Das Haus der Verlassenen - Roman

von: Emily Gunnis

Heyne, 2019

ISBN: 9783641235727 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Das Haus der Verlassenen - Roman


 

Prolog

Freitag, 13. Februar 1959

Meine geliebte Elvira,

wie soll ich diesen Brief nur beginnen?

Es fällt mir sehr schwer, einem kleinen Mädchen wie Dir zu erklären, warum ich beschlossen habe, aus dem Leben zu scheiden und Dich allein zurückzulassen. Du bist meine Tochter, und wenn Du auch nicht mein leibliches Kind bist, so gehört Dir doch mein ganzes Herz. Ich weiß, dass mein Tun all dem Kummer, den Du bereits in den acht langen Jahren Deines kurzen Lebens erlitten hast, noch einen weiteren Schmerz hinzufügen wird.

Ivy hielt inne und versuchte, sich zu sammeln, damit ihre Hand zu zittern aufhörte und sie weiterschreiben konnte. Sie blickte sich in dem großen Trockenraum um, wo sie sich in einer Ecke versteckt hatte. Von der Decke hingen dicke Stangen mit Laken und Handtüchern herab, die die aufgerissenen und geschwollenen Hände der schwangeren Mädchen in St. Margaret’s makellos sauber gewaschen hatten und die nach dem Bügeln im unteren Stockwerk bereit waren für die nichts ahnende Welt außerhalb dieser Mauern. Ivy senkte den Blick wieder auf das zerknüllte Blatt Papier auf dem Boden vor ihr.

Wärst Du nicht gewesen, Elvira, ich hätte den Kampf darum, auf dieser Welt zu bleiben, schon viel früher aufgegeben. Seit man mir Rose weggenommen hat, spüre ich keine Lebensfreude mehr. Eine Mutter kann ihr Baby ebenso wenig vergessen wie ein Baby seine Mutter. Ich weiß, dass Deine Mutter, wäre sie noch am Leben, jede Minute eines jeden Tages an Dich denken würde.

Wenn Du von hier fliehst – und Du wirst fliehen, Liebes –, musst Du nach ihr Ausschau halten. In den Sonnenuntergängen und den Blumen, in allem, was dieses wunderbare Lächeln auf Deine Lippen zaubert. Denn sie ist in der Luft, die Deine Lungen füllt, sie gibt Deinem Körper Kraft, um stark zu werden und ein erfülltes Leben führen zu können. Du wurdest geliebt, Elvi, jeden Tag, den Du im Bauch Deiner Mutter herangewachsen bist. Das musst Du ganz fest glauben und stets im Gedächtnis behalten.

Ihre Hand verkrampfte sich, als sie Schritte über sich hörte. Ihr Atem beschleunigte sich ebenso wie ihr Herzschlag, und unter dem braunen Kittel war ihr Körper schweißbedeckt. Sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, bis Schwester Angelica zurückkäme und den einzigen Moment am Tag beendete, in dem sie unbeobachtet war. Ivy blickte auf den hastig hingekritzelten Brief und sah Elviras wunderhübsches Gesicht im Geiste vor sich. Tränen stiegen in ihr auf, die sie eilig unterdrückte, als sie sich die weit aufgerissenen braunen Augen und die bleichen, zitternden Hände der Achtjährigen vorstellte, während sie mühsam Wort für Wort entzifferte.

Jetzt hältst Du den Schlüssel in Händen, den ich mit in das Kuvert stecke. Es ist der Schlüssel zum Tunnel und zu Deiner Freiheit. Ich werde Schwester Faith, so gut ich kann, ablenken, aber Du wirst nicht viel Zeit haben. Sobald der Hausalarm schrillt, wird Schwester Faith aus dem Bügelzimmer kommen. Du musst sofort loslaufen. Schließ die Tür zum Tunnel am Ende des Raums auf und steig die Treppe hinunter. Dann biegst Du rechts auf den Friedhof ab. Lauf zum Nebengebäude und sieh Dich nicht um!

Sie unterstrich die letzten Worte so kraftvoll, dass der Stift ein Loch ins Papier riss.

Es tut mir wirklich leid, dass ich es Dir nicht persönlich gesagt habe, aber ich hatte Angst, Du wärst bestürzt über mein Vorhaben und könntest uns verraten. Als ich gestern Abend zu Dir kam, dachte ich, sie würden mich nach Hause schicken, aber das tun sie nicht, sie haben anderes mit mir vor. Aus diesem Grund benutze ich meine Flügel, um St. Margaret’s zu verlassen, und das ist Deine Gelegenheit zu entkommen. Du musst Dich bis Sonntag in der Früh verstecken, also bis übermorgen, deshalb nimm eine Decke mit. Und pass auf, dass Dich niemand sieht.

Ivy biss sich auf die Unterlippe, und der metallische Blutgeschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie hatte den Moment, als sie am Morgen in das Büro von Mutter Carlin eingebrochen war, noch in lebhafter Erinnerