SCHNITTERGARN - Die Anthologie des Todes

von: Jörg Fuchs Alameda, Lea Baumgart, Muna Bering, Andrea Bienek, Florian Clever, Renée Engel, Johanna G

Leseratten Verlag, 2018

ISBN: 9783945230350 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

SCHNITTERGARN - Die Anthologie des Todes


 

Die sieben Flure des Mortimer Todd


 

Vorstellungsrunde

 

Marlene Rabenherz

»Es heißt, der Tod habe einen Plan und die Zeit sei ein launisches Kind. Was soll ich sagen? Es stimmt! Ich erfuhr es am eigenen Leib. An jenem Tag, an dem ich aus unverzeihlichen Gründen versehentlich getötet wurde.«

 

Mortimer Todd

»Meine Güte, das kann doch jedem mal passieren. Der Job ist anspruchsvoll. Überführe du mal eine Seele ins Totenreich und halte sie bis zum Jüngsten Gericht bei Laune. Und das auch noch als Anfänger in Probezeit. Oder glaubt hier irgendwer, ich sei schon immer der Tod gewesen?

Kennt ihr diesen Jesus? Ich war der Engel, der die drei Heiligen Könige zu dem Hosenscheißer führen sollte. Gar nicht so einfach, ohne Navigationssystem. Schier unmöglich, ohne Orientierungssinn. Und eins kann ich euch sagen, die waren vielleicht naiv, diese Heiligen. Blindes Vertrauen, bloß weil ich ein wenig leuchtete. Ich hätte sie beinahe in die Hände des Königs Herodes gespielt. Na das wäre ein toller Geburtstag geworden. Statt Party und Geschenke hätte ich dem lieben Gott die kopflosen Heiligen erklären müssen. Der Chief Executive Officer des Himmels war stinksauer. Und das Peinlichste daran: Eine alberne Sternschnuppe musste meinen Auftrag beenden. Ja, ihr habt richtig gehört, ein verglühendes Staubkorn. Die kennen sich aus mit Nord und Süd. Dabei sollte ICH der Star werden. Jetzt gibt es jedes Jahr die Sternsinger. Die doofen Pappsterne sehen dem Staubkorn noch nicht einmal ähnlich.«

 

Marlene Rabenherz

»Wenn ihr wissen wollt, was passiert, wenn ein pubertierender Teenie auf einen karrieregeilen Profilneurotiker trifft: Dies ist unsere Geschichte.«

 

Das Missgeschick

Marlene

Es sollte kein sonderlich guter Morgen werden. Nicht das ich Montage hasste – so wie meine Mutter – nein, im Gegenteil, ich freute mich immer auf zwei Stunden Mathe und zwei Stunden Chemie. Na ja, den Sportunterricht würde ich schon irgendwie herumkriegen.

Nachdem der Tageslichtwecker die hellste Stufe erreicht hatte und das roboterhafte Vogelgezwitscher seit zwanzig Minuten aus dem Lautsprecher dröhnte, platzte Mum herein. Sie griff sich Columbo, meinen Stoffhund, und bellte mich damit an. Ich war zu müde, um ihr zu sagen, dass ich das seit zwei Jahren nicht mehr lustig fand.

Gähnend schlurfte ich ins Badezimmer. Ich steckte mir die Zahnbürste in den Mund und sah im Spiegel dabei zu, wie sich dieses picklige, fünfzehnjährige Ding, mit den abstehenden Ohren und den zerzausten blonden Haaren lustlos die Zähne schruppte.

Mit einem Mal war ich jedoch wach. Und obwohl die Fußbodenheizung glühte, fror ich. Gänsehaut breitete sich vom Nacken über den ganzen Rücken aus. Das Blut rauschte in meinen Ohren. War mir das Gesichtswasser zu Kopf gestiegen? Nein. Es war schlimmer.

