Der Notarzt 330 - Ronjas Schlaflied

von: Karin Graf

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732572953 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Der Notarzt 330 - Ronjas Schlaflied


 

Ronjas Schlaflied

In ihren Träumen kann sie ihre Krankheit vergessen

Karin Graf

Ronja leidet seit ihrer Kindheit unter einer sehr seltenen, aber äußerst ernsten Krankheit: einer Lichturtikaria. Sobald die Dreiundzwanzigjährige mit Tageslicht in Kontakt kommt, verbrennt ihre gesamte Haut in Sekundenschnelle. Daher ist sie gezwungen, den Tag hinter geschlossenen Fensterläden zuzubringen. Tagsüber rausgehen? Nicht möglich. Ein Sommerurlaub? Undenkbar.

Eigentlich hatte sich Ronja mit ihrem Schicksal einigermaßen abgefunden. Doch als sie den jungen Studenten Ruben kennenlernt und sich die beiden rettungslos ineinander verlieben, wird ihr plötzlich überdeutlich klar, auf was sie als Paar alles verzichten müssen, wenn sie ihr Leben miteinander teilen wollen. Oft will die Verzweiflung sie übermannen, doch dann schafft ihr Freund es immer wieder, ihr Ruhe zu schenken. Vor allem wenn er ihr den selbst geschriebenen Song „Ronjas Schlaflied“ vorsingt, vergisst Ronja alles um sich herum.

Auch Ruben macht sich Gedanken. Er ist bereit, für Ronja auf alles andere zu verzichten, aber ihr selbst wünscht er von Herzen, dass doch noch eine Heilung ihrer Krankheit möglich ist. Vertrauensvoll wendet er sich an Notarzt Peter Kersten von der Frankfurter Sauerbruch-Klinik. Ruben kennt den Mediziner und weiß: Wenn irgendjemand Ronja helfen kann, dann nur Peter Kersten!

Dass sich jemals ein Mann in sie verlieben könnte, damit hätte Ronja Ebersbach nie im Leben gerechnet.

Wie denn auch? Sie war ja ein Nachtschattengewächs. Ein Vampir. Seit frühester Kindheit dazu verdammt, alle Tage ihres Lebens in verdunkelten Räumen zu verbringen.

Wie das sogenannte „lichtscheue Gesindel“, wagte auch sie sich erst im Schutz der Dunkelheit aus dem Haus.

Dabei war sie weder kriminell veranlagt, noch hatte sie spitze Zähne oder das Bedürfnis, Blut zu saugen. Ronja litt vielmehr unter einer sehr seltenen Krankheit.

Ein einziger Sonnenstrahl, der auf ihre ungeschützte Haut traf, verwandelte ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Hände, die Arme, ihr Dekolleté – einfach alles, was nicht mit einem lichtundurchlässigen Stoff bedeckt war – innerhalb weniger Minuten in ein Katastrophengebiet.

Dabei musste es noch nicht einmal heiß und besonders sonnig sein. Allein das Vorhandensein von Tageslicht reichte aus, um ihre Haut in einen ähnlichen Zustand zu versetzen wie eine ehemals blühende Landschaft nach einem Vulkanausbruch.

Dunkelrote Pusteln, sich ablösende Hautfetzen, nässende Wunden, Entzündungen und schlimme Schmerzen. Genau wie einen Vampir, konnte das Tageslicht – wenn sie ihm nur lange genug ausgesetzt war – sie umbringen.

Mit ihren dreiundzwanzig Jahren hatte Ronja sich längst auf ein einsames Leben im Verborgenen eingestellt. Sie hatte es schon vor Jahren aufgegeben, bei der Medizin Hilfe zu suchen. Für sie gab es offensichtlich keine.

Aber sich selbst hatte sie deswegen noch lange nicht aufgegeben. Das entsprach nicht ihrer Persönlichkeit. Obwohl sie von Zeit zu Zeit unter Depressionen litt, war sie dennoch eine Kämpferin. Sie versuchte stets aus allem das Beste zu machen.

Über das Internet hatte sie ein Fernstudium und etliche Kurse absolviert und betreute heute die Homepages verschiedener Firmen und prominenter Persönlichkeiten. Sie rückte ihre Kunden ins rechte Licht, während sie selbst im Dunkeln blieb. Damit verdiente sie ihren Lebensunterhalt und brauchte dabei kaum jemals einen Schritt vor die Tür zu gehen.

An die berühmte „große Liebe“ hatte sie längst keinen Gedanken mehr verschwendet, bis die große Liebe ihr eines Tages direkt ins Haus geschneit war.

Vier Monate war das nun schon her. Es war ein strahlend schöner Frühsommertag gewesen. Für den Rest der Frankfurter Bevölkerung zumindest. Für Ronja bedeutete der Beginn der warmen Jahreszeit, dass sie zusätzlich zu den ohnehin fast immer geschlossenen Jalousien nun auch noch die dicken, dunklen Vorhänge vor die Fenster ziehen musste.

Normalerweise ging sie tagsüber gar nicht an die Tür. Höchstens dann, wenn jemand ganz besonders hartnäckig klingelte. Und das hatte er getan.

Er, das war Ruben Antoni, ein vierundzwanzigjähriger, mittelloser Musikstudent, der Zeitungsabos verkaufte, größtenteils recht unbegabten Kindern aus der sogenannten „besseren Gesellschaft“ Klavier-‍, Gitarre- und Schlagzeugunterricht gab, Rasen mähte und Hunde ausführte, um sich damit mehr schlecht als recht über Wasser zu halten.

