Pappschachtel vor dem Drucker liegt eine kalte Pizza Salami mit Champignons und die Flasche Rotwein von gestern steht noch auf dem Fensterbrett.

Hier arbeitet sie am liebsten. Leider gibt es da noch den anderen Schreibtisch, den in ihrem Büro am anderen Ende der Stadt. Am Morgen hat sie sich wie immer beeilt, dorthin zu kommen, nur um möglichst früh wieder heim zu können. In der Nacht hatte es geschneit, Autos mit Sommerreifen waren vor ihr hergeschlittert. Plötzlich bog ein Bestattungswagen in die Straße ein und nahm ihr die Vorfahrt.

Der brauchte wohl neue Kundschaft! Sie stieg kräftig in die Bremsen und unterdrückte ein lautes Fluchen. Durch die halb satinierte Rückscheibe war der Deckel des Sarges sichtbar, geschmückt mit einem Blumenbukett aus gelben Tulpen. Luise liebt die Farbe Gelb, ihren Sarg sollen einmal Sonnenblumen zieren. Und wenn der Himmel noch so düster ist, diese Blume fängt selbst den kleinsten Sonnenstrahl, sagt sie. Valerie blinkte links, an der nächsten Ecke rechts, der Bestattungswagen ließ sie folgen.

Seit Wochen ist sie nicht mehr bei Luise gewesen. Weihnachten waren Luises Verwandte zu Besuch gekommen, Silvester war eine alte Freundin von ihr über Nacht geblieben und Valerie hatte an ihrem Manuskript gearbeitet. Ende Januar rief Luise an und fragte zaghaft: »Wann kommst du mich wieder besuchen? Bist du immer noch böse auf mich?«

Nein, böse konnte sie ihr nie sein, aber enttäuscht und zutiefst verletzt blieb sie dennoch.

Es war Luises Siebenundneunzigster gewesen. Schon zwei Monate davor hatte Luise sie jedes Mal gefragt, ob sie denn auch zu ihrer Feier käme. Schließlich könnte dieser Geburtstag ja nun der letzte sein. Hoffentlich. Dabei hatte sie die Hände gefaltet und nach oben geschaut. Schließlich hatte Valerie ihr den Gefallen getan, einen Strauß gelber Rosen erstanden und an die Tür von Zimmer 217 geklopft. Vertraut erklang Luises »Herein!« nach fast zwei Jahren, in denen sie jeden Donnerstag hier angeklopft hatte; nur an diesem besonderen Tag, ihrem Geburtstag, war es ein Mittwoch gewesen.

Das kleine Zimmer quoll fast über vor Möbeln und Menschen. Mindestens acht Frauen, junge, ältere, aber keine von den Heimbewohnerinnen, redeten gleichzeitig, schenkten Kaffee ein und schoben sich Zuckerkuchen in den Mund. Alle kannten sich, doch keine kannte Valerie.

Wer ist das, fragten die Blicke Luise. »Kommen Sie, hier ist noch Platz, setzen Sie sich.« Eine Frau stand auf, um eine saubere Tasse zu holen.

»Wer hat dich denn eingeladen?«

Valerie glaubte im ersten Moment an einen von Luises Scherzen. Sie umarmte sie zur Gratulation und flüsterte ihr ins Ohr: »Sehr witzig!«

»Luise«, riefen sie, »stell uns die Dame doch mal vor! Woher kennt ihr euch?« Luise schaute zu Valerie, als wäre sie ihr völlig fremd: »Hab ich dich eingeladen?«

Sie meinte es tatsächlich ernst. Wen rufst du dreimal die Woche an? Ihre Telefonnummern sammelt sie in einem Jutebeutel. Die Zettel mit den Zahlen werden seit Jahren immer größer, ihre Augen immer schlechter. Valeries Nummern, Privat, Büro, Handy, stehen auf einem Pappschild, dick und schwarz. Wer schmuggelt regelmäßig eine Flasche Prosecco ins Wilhelminenstift? Wer hat auch schon mal beim Wechseln der Windel geholfen? Mit wem tanzt du am Rollator nach »Jump« von den Pointer Sisters? Wer hat die Schatulle deiner geliebten Mutter mit der wertvollen Holzintarsie wieder repariert, nachdem die Pflegeschülerin sie vom Regal gefegt hatte? Wem hast du erzählt, dass du in deinem Leben nur Frauen liebtest?

Nein, sagte Valerie leise. Sie könne sowieso nicht bleiben, habe leider keine Zeit, habe nur kurz vorbeischauen und gratulieren wollen. Schnell murmelte sie ein Auf Wiedersehen und schloss die Tür hinter sich. Draußen lehnte sie den Kopf gegen die Wand, atmete flach und kämpfte mit der in ihr aufsteigenden Wut. Bis plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter lag. Ildigo, die rumänische Ärztin. Dabei hatte sie sie gar nicht kommen hören.

»Ist dir nicht gut? Was ist los, Valerie, willst du schon wieder gehen? Luise hat sich den ganzen Tag auf deinen Besuch gefreut!«

»Digo, lass mich, ich muss hier raus!« Sie drehte sich um und lief los, ohne Ildigos Reaktion abzuwarten.

Am späteren Abend, es war bereits nach zehn, klingelte das Telefon. Vielleicht war es Renée, die in Alice Springs ahnte, dass es ihrer liebsten Freundin gerade nicht gut ging, was viel zu milde beschrieb, wie elend Valerie sich fühlte.

Ein leises Schluchzen begrüßte sie am anderen Ende der Leitung. »Verzeih mir, bitte vergib mir für das, was ich heute getan habe!« Unter Tränen stammelte Luise die Worte in den Hörer. »Aber was hätte ich denn sagen sollen? Freunde aus Grünau waren da, meine Familie, ich kann ihnen doch nicht sagen, wer du bist, was du für Bücher schreibst, was du über mich schreiben wirst! Verzeih mir, Valerie, bitte! Ich war einfach überfordert.«

»Du hast mir verdammt weh getan, weißt du das?« Valerie konnte nicht länger an sich halten. »Endlich kann ich Emilie verstehen!«

Nie wieder, schwor Luise, nie wieder werde sie Valerie verleugnen. Und sie könnte den Gedanken nicht ertragen, sie vielleicht nie wiederzusehen.

In den letzten sechs Jahren hatte die Greisin mit Gott gehadert. Es sei doch jetzt genug, ein erfülltes Leben, nicht immer fromm gewesen, sicherlich, aber niemals schlecht. Er da oben habe sie womöglich vergessen! Was in seinem Namen solle denn jetzt noch passieren mit sechsundneunzig Jahren? Dann war sie Valerie begegnet und sie hatte zu erzählen begonnen.

Nie hatte es eine Chronologie in ihren Erzählungen gegeben. Die Erinnerungsbruchstücke fügten sich während der Gespräche zusammen und ein einziges Stichwort ließ aus einer Zweiunddreißigjährigen plötzlich wieder eine Siebzehnjährige werden. Stand sie eben noch vor ihrem ausgebombten Elternhaus, so saß sie im nächsten Moment im Zug ins Berlin des Jahres 1929.

Nach mehreren Wochen verzieh ihr Valerie. Es war bereits Mitte Februar, als sie zusammen im Stiftgarten saßen, die Sonne schien, als wollte sie den Kalender Lügen strafen, und Luise streichelte Valeries Hand.

»Wir sitzen hier wie ein verliebtes Pärchen«, sagte Luise und zeichnete mit der Fingerspitze die Adern auf Valeries Handrücken nach. »Jetzt habe ich dir alles von mir erzählt, die Zeitreise ist zu Ende.«

»Meine liebe Seele, deine neue Liebe wird dich finden, nur versteck dich nicht gar zu sehr«, sagte sie ein andermal.

Unter all den Notizen auf ihrem Schreibtisch findet Valerie einen Brief, den ihr Luise vor einiger Zeit geschrieben hatte:

Bei unseren Treffen habe ich wieder in mein Leben zurückgeblickt und für mich erfahren, wie sehr ich eines immer verdrängt habe – Gefühle. Solche offenen Gespräche, wie wir sie führen, sind in meinem Freundeskreis nicht üblich. Ich höre gerade einen Roman von Stendhal. Er erzählt von Menschen, die erfahren, wie viel Leid man der Liebe wegen ertragen kann. Ich hatte immer Angst davor, aber du nicht.

Deine Luise

Das Telefon klingelt.

»Ja, hallo?«

»Spreche ich mit Valerie?«

»Ja.«

»Mein Name ist Okka Reinstahl. Ich bin eine Freundin von Luise und sie hat mich gebeten, Sie anzurufen, wenn es soweit ist. In ihren Unterlagen fand ich Ihre Telefonnummern. Sie müssen ihr sehr wichtig gewesen sein.«

Valerie schluckt. »Was ist passiert?«

»Sie ist vorgestern eingeschlafen, ganz friedlich. Ich dachte, Sie möchten vielleicht morgen zu ihrer Beerdigung kommen. Vielleicht lernen wir uns ja kennen, es würde mich freuen.«

Valerie schluckte. Wie einfach sich solche Dinge sagen ließen. »Ich danke Ihnen, dass Sie mich angerufen haben. Natürlich werde ich kommen.«

Oder besser nicht. Luise hätte ein Problem damit gehabt, schließlich würden dort die ganzen Freunde und Verwandten sein, die in all den Jahren so selten zu Besuch gekommen waren. Vielleicht sollte sie doch erst übermorgen ans Grab gehen, alleine von Luise Abschied nehmen. Einmal...