Tote lesen keine Krimis

von: Rudolf Strohmeyer

Hybrid Verlag, 2022

ISBN: 9783946820369 , 236 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Tote lesen keine Krimis


 

1. Teil - Jahr 2004 – In der Todesspirale


 

Montag, 2. August 2004, 9 Uhr

 

»Sie heißen Mustermann?«

»Nein, nein. Wirzmair. Peter Wirzmair.«

Der Vereinssekretär runzelte die Stirn. Dann sah er kurz aus dem Fenster und wehrte sich gegen den Gedanken, er vergeude sinnlos wertvolle Zeit. Da der Anblick einer malerischen Wolkenformation ihn zu sehr abzulenken drohte, riss er sich zusammen und sagte:

»Aber hier im Formular schreiben Sie Max Mustermann.«

»Ja, schon, das stand so da, im Internet, der Vordruck, da war das ausgefüllt! Ehrlich!«

Der Vereinssekretär seufzte, blickte dann mit entsagungsvoller Miene auf sein Gegenüber.

»Herr Wirzmair, das meinen Sie jetzt aber nicht im Ernst. Der Vordruck ist ausdrücklich als Muster, als Beispiel gekennzeichnet. Zum Glück haben Sie« (hierbei schweifte sein Blick über die weiteren 35 Seiten des Fragebogens) »die restlichen Angaben eigenständig beantwortet.«

»Da war ja auch nichts vorgedruckt«, warf Wirzmair ein, wobei tatsächlich ein Hauch von Vorwurf in seinen Worten mitschwang.

Der Herr im schwarzen Anzug reckte sich ein wenig in die Höhe und wappnete seine Stimme mit autoritärer Strenge:

»Sie wissen schon, dass die Mitgliedschaft in unserer Vereinigung die volle geistige Zurechnungsfähigkeit voraussetzt, Herr Peter Wirzmair!«

»Ja, ja natürlich. Aber wie kommen Sie denn …«

Der Schwarzgekleidete unterbrach.

»Zunächst einmal interessiert uns, wie Sie auf unsere Vereinigung gestoßen sind?

»Nun, ich habe ein Problem … kein kleines übrigens. Ich suchte nach Hilfe und stieß dabei auf Ihr Inserat: ›Sterbehilfe. Wir helfen Ihnen bei der Beseitigung Ihrer sämtlichen Probleme. Gründlich und endgültig. Nur geringer Unkostenbeitrag. Kein Umtausch möglich. Limitiertes Angebot. Lebenslängliche Garantie.‹«

Wirzmair hatte den Zeitungsausschnitt aus der Tasche gezogen und die Annonce aufgeregt vorgelesen.

Der Vereinssekretär rückte seine schwarze Krawatte zurecht und stellte fest:

»Nun, das deckt sich mit Ihrer Antwort im Antragsformular. Was allerdings einer näheren Klärung bedarf, ist Ihre Angabe über das Motiv Ihres Beitrittsbegehrens. Sie schreiben bei dieser Frage: ›Verzweiflung am Leben‹. Verzweiflung haben Sie dann durchgestrichen und darüber ›Überdruss‹ gesetzt. Auch das haben Sie durchgestrichen und ›Ekel‹ geschrieben. Also was jetzt: Verzweiflung, Überdruss oder Ekel?«

Der Beitrittskandidat Peter Wirzmair, von kleiner Statur und noch wenig fortgeschrittenem Alter, trug ein verschwitztes T-Shirt mit Simpsons-Motiv. Seinen weitgehend verglatzten Kopf bedeckte glänzend ein dünner Schweißfilm.

»Ja, sehen Sie, Herr …? Herr …?«

Das dunkel gekleidete Gegenüber verzog keine Miene. Fordernd ruhte sein Blick auf Wirzmair.

»Sehen Sie, diese Unentschiedenheit, diese Entscheidungsschwäche, da trage ich schon immer schwer daran, das trägt auch dazu bei. Eine tragische Geschichte, leider. Aber warten Sie, vielleicht habe ich etwas bei mir …«

Der schwitzende Glatzkopf kramte in der Gesäßtasche seiner abgewetzten Jeans und holte einige vielfach gefaltete Papiere hervor.