Bilder von Daddy fluteten meine Gedanken. Ich sah ihn, wie er neben mir stand und mit der Zahnbürste in der Backe die schlechtesten Witze ever von sich gab. Wie er dabei den Spiegel mit Zahnpasta voll spuckte und die Sauerei auf seinen Kater Murphy schob, der um seine Beine schmuste und ihm die Füße ableckte. Wie er das Tier hochhob und knuddelte, sodass auch der Kater den weißen Schaum im Fell hatte. Wie er mir hinterherjagte, um mir einen Zahnpastakuss aufzudrücken. Diesmal hätte ich mir den schaumigen Kuss geben lassen. Ich vermisste ihn.

Plötzlich ein Schatten im Spiegel. Blaue Augen, die sich unter einer schwarzen Kapuze selbst anstarrten.

Mir stockte der Atem. Ich drehte mich um.

Der Typ in der Kutte erschrak und huschte aus dem Badezimmer.

Mein Herz raste.

Es war der Sensenmann. Er begegnete mir nicht zum ersten Mal. Letztes Jahr im Krankenhaus, als Daddy von uns ging, erschien er mir im Garderobenspiegel.

Wen wollte er mir diesmal wegnehmen? Eine Träne kullerte über meine Wange. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Abschied lag in der Luft.

Murphy? Sonst stolperte ich jeden Morgen mindestens dreimal über ihn. Wo war er?

»Daddys Kater bekommst du nicht!«, zischte ich und stürmte ins Büro.

Murphy lag auf dem Kratzbaum. Sein rotes Fell sah matt aus. Er fühlte sich warm an. Doch die Augen öffnete er nicht mehr. Der Schatten einer Hand näherte sich ihm.

Ich riss den Kater aus der Mulde und rannte in den Flur. Die Hand erwischte einen Zipfel meines Pyjamas, ich stolperte und stürzte die Treppe hinunter.

 

Mortimer

Es gab nur eines, was ich noch weniger mochte als die Überführung von Katzen, nämlich die Überführung von Kindern. Sie waren schwierig. Die meisten wollten nicht mitkommen. Im Studium zum Totenführer erlernte ich die verschiedensten Methoden, um dieses Problem zu beherrschen. Doch keine davon wirkte zuverlässig. Je mehr ich diese Plagen mit Süßigkeiten und Spielzeug lockte, desto misstrauischer wurden sie. Viele von ihnen lachten mich aus oder nannten mich Spinner, wenn ich vom lieben Gott anfing. Dasselbe, wenn ich ihnen mit dem Teufel drohte. Sie rannten weg, versteckten sich oder machten sich gar unsichtbar, um als Poltergeist ihre Geschwister zu erschrecken.

Der Rat meines Doktorvaters hallte mir noch in den Ohren: Mach es wie Gevatter Tod. Einfacher gesagt als getan. Mein großes Vorbild hatte immerhin 3,8 Milliarden Jahre auf dem Buckel. Ebenso viele Narben und Falten übersäten seine blasse Haut. Wenn er die Bühne betrat, erzitterte jeder. Kein Vergleich zu der lächerlichen Gänsehaut, die mein Erscheinen hervorrief. Ich war nur einer von Tausenden. Seit dem Burn-out unseres legendären Gevatters wurde die Erde aufgeteilt. Wegen der steigenden Weltbevölkerung und dem Beschluss, auch Tiere aufzunehmen, konnte es ein Tod alleine nicht mehr bewerkstelligen. Mein bescheidenes Einzugsgebiet begrenzte sich auf Hessen.

Nervös kramte ich die Spicktafel aus dem Sack. Ich zog die Kapuze tief ins Gesicht und sprach die Worte, die ich mir im letzten Rhetorikseminar notiert hatte: »Ich bin der Tod. Ich führe dich in deinen Flur.«

Weder der Kater, noch die Seele des Mädchens beachteten mich.

