Wenn Verlangen die Vernunft besiegt

von: Maureen Child

CORA Verlag, 2018

ISBN: 9783733724047 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 2,49 EUR

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Wenn Verlangen die Vernunft besiegt


 

1. KAPITEL

„Tut mir echt leid“, sagte Micah Hunter. „Ich mochte dich wirklich gern, aber du musstest einfach sterben.“

Er lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück und überflog die letzten Zeilen der Szene, die er gerade geschrieben hatte. Einer seiner bekanntesten Charaktere war nun tot. Zufrieden seufzte er und klappte den Laptop zu.

Vier Stunden hatte er schon gearbeitet, und es war höchste Zeit für eine Pause. Während er ans Fenster trat und auf die Straße hinaussah, murmelte er vor sich hin: „Das einzige Problem ist, dass ich hier nirgendwo hingehen kann.“

Gelangweilt zog er sein Handy aus der Tasche und tippte auf die Kurzwahl. Es klingelte ein oder zwei Sekunden, bevor ein Mann am anderen Ende abhob.

„Wie konntest du mich nur überreden, sechs Monate hierzubleiben?“

Sam Hellman lachte. „Ich freue mich auch, von dir zu hören, Micah.“

„Ja, ja.“ Klar, dass sein Freund sich über ihn lustig machte. Wäre er nicht in dieser amerikanischen Kleinstadt gestrandet, würde Micah es auch witzig finden. Allerdings war ihm gerade nicht nach Scherzen zumute. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah sich die sogenannte „herrliche Aussicht“ an.

Das Haus, das er gemietet hatte, war ein echtes viktorianisches Herrenhaus. Es lag an einer breiten Straße, die gesäumt war von riesengroßen, vermutlich sehr alten Bäumen. Die Blätter leuchteten in Rot und Gold, ein letztes Aufbäumen vor dem Winter. Der Himmel war strahlend blau, und die Herbstsonne lugte hinter dicken weißen Wolken hervor. Es ist still, dachte Micah, so still, dass es fast unheimlich ist.

Da die spannungsgeladenen Horrorromane, für die er bekannt war, regelmäßig auf Platz eins der New-York-Times-Bestsellerliste landeten, kannte er sich mit dem Unheimlichen gut aus.

„Ich meine es ernst, Sam. Ich stecke hier noch für vier Monate fest, weil du mich überredet hast, den Mietvertrag zu unterschreiben.“

Sam lachte. „Du sitzt da fest, weil du dir eine Herausforderung niemals entgehen lassen würdest.“

Hart, aber wahr, dachte Micah. Niemand kannte ihn in der Hinsicht besser als Sam. Kennengelernt hatten sie sich als junge Männer auf einem Schiff der US Navy, als sie dort ihren Dienst angetreten hatten. Sam war damals vor seiner reichen Familie und deren Erwartungen an ihn geflohen, er selbst vor seiner Vergangenheit, die er in verschiedenen Pflegefamilien verbracht hatte. Dieses Leben war voll mit Lügen und nicht eingehaltenen Versprechen gewesen. Irgendwie hatten sie einen Draht zueinander gefunden und waren in Kontakt geblieben, nachdem ihr Dienst vorbei gewesen war.

Damals war Sam nach New York zu der Literaturagentur zurückgekehrt, die sein Großvater gegründet hatte. Die Distanz hatte ihn erkennen lassen, dass er tatsächlich gerne in das Familiengeschäft einsteigen wollte. Währenddessen hatte Micah sämtliche Jobs auf Baustellen angenommen und in jeder wachen Minute an einem Roman gearbeitet.

Schon als Kind hatte Micah gewusst, dass er Bücher schreiben wollte, und als er endlich damit anfing, flossen die Worte schneller aus ihm heraus, als er sie aufschreiben konnte. Bis tief in die Nacht hinein tippte er und verlor sich in der Geschichte, die sich auf seinem Bildschirm entfaltete. Nach Beendigung seines ersten Romans hatte er sich wie ein Marathonläufer gefühlt – erschöpft, zufrieden und siegreich.

Den ersten Entwurf hatte er Sam geschickt, der ihm noch Millionen von Vorschlägen zur Verbesserung gemacht hatte. Niemand mochte es, wenn ein Text, den man vorher schon für sehr gut gehalten hatte, noch mal auf den Kopf gestellt wurde, aber Micah war so entschlossen gewesen, den Roman zu einem Erfolg zu machen, dass er die meisten Änderungen akzeptierte. Das Manuskript hatte er sofort für einen bescheidenen Vorschuss an den Mann gebracht. Nie zuvor war er so stolz auf einen Verdienst gewesen.

Und das Buch sollte nur der Anfang gewesen sein. Sein zweiter Roman wurde durch Weiterempfehlungen zu einer Sensation, die sich so rasant ausbreitete wie ein Virus und sich auf Anhieb auf die Bestsellerlisten katapultierte. Ohne es zu ahnen, wurden seine Träume allmählich zur Realität. Seitdem hatten Sam und Micah zusammengearbeitet und gaben ein großartiges Team ab. Und gerade weil sie so gute Freunde waren, wusste Sam genau, womit er Micah locken konnte.

„Das ist die Rache für letzten Winter, weil ich bei dem Snowboard-Rennen gewonnen habe, stimmt’s?“

„Hältst du mich für so nachtragend?“, fragte Sam lachend.

