Die Freiheit, das Ich und die Liebe - Grundlagen einer Philosophie der Gegenwart

von: Roland van Vliet

Verlag Urachhaus, 2018

ISBN: 9783825161552 , 232 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Die Freiheit, das Ich und die Liebe - Grundlagen einer Philosophie der Gegenwart


 

5Die philosophischen Gegensätze als Voraussetzung der menschlichen Freiheit


Mit der Trennung von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt ist für die Entwicklung der Liebe unglaublich viel gewonnen. Versuchen wir, uns diesem Gedanken in weiteren Überlegungen zu nähern. Die Trennung ist entstanden, da mithilfe der Versuchung das Bewusstsein so in das Leibliche eindringen konnte, dass sich die an die Leiblichkeit gebundenen Sinne öffnen und das Bewusstsein veräußerlicht werden konnte. Aus einem schlafend-träumenden, göttlichen Bewusstsein erwachte der Mensch in ein gerichtetes Bewusstsein, welches das vereinzelte Eine von dem vereinzelten Anderen in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt unterscheiden konnte. Man kann sagen, dass sich der Mensch durch die Versuchung vom vorherigen Bewusstsein des Wesens – sein Wesen ist auch das Wesen der Dinge – angewendet hat. Er ist dadurch auf existenzielle Weise in die Welt der Erscheinungsformen eingedrungen, die aber selbst nur der sinnliche und künstlerische Ausdruck des Wesens sind, welches vor der Versuchung im göttlichen Bewusstsein noch innerlich geschaut und erlebt werden konnte. Die Natur ist die glänzende Haut des Geistes, der durch sie – aufgrund des schöpferischen Willens der Elohim – an die Oberfläche gelangt ist. Und die Schlange ist so eingenommen von dieser Haut, dass sie sich ihrer eigenen entledigt, um immer wieder eine neue Haut zu bekommen und die Welt mehr und mehr mit Anhäufungen ihrer verhornten Trockenheit zu bedecken. Wir leben in einem durch sein einschnürendes Gift polarisierten Bewusstsein notwendigerweise und einseitig auf die Welt der Erscheinungen ausgerichtet. Die vergänglichen Erscheinungsformen manifestieren sich im teilbaren Raum und der teilbaren Zeit, wo alles voneinander geschieden ist.

Angesichts der Trennung von Subjekt und Objekt sind die fundamentalen philosophischen Unterschiede entstanden.14 Dem Dualismus von Subjekt und Objekt entspricht derjenige von Ich und Welt. Die Welt, zu der auch mein eigener Körper gehört, lerne ich durch die Wahrnehmung unmittelbar passiv kennen. Durch den Denkprozess, den ich als eigenständiges Subjekt aktiv vollziehe, kann ich lernen, die Welt zu begreifen. Für die Erkenntnis der Wirklichkeit resultiert daraus ein Dualismus von Denken und Wahrnehmen.

Durch meine Denkaktivität kann ich zu dem übergreifenden Begriff vordringen, etwa dem Begriff Baum, den ich unabhängig davon bilde, was ich in der Welt an einzelnen Bäumen mit all ihrer Vielfalt an Formen und Farben wahrnehme. Das Wissen um diesen Unterschied in der Erkenntnis der Wirklichkeit hat sich kulturgeschichtlich verselbstständigt in dem Dualismus von Rationalismus und Empirismus. Immanuel Kant (1724–1804) hat eine Synthese zwischen beiden gesucht und ist doch im Gegensatz zwischen dem nicht zu erkennenden Ding an sich und den zu erkennenden Erscheinungen gefangen geblieben, dadurch hat er wesentlich unseren wissenschaftlichen Reduktionismus bestimmt. Hier sind die Folgen des Sündenfalls nicht aufgehoben, sondern verstärkt.15

Das Denken ist eher allgemein und unpersönlich, das Wahrnehmen hingegen besonders und persönlich, denn es ist gebunden an meinen eigenen Ort in der Wirklichkeit. Dies gilt auch für die Gefühle, denn Gefühle sind Wahrnehmungen von der Wirklichkeit in meiner Seele und meinem Leib, die ich als Erfahrungen am eigenen Ich erlebe. In meiner Angst etwa spüre ich eine Gefahr, die von außen kommt, einen Abgrund, der sich in der Wirklichkeit auftut, in meinem Ich. Und so kann ich – durch das starke Erleben – die Gefahr vertreiben. Indem ich Angst empfinde, erlebe ich das Objekt der Gefahr subjektiv, in meinem Subjekt. Obwohl hier schon von einer Vermischung gesprochen werden kann, was die Subjekt-Objekt-Spaltung anbelangt, gehören die Emotionen doch auf die Seite des Objektes: Ich erlebe das Objekt an mir und ich kann darüber nachdenken.16 Daraus resultiert auch ein Dualismus zwischen unpersönlicher Ratio und persönlicher Emotion, wie er sich dann im Gegensatz der kulturellen Strömungen von Aufklärung und Romantik verselbstständigt hat.