»Hier, schauen Sie bitte nach.«

Der Schwarzgekleidete nahm mit leicht angewiderter Miene das Gefaltete und blätterte es auf.

»Hmmm, ›Ärztliches Attest‹«, las er murmelnd. Dann, nachdem er das Blatt überflogen hatte, lehnte er sich ein wenig zurück und blickte sinnend in die Luft.

»Ich verstehe«, wandte er sich an Wirzmair. »Ich verstehe … Sie Ärmster.«

Der Angesprochene warf einen Blick auf das auseinander gefaltete Dokument. »Ach so. Nein, das ist es nicht. Habe ich’s Ihnen nicht gegeben?«

Jetzt nahm der Dunkle ein weiteres der gefalteten Papiere. Er las schließlich: »›Einleitung eines Finanzstrafverfahrens wegen Abgabenhinterziehung.‹ Naja, dann … das Geld, das liebe Geld …« Und er machte sich daran, eine Eintragung in sein Notebook vorzunehmen, wurde aber augenblicklich unterbrochen.

»Aber nein doch! Ich habe es doch hoffentlich nicht vergessen?«

Mit einem entnervten Seufzen entfaltete der Vereinssekretär das letzte zerknitterte Dokument, das noch vor ihm auf der Schreibtischplatte lag.

»›Scheidungsurteil‹!«, rief er und ein erfreuter Unterton schwang in seiner Stimme mit. »Der Klassiker! Herr Wirzmair, warum nicht gleich.«

Seine Hand näherte sich der Tastatur.

»Nein, nein«, stotterte Wirzmair in sichtlicher Verlegenheit. »Das wäre denn doch zu banal. Ich habe anscheinend nichts Schriftliches darüber mitgebracht.«

Er beugte sich vor und fragte leise: »Ich kann doch mit Ihrer Verschwiegenheit rechnen, ich kann Ihnen doch vertrauen?«

Der Anzugträger sprang so brüsk aus seinem Bürodrehstuhl auf, dass dieser um ein Haar umgekippt wäre. Dann donnerte er zutiefst beleidigt: »Ich muss Sie ersuchen, das Büro zu verlassen, Herr Peter Wirzmair! Wir können mit jemandem, der das fundamentale Prinzip unseres Geschäftsgebarens in Zweifel zu ziehen wagt, keine Vertragsbeziehung eingehen!« Er klappte das Notebook zu.

Wirzmairs Gesicht nahm augenblicklich die Färbung einer frisch gekalkten Wand an.

»Bitte«, keuchte er. »Bitte, das dürfen, entschuldigen Sie, das können Sie nicht machen. Das ist mir nur so herausgerutscht. Bitte bleiben Sie.«

Der Mann im Anzug verharrte regungslos, wartend.

»Also, der Grund, warum ich mich an Sie wende, der Grund, warum ich Sie, also Ihren Verein, bitte, mir beim Sterben zu helfen, ist«, Wirzmair senkte seine Stimme zu einem aufgeregten, heiseren Flüstern »der Grund ist, weil ich impotent bin.«

»Impotent!«, rief der Vereinssekretär begeistert. »Sie sind impotent! Herzlich willkommen! Wenn ich mich nicht sehr verzählt habe, sind Sie ungefähr die Nr. 500 mit diesem Selbstmordmotiv.«

Er nahm wieder Platz und klappte sein Notebook auf.