„Oh ja!“

„Na ja, okay, vielleicht“, gab Sam zu. „Aber du warst derjenige, der die Wette angenommen hat, für sechs Monate in einer Kleinstadt zu leben.“

„Auch wieder wahr.“

Wie schlimm kann es schon werden? Micah erinnerte sich, dass ihm diese Frage durch den Kopf gegangen war, bevor er den Mietvertrag mit der Eigentümerin Kelly Flynn abgeschlossen hatte. Jetzt, zwei Monate später, wusste er die Antwort auf diese Frage.

„Immerhin geht es um Recherche“, bemerkte Sam. „Das aktuelle Buch spielt nun mal in einer Kleinstadt. So kannst du Erfahrungen aus erster Hand sammeln.“

„Schon mal was von Google gehört?“ Micah lachte. „Und was ist mit dem Buch, das in Atlantis gespielt hat? Was glaubst du, wie die Recherche dazu ausgesehen hat?“

„Darum geht’s doch gar nicht. Also, Jenny und ich mochten das Haus, als wir vor ein paar Jahren da waren. Na gut, vielleicht ist Banner eine Kleinstadt, aber es gibt dort leckere Pizzen.“

Da konnte Micah nur zustimmen. „Pizza Bowl“ hatte schon eine Kurzwahl auf seinem Telefon bekommen.

„Ich hab’s dir schon gesagt: Warte noch einen Monat, dann sieht die Welt anders aus“, meinte Sam. „Dann genießt du den Pulverschnee in den Bergen, und alles ist vergessen.“

Micah war sich da nicht so sicher, aber er musste zugeben, dass das Haus wirklich toll war. Er schaute sich in dem Zimmer im ersten Stock um, das er vorläufig zum Büro erklärt hatte. Alle Zimmer waren groß mit hohen Decken, und der Ausblick auf die Berge war fantastisch. Das ganze Haus besaß viel Charme, aber wenn er durch das riesige Gebäude lief, kam er sich vor wie ein Gespenst. So viel Platz hatte er noch nie für sich allein gehabt, und er musste sich eingestehen, dass es ihm ab und zu unheimlich vorkam.

Außerdem gab es sonst in jeder verdammten Stadt, egal in welcher, Lichter, Menschen, Geräusche. Doch hier waren die Nächte dunkler als an allen anderen Orten, die er kannte. Selbst bei der Navy an Bord eines Schiffes gab es ausreichend Licht, sodass die Sterne am Nachthimmel nur schwach leuchteten. Die Stadt Banner in Utah allerdings stand auf der internationalen Liste der Lichtschutzgebiete. Sie lag direkt hinter einer Bergkuppe, die jeden Lichtschein, der aus Salt Lake City herüberstrahlte, verschluckte.

In Banner konnte man bei Nacht die Milchstraße und eine wahre Explosion an Sternen erkennen, bei deren Anblick man nicht nur staunte, sondern sich auf einmal auch sehr klein vorkam. Noch nie hatte Micah einen solchen Sternenhimmel gesehen, und irgendwie entschädigte ihn die Schönheit für das Gefühl, einsam und verlassen mitten im Nirgendwo zu sitzen.

„Wie geht es mit dem Buch voran?“, fragte Sam unvermittelt.

Der Themenwechsel brachte Micah kurz aus dem Konzept, trotzdem war er dankbar dafür. „Gut. Ich habe gerade den Bäcker umgebracht.“

„Schade eigentlich. Es ging doch nichts über den guten alten Bäcker.“ Sam lachte. „Wie ist er gestorben?“

„Auf ziemlich grausame Art und Weise“, sagte Micah. „Der Mörder hat ihn im heißen Fett der Donut-Fritteuse ertränkt.“

„Micah … das ist ja grauenvoll.“ Sam seufzte. „Wahrscheinlich werde ich nie wieder Donuts essen.“

Gut zu wissen, dass der Mord, den er sich ausgedacht hatte, den Leser gruselte.

„Das hält bestimmt nicht lange an“, meinte Micah.

„Dem Lektor wird wahrscheinlich schlecht beim Lesen, aber deine Fans werden es lieben“, versicherte Sam ihm. „Und wo wir gerade von Fans sprechen … Ist schon irgendjemand in der Stadt aufgetaucht?“

„Bisher nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“ Argwöhnisch ließ Micah den Blick über die Straße schweifen und erwartete beinahe, jemanden mit einer Kamera vor dem Haus zu sehen, der hoffte, ein Foto von ihm zu bekommen.

Ein Grund, warum er sich nie lange an einem Ort aufhielt, war, dass seine größten Fans ihn immer irgendwie aufspürten. Sie kreuzten dann in seinem Hotel auf, in der Annahme, er würde sich freuen, sie zu sehen. Die meisten waren natürlich harmlos, aber er wusste nur zu gut, wie schnell aus einem Fan ein Fanatiker werden konnte. Ein paar von ihnen waren sogar schon irgendwie in sein Hotelzimmer gelangt oder hatten sich ohne Einladung beim Abendessen zu ihm an den Tisch gesetzt und so getan, als wären sie entweder alte Freunde oder ehemalige Liebhaberinnen.

Den Social-Media-Diensten hatte er es zu verdanken, dass immer irgendjemand postete, wo er sich versteckt hielt oder zuletzt gesehen worden war. Deswegen reiste Micah weiter, sobald er ein Buch fertiggestellt hatte. Meistens suchte er sich große Städte aus, wo er in der Masse der Menschen unterging, und Fünf-Sterne-Hotels, die genügend Sicherheit boten. Bis jetzt.

„Niemand wird dich in dieser winzigen Stadt in den Bergen suchen“, sagte Sam.

„Das habe ich damals auch gedacht, als ich in dem Hotel in der Schweiz war“, erinnerte Micah ihn. „Bis dieser Typ aufgetaucht ist, der mich zusammenschlagen wollte, weil seine...