Das vom Subjekt hervorgebrachte Denken kann übergeordnete Begriffe finden oder Erklärungen für die objektiv-sinnlichen Erfahrungen. Daraus resultiert der Dualismus von metaphysischem und physischem Denken, der eigentlich auch ein Dualismus ist zwischen Glauben und Wissen, denn ein übersinnliches Denken steht dem »Tatsachen miteinander verbindenden Verstand« gegenüber. Darin drückt sich zugleich ein Dualismus aus zwischen unmittelbar-anschaulicher Intuition und logisch folgerndem »auseinandernehmenden« Denken.17

Noch ein weiterer Dualismus hängt hiermit zusammen, ein platonischer Dualismus: Das Denksubjekt kann bis zum Wesen der wahrgenommenen Objekte vordringen, die eben die Erscheinungsformen dieses Wesens sind.18 Die Erscheinungsformen können aus einer anderen Perspektive auch als Eigenschaften dieses Wesens bezeichnet werden: Das wäre dann der aristotelische Dualismus von Wesen und Eigenschaften.19

Das Ich wiederum kann sich Ideale setzen, die in der Welt verwirklicht werden müssen: Das ist der Dualismus von Idealismus und Realismus.20 Und die Kreativität des Geistes im leiblichen Handeln geht hervor aus den Dualismus von Geist und Materie, dessen beide Pole sich im Laufe der Kulturgeschichte zum Spiritualismus und Materialismus verselbstständigt haben.21

Alle diese Gegensatzpaare ziehen ihre Existenzberechtigung daraus, dass sie sich aus tiefstem Herzen verleugnen; und das ist eigentlich nichts anderes als ein Brudermord infolge des Sündenfalls. So gesehen ermöglicht das phänomenologische Denken in der Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein und der Existenz des Menschen eine Verbindung zwischen dem jüdisch-theologischen und dem griechisch-philosophischen Denken.

Wir sehen also, dass der Mensch durch den Sündenfall philosophisch dem Dualismus anheimgefallen ist: von Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Denken und Wahrnehmen, Verstand und Gefühl, metaphysischem und physischem Denken, Wesen und Gegenstand, Wesen und Eigenschaften, Idealismus und Realismus, Geist und Materie. Der Sündenfall kann nicht als ein tragischer Zwischenfall abgetan werden, er ist vielmehr ein entscheidender Moment hinsichtlich der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Der Sündenfall war von einer eminenten Bedeutung für die Formung des Menschen, da durch die Unterscheidung von Gegensätzen die menschliche Freiheit erst möglich wurde. Die Dualismen sind konstitutiv für die Entwicklung – und dadurch auch für die Freiheit des Menschen.

Der Mensch hat sich abgegrenzt vom Weltganzen und sich in der Isolation immer stärker auf sich selbst bezogen. Dadurch, dass der Mensch auf sich selbst gerichtet ist, kann er auch entscheiden, wie er in Bezug auf das Weltganze handeln will, und damit ist er frei geworden, hat seine im Weltganzen gefangene Freiheit ausgelöst. In der Trennung zwischen Ich und Welt liegt die Entwicklungskraft, die beide in Freiheit wieder vereinigen kann. Die menschliche Freiheit vermag den Abgrund des Sündenfalls, aus dem sie herrührt, zu überbrücken: So entsteht die Möglichkeit, einen eigenen Weg zur Wahrheit zu gehen und so in einem aktiven Erkenntnisprozess durch freies geistiges Forschen die Kluft zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Denken und Wahrnehmen bzw. Denken und Fühlen zu überwinden.

Gleichzeitig entsteht die Möglichkeit, die Ideen und Ideale, die dem eigenen Geist entspringen, durch das Entfalten des freien Willens in der äußeren Realität zu verwirklichen. Durch die Begierde, vom Baum der Erkenntnis essen zu wollen, wurde der Mensch sich der Tatsache bewusst, dass er selbst nach der Begierde verlangte, da er so als eigenständig Handelnder Freiheit erlangte. Durch die selbstsüchtige Begierde wurde er sich seiner selbst bewusst und erlangte dadurch sein Selbstbewusstsein. Die ganze Inszenierung, das psychologische Drama, das im Garten Eden stattfand, scheint nur auf diese Bewusstwerdung hin ausgerichtet gewesen zu sein. Durch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, und durch die von der drohenden Sterblichkeit ausgelöste Ermahnung zur Ernsthaftigkeit wird dieses Sich-Bewusst-Werden des Begehrenden nicht nur ausgelöst, es erhält auch eine umso stärkere Bedeutung. Betrachtet man die Situation nach dem Verzehr der verbotenen Frucht, darf der Akzent nicht auf einem abstrakt zu nennenden Ungehorsam liegen, der in erster Linie etwas über den gekränkten Machthaber aussagen würde, sondern das Augenmerk sollte der Tatsache gelten, dass der Mensch dadurch erleben musste, dass er es ist, der ungehorsam gewesen ist. Indem äußerlich das Schwert des Urteils niederfällt, wird innerlich das Selbstbewusstsein gegenüber der göttlichen Welt geweckt. Aus der Liebe wirkt der Zorn, der in seinem Urteil den Anderen so ernst nimmt, dass er dadurch die Identität des Anderen stärkt. Gleichzeitig wird mit dem Selbstbewusstsein auch...