Verdammt. Es musste also doch an meiner piepsigen Stimme liegen. Dabei hatte ich keine Kosten und Mühen gescheut, um mir ein finsteres Röhren anzutrainieren. Whiskey, selbstgedrehte Zigaretten und der Gesangsunterricht von Johnny Cash konnten dem jahrhundertelangen Lobpreisen im Engelschor scheinbar nichts entgegensetzen. Meine Stimmbänder waren wohl für immer ruiniert.

Marlene stieg die Treppe hinauf und betrachtete ihren Körper, der verdreht in der Luft hing.

»Au Backe, ich hoffe, das landet nicht auf Youtube.«

Ihr Kinn klebte auf einer Stufe, während ihre Beine in die Höhe ragten und ihr Rücken sich unnatürlich über ihren Kopf verbog. Es bildeten sich oft bizarre Kunstwerke, wenn mein Kollege Andante die Uhr im Augenblick des Todes anhielt.

Dass Haustier und Kind gleichzeitig starben, konnte nur mir passieren. Der blanke Horror. Typisch für einen Montag.

»Ich führe dich in deinen Flur. Folge mir!«, wiederholte ich meine Forderung.

»Was glaubst du, wo wir sind?« Marlene drehte sich um die eigene Achse und deutete mit beiden Händen in den Raum. »Das ist mein Flur, Dummerchen! Außerdem geh ich nicht mit Fremden.« Sie massierte ihren Nacken und starrte auf den Kater, der wie eingefroren an der Tapete neben einem Plattencover von Janis Joplin schwebte. »Warum tut es weh?«

»Phantomschmerzen. Solange du dich in der Nähe deiner weltlichen Hülle aufhältst, werden sie andauern. Folge mir und du wirst nie mehr leiden!« Ich ergriff ihre Hand. Sie zog sie frech durch meine hindurch, was sich in etwa so anfühlte, wie Kreide, die über eine Tafel quietschte. Wie ich diese Kinder hasste. Sie verstanden sehr viel schneller als alte Menschen und Tiere, wozu ein Geist in der Lage war.

»Murphy! Pfui!«, rief sie. Die Seele des Katers schmuste um meine Beine und leckte mir die Füße ab. Marlene schaute langsam an mir herauf. »Alter, bist du nackt unterm Kittel?«

Verlegen zog ich den Gürtel etwas enger. Wenn sie wüsste, wie schwer es für einen Hochsensiblen war, sich an diese kratzige Kutte zu gewöhnen.

»Laut Berufsgenossenschaft ist das eine zweckdienliche Bekleidung.«

»Bin ich tot?«, fragte sie weiter.

»Eindeutig Genickbruch.«

»Mörder!«

Typisch Mensch. Immer waren die anderen schuld.

»Ich töte nicht. Ich begleite dich nur über die Brücke.«

»Aha. Du darfst also niemanden umbringen?«

»Nein, natürlich nicht. Damit würde ich doch gegen Paragraph 007 aus dem Gesetzbuch zum Tag des Jüngsten Gerichts, kurz GZTDJG, verstoßen.«

»Warum bist du im Badezimmer eben vor mir geflüchtet, wenn du mich doch begleiten sollst?«, bohrte sie weiter.

Langsam geriet ich ins Schwitzen. In der Fortbildung zum psychologischen Ersthelfer für verwirrte Seelen lehrte mich Sigmund Freud, die Wahrheit als letztes Mittel zur Vernunft einzusetzen. Ein Versuch war es wert: »Du hast mich ertappt. Ich wusste nicht, dass auch du heute dran bist. Ursprünglich wollte ich nur den Kater. Du hättest mich nicht sehen dürfen. Weißt du, ich war nicht immer der Tod. In den ersten 2000 Jahren meines Lebens war ich ein Engel und wurde darauf getrimmt, den Menschen zu erscheinen. Manchmal, wenn ich in einen Spiegel schaue, werde ich sichtbar, ohne dass ich es kontrollieren kann. Tut mir leid.«

»Du bist sowas von erledigt«, zischte sie.

Ihre Aura erinnerte mich an den Teufel. So viel zum Thema Wahrheit.

»Kind, jetzt komm...