»Interessanterweise besteht ja unsere Klientel ausnahmslos aus männlichen Mitbürgern, wo es doch geradezu naheläge, dass die Partnerin eines Bettversagers, pardon, eines Potenzschwächlings wie Sie auch zu uns kommen könnte. Naja, das war jetzt ein kleiner Blick hinter die Geschäftskulissen. Aber kommen wir jetzt zu den Details unseres Vertrages. Kennen Sie ›Der Selbstmörderclub‹ von Robert Louis Stevenson?«

Wirzmair blinzelte irritiert. »Meinen Sie einen Film? Oder ein Buch?«

Wieder ein Blick aus dem Fenster. Die Wolkenformation hatte sich zwar verändert, betörte aber noch immer durch ihre malerische Gestalt. Der Sekretär seufzte unhörbar: »Unser Verein funktioniert exakt so, wie es diese berühmte« (dabei blickte er gerade in die ratlosen Augen Wirzmairs) »Erzählung des schottischen Dichters beschreibt. Falls Sie sich die Mühe gemacht hätten« (der Tonfall blieb geradezu provozierend neutral; gegenüber einem Schwerfälligen aber eine komplett wirkungslose Taktik, wie sich der Mann eingestand), »das Kleingedruckte am Ende des Formulars zu beachten, so entdeckten Sie wohl unsere Empfehlung der Lektüre des literarischen Urmodells unseres Sterbehilfevereins. Und hätten sie womöglich auch befolgt.«

»Ich befolge gerne Vorschriften, ausgenommen die Vorschrift, Vorschriften zu befolgen«, bettelte Wirzmair um Gnade. Er versuchte sogar zu schmunzeln. Der Vereinssekretär verzog keine Miene, machte sich jetzt aber eine Notiz in das wieder aufgeklappt vor ihm stehende Notebook. Dann schaltete er auf Autopilot und spulte in gelangweilter Routine die Vereinsstatuten ab: »Unser Verein ›Ohne mich‹ beruht auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit. Das heißt, wenn Sie Hilfe beim Totwerden brauchen, dann helfen Sie zunächst jemandem, der selbst Hilfe benötigt. Anders als in der Erzählung von Stevenson wird Ihnen Ihr Kandidat nicht durch den Zufall eines Kartenspiels, sondern durch die überlegte Entscheidung des Vereinsvorstandes, also durch meine Entscheidung, zugeteilt. Innerhalb von fünf Tagen haben Sie dann die Erfüllung dessen größten, und auch letzten, Wunsches, nämlich zu sterben, zu bewerkstelligen. Andernfalls behalten wir die von Ihnen zu erlegende Kaution von 10.000 Euro ein.«

Der Schwarze hielt inne und versuchte, Klarheit zu erlangen, ob sein Gegenüber diesen Ausführungen hatte folgen können. Wirzmair hing aufgeregt und in höchster Spannung an den Lippen des Redners. Dieser fuhr nun fort: »Sobald Sie Ihre Mission und somit das Leben Ihres Leidensgenossen beendet haben, bekommt eines unserer Vereinsmitglieder die ehrenvolle Aufgabe, Ihnen bei der Durchführung Ihrer eigenen Abschiedsgala tatkräftig zur Seite zur stehen. Er lässt Ihnen somit den Vortritt beim Abtreten, um Ihnen dann wenig später nachzufolgen. Ihre Kaution haben Sie natürlich dann schon, nach Abzug eines Unkostenbeitrags von 1000 Euro, zurückerhalten.«

Wieder folgte eine Pause. Den auf ihn gerichteten, auffordernden Blick konnte Wirzmair schließlich nicht mehr länger ignorieren und stellte fest: »Hallo, das funktioniert ja wie ein Pyramidenspiel?«

»Ich möchte eher sagen«, versetzte der Vereinsleiter, »es läuft wie beim Domino Day: Ein Steinchen nach dem anderen fällt.«

Wieder folgte eine kleine Pause, bevor der Vereinsvorstand fortfuhr: »Viele unserer Kunden wollen die Kaution aber gar nicht zurück, sondern beauftragen uns mit der Organisation ihrer Begräbnisfeierlichkeiten, der Bestellung eines Grabredners, dem Verfassen eines Nachrufes usw. usw.«

Wirzmair wischte sich mit einem Papiertaschentuch Schweiß aus den Augenhöhlen. Dann warf er ein: »Das Geld habe ich selbstverständlich schon mitgebracht. Aber wie erfahre ich, wer mein Kandidat ist, und wie helfe ich beim...