Und da es damals gerade scharf auf das Monatsende zugegangen war und er noch nicht einmal das Geld für die Miete beisammengehabt hatte, war er vielleicht ein bisschen hartnäckiger gewesen, als es seinem eher zurückhaltenden Charakter entsprach.

An dem gepflegten Einfamilienhaus in der Nähe des Frankfurter Palmengartens waren zwar alle Fenster verdunkelt gewesen, doch er hatte ganz eindeutig Geräusche aus dem Inneren gehört. Also hatte er ein ums andere Mal auf den Klingelknopf gedrückt.

Nach fünfmaligem, lang anhaltenden Klingeln war Ronja mürbe geworden. Sie hatte sich ihr Notfallkleidungsstück, eine kohlschwarze afghanische Burka, die sie von oben bis unten verhüllte und nur über den Augen ein schmales Sichtgitter hatte, über den Kopf geworfen und die Tür geöffnet.

Nach fast zweijähriger Tätigkeit als Hausierer war Ruben bereits mit allen Wassern gewaschen gewesen. Er hatte sich tief verbeugt und der vermeintlichen Gattin eines orientalischen Ölscheichs ein freundliches „Salam aleikum!“ gewünscht.

Seine dunklen Haare, das modische, gepflegte Bärtchen, seine großen, dunklen Augen und vor allem die Grübchen, die das breite Lächeln in seine Wangen grub – einfach alles an dem jungen Mann hatte Ronja unglaublich süß gefunden.

Und ganz entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, die Tür sofort wieder zu schließen, wenn sie merkte, dass ihr jemand etwas andrehen wollte, hatte sie sich einen Spaß mit ihm erlaubt.

In einem sehr tiefen kehligen Ton hatte sie die einzigen fünf arabischen Wörter hervorgesprudelt, die sie kannte. Die Zahlen von eins bis fünf.

„Wahid, itnan, alaeah, arba-ah, hamsah.“

„Oh! Ähm … sprechen Sie vielleicht zufällig auch Englisch?“

„Njet!“ Okay, das war zwar eher Russisch und bestimmt nicht Arabisch gewesen, aber es war ihm gar nicht aufgefallen. „Was Sie wollen?“

„Ah, Sie sprechen ja Deutsch! Hervorragend.“

„Nur bissken wänig. Sie wollen?“

„Habe hier schönes Zeitung für Sie“, radebrechte er, wie die meisten Leute es automatisch taten, wenn sie mit Ausländern sprachen.

„Was chaben?“

„Oh! Chaben viele Zeitung. Hier Tageszeitung. Sehr schön. Hier Zeitung für Mode. Ähm … herrje!“

Er hatte ihr die Modezeitschrift, auf der eine vollbusige Schönheit in sehr frivolen Dessous abgebildet war, sofort wieder aus der Hand gerissen.

„Ist für Sie vielleicht nicht gut!“

„Nicht gut?“

„Njet!“, hatte er ihr russisches Nein von vorhin nachgeahmt, die Modezeitschrift hastig wieder in seine Tasche gestopft und eine andere herausgezogen. „Besser schöne Zeitung für schöne Reise.“

Doch wie auf den meisten Zeitschriften waren auch auf dem Reisemagazin ein halbnacktes Model im Stringtanga und dazu noch ein junger Mann im sehr gewagten Badehöschen auf dem Cover abgebildet.

Ronja hatte einen gehetzten Blick nach hinten geworfen und scharf die Luft eingesogen.

„Wenn meine Mann sehen, Sie zeigen mich nacktes Männer, er machen Sie tot!“, hatte sie behauptet, mit beiden Händen ein imaginäres Schwert hochgehoben und es mit einem gefährlichen Zischen fallen lassen.

Der ängstliche Blick, mit dem er kehrtgemacht hatte und beinahe über die drei Stufen, die zu ihrer Haustür führten, gestolpert wäre, hatte dann doch ihr Mitleid erregt.

„Warten Sie!“, hatte sie ihm lachend nachgerufen. „Das war nur ein Scherz. Ich nehme eine! Das Reisemagazin. Ich reise leidenschaftlich gerne. Im Kopf zumindest.“

Um den Vertrag zu unterschreiben, hatte sie ihn hineingebeten. Ein anerkennendes „Wow!“ war ihm entschlüpft, als sie sich ihre Burka über den Kopf gezogen hatte.

Sie hatte ihm einen Kaffee gekocht, und als sie – Ronja war ein sehr feinfühliger Mensch – gemerkt hatte, dass er wohl schon seit Tagen am Hungertuch nagte, auch noch gleich ein reichhaltiges Mittagessen.

Seit diesem Tag verbrachte Ruben jede freie Minute bei Ronja. Zuerst waren sie gute Freunde geworden. Sie ergänzten sich hervorragend.

Während Ronja eine clevere Geschäftsfrau war, der niemand ein X für ein U vormachen konnte, war Ruben der typische schusselige Künstler.

Er vergaß oft völlig, seinen Lohn einzufordern. Bei seinen Klavierstunden schaute er nie auf die Uhr, blieb so lange, wie das jeweilige Kind Spaß am Üben hatte, und ließ sich dann von den Eltern widerspruchslos einreden, die drei Stunden wären nur eine halbe gewesen.

Als Ronja...