Der Bergdoktor 1946 - Vermisst im Novembernebel

von: Andreas Kufsteiner

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732572977 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 1,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der Bergdoktor 1946 - Vermisst im Novembernebel


 

Dr. Martin Burger musterte seinen Patienten streng.

»Es ist immer das alte Lied, Angerer: zu viel üppiges Essen, zu wenig Bewegung. Und wenn dein Kreuz sich hernach massiv bemerkbar macht, kommst du her und verlangst nach einer Spritze. Meinst du wirklich, dass das klug ist?«

Toni Angerer, der reichste Bauer in St. Christoph und zugleich der Bürgermeister, setzte eine schuldbewusste Miene auf. Sein rundes Gesicht wirkte nun sehr bekümmert, die kleinen Augen blickten reuig, und sogar sein beachtlicher Bauch schien sich nach innen zu ziehen, so als schäme er sich seiner überflüssigen Existenz.

Martin Burger, den die Zillertaler voller Respekt ihren »Bergdoktor« nannten, kannte das bereits. Toni Angerer war ein fleißiger Bauer und leitete die Geschicke von St. Christoph seit vielen Jahren zur Zufriedenheit aller. Er war ein wenig aufbrausend, aber doch das, was man als vernünftigen Menschen bezeichnen konnte.

Ging es allerdings darum, sich beim Essen ein wenig zurückzuhalten, dann schaltete sich bei ihm offenbar der gesunde Menschenverstand aus. Keinem üppigen Mahl, keiner süßen Nachspeise konnte er widerstehen, und unter »Bewegung« verstand er die Fahrt mit seinem dicken Geländewagen.

Der Bergdoktor hatte bereits mit Engelszungen auf ihn eingeredet, um ihm klarzumachen, dass er so nicht weitermachen konnte. Doch selbst die Drohung mit dem Operationstisch hatte nur kurz Wirkung gezeigt. Beim ersten Stück Torte war Toni Angerer gleich wieder schwach geworden, und die guten Vorsätze waren schnell vergessen gewesen.

Offenbar betrachtete er Martin Burger als eine Art Wunderheiler, der alle Sünden wider die Gesundheit mit einer Spritze ausgleichen konnte. Es wurde wohl Zeit, etwas deutlicher zu werden!

»Du musst dringend abspecken, Bauer«, mahnte der Arzt deshalb wieder einmal. »Die Schmerzen im Kreuz werden schlimmer, und bald hilft keine Spritze mehr. Dann musst du operiert werden, das weißt du.«

»Mei, Herr Doktor, seien Sie halt net so streng mit mir«, bat der Angerer zerknirscht. »Momentan hagelt’s nur so auf mich nieder. Wie soll ich mich aufs Diäthalten konzentrieren, wenn mir schon am Morgen vor lauter Ärger schwindlig wird?«

»Was willst du denn damit sagen?«, fragte der hochgewachsene, dunkelhaarige Mediziner, dem man nicht ansah, dass er die Fünfzig bereits überschritten hatte. Dr. Burger war sportlich, ging regelmäßig kraxeln und machte am Berg noch manchem Jungen etwas vor.

Nun bat der Bergdoktor seinen Patienten, das Hemd auszuziehen und sich auf die Untersuchungsliege zu platzieren. Er wusste schon aus Erfahrung, wo der Schmerz saß, und so übte er direkt Druck auf die richtige Stelle aus.

Der Bürgermeister stöhnte gepeinigt auf.

»Bei mir auf dem Hof geht’s drunter und drüber«, knirschte der Angerer. »Der Franz, mein Großknecht, schafft in letzter Zeit schlecht. Ich kann mich nimmer auf ihn verlassen, muss dauernd alles kontrollieren. Das kostet Zeit und Nerven und … Au!«

»Das war die Spritze«, kommentierte Dr. Burger. »Du kannst dich wieder anziehen. War das mit dem Schwindel eben nur so dahingesagt, oder ist dir morgens tatsächlich schwindlig?«

»Mir dreht sich alles vor den Augen, wenn ich am Frühstückstisch sitze und den Franz Dackelaugen machen seh«, beschwerte sich der Bauer und knöpfte sein Hemd zu.

»Dann messe ich sicherheitshalber noch deinen Blutdruck«, beschloss Dr. Burger. »Was ist denn los mit dem Franz? Er ist doch schon viele Jahre bei dir, und nie hat’s Grund für Beanstandungen gegeben. Hm, 150 zu 90. Das ist zu hoch.«

»Kein Wunder. Das liegt nur am Ärger, ich sag’s Ihnen, nur am Ärger!«, brauste der Angerer daraufhin auf.

»Es liegt wohl eher an Übergewicht und Bewegungsmangel. Also schön, ich druck dir einen Ernährungsplan aus, den gibst du deiner Paula. Und diesmal hältst du dich dran, bittschön. Außerdem jeden kurzen Weg zu Fuß gehen. Und in der Freizeit öfter mal die Wanderstiefel schnüren. In einer Woche kommst du wieder her, dann wollen wir schauen, ob schon ein Effekt eingetreten ist.«

»Aber …«

»Falls nicht, muss ich deine Hypertonie medikamentös behandeln, was net ohne Nebenwirkungen möglich ist. Und ich kann mir net denken, dass die Paula darüber sehr erfreut sein wird.«

Der Bauer bekam einen roten Kopf.

»Also gut, her mit dem Wisch«, schnaufte er dann. »Ich will mich bemühen. Aber ich sag’s Ihnen gleich: Wunder können Sie in der kurzen Zeit keine von mir erwarten, dass das klar ist.«

Dr. Burger lächelte nachsichtig. »Ich setze immer nur auf das Machbare. Und keine unnützen Aufregungen, die sind ebenfalls schädlich für den Blutdruck.«

»Sagen Sie das mal meinem Großknecht!«

»Du hast mir immer noch net verraten, was der Franz sich hat zuschulden kommen lassen.«

»Verliebt ist er«, klagte Toni Angerer, so als sei dies ein schweres Verbrechen. »In dieses Luder Marie!«

Dr. Burger hob leicht irritiert die Augenbrauen.

»Vor einiger Zeit hat meine Frau eine neue Küchenmagd eingestellt«, fuhr Toni Angerer deshalb erklärend fort. »Marie Sandner heißt sie, ist recht hübsch, nett und fleißig. Ein umgängliches Madel, das mir gar net weiter ins Auge gestochen wäre, hätte der Franz net plötzlich damit angefangen, seine Pflichten zu vernachlässigen, schlecht zu arbeiten und ständig Stielaugen zu machen, wenn die Marie in seiner Nähe ist.«

Er seufzte.

»Da hab ich ein bisserl genauer auf sie geachtet und bald herausgebracht, dass sie ein rechtes Luder ist«, fuhr er dann fort. »Sie legt es darauf an, allen Burschen und Mannsbildern in ihrer Nähe den Kopf zu verdrehen. Den Franz führt sie regelrecht am Gängelband. Der ist ihr Sklave!«

Martin Burger musste schmunzeln.

»Ist das net etwas übertrieben?«, hakte er vorsichtig nach.

»Find ich auch«, versetzte sein Patient lapidar. »Der Franz ist net dumm und schaut manierlich aus. Die Marie ist net sein erstes Madel. Aber sie scheint eine Macht über ihn zu haben, wie ich’s vorher noch net erlebt hab. Der Leidtragende bei der ganzen Geschichte bin freilich ich.«

Er seufzte noch einmal schwer.

»Und dann kommen Sie mir noch mit Diät und Dauerlauf«, beschwerte er sich. »Das ist …«

»… nur zu deinem Besten, Bauer, glaub mir.«

»Ja, freilich.« Toni Angerer verzog den Mund. »Dann bis nächste Woche, Herr Doktor.«

»Hast du net was vergessen?« Martin Burger hielt ihm den Ernährungsplan hin. »Guten Appetit wünsche ich.«

Dazu fiel dem Bauern nur noch ein übellauniges »Prost Mahlzeit« ein, dann verließ er das Sprechzimmer.

Bärbel Tannauer, Dr. Burgers bewährte Sprechstundenhilfe, schickte gleich den nächsten Patienten herein.

An diesem Morgen war das Wartezimmer überfüllt, denn die Grippesaison hatte begonnen. Die meisten Patienten wollten sich noch rasch impfen lassen, während es einige bereits erwischt hatte.

Dr. Burger hatte alle Hände voll zu tun an diesem sonnigen, aber schon recht frischen Oktobertag. Und weil der Bergdoktor Mediziner mit Leib und Seele war, nahm er sich ganz selbstverständlich für jeden Patienten die Zeit, die nötig war. So zog sich die Vormittagssprechstunde länger und länger dahin.

Zenzi Bachhuber, seit mehr als vier Jahrzehnten der gute Geist im Haushalt der Burgers, beschwerte sich bei Martins Frau Sabine, weil ihr Mittagessen langsam, aber sicher zerkochte.

Endlich hatte aber auch der letzte Patient die Praxis verlassen, und Martin Burger erschien mit schuldbewusster Miene zum Mittagstisch.

»Es tut mir leid, Zenzi, es ist später geworden.«

»Ist schon recht«, brummte die patente Hauserin mit dem strengen Haarknoten. Sie konnte »ihrem« Doktor einfach nicht böse sein, hatte ihn fest ins Herz geschlossen wie einen eigenen Sohn.

Und ein bisschen war er das ja auch, denn damals, als Zenzi ins Doktorhaus gekommen war, hatte der elfjährige Martin eben seine Mutter verloren. Zenzi hatte Mutterstelle an ihm vertreten und war über die Jahre zu einem hoch geschätzten Mitglied der Familie Burger geworden.

Wenig später saßen die Burgers dann bei Tisch. Im gemütlichen Esszimmer ließ man sich den deftigen Eintopf mit Rauchfleisch und kernigem Bauernbrot schmecken und plauderte munter.

Martin berichtete, was während der Sprechstunde losgewesen war, und fand dabei zwei aufmerksame Zuhörer, denn sowohl sein Vater Pankraz als auch seine Frau Sabine waren ebenfalls Mediziner.

Der Senior im Haus stand seinem Sohn gern mit Rat und Tat zur Seite. Er studierte regelmäßig die medizinischen Fachblätter und war so auch mit siebenundsiebzig noch auf der Höhe der Zeit. Daneben arbeitete Pankraz an einer Chronik des Zillertals, Heimatkunde war sein Steckenpferd.

Und weil ihm Zenzis deftige Küche gar so sehr mundete, machte er dreimal am Tag eine Gassirunde mit Familiendackel Poldi. Denn seine »Wohlfühlfigur«, wie er sein Bäuchlein gern nannte, sollte ja auch nicht aus den Fugen geraten …

Sabine war Narkoseärztin und stammte ursprünglich aus Wien. Als sie vor Jahr und Tag ihre Tante Rika, eine pensionierte Studienrätin, in St. Christoph besucht hatte, war sie Martin Burger begegnet. Der jung verwitwete Allgemeinmediziner und Unfallchirurg war ihre große Liebe.

Martin hatte nach dem tragischen Tod seiner ersten Frau Christel lange Zeit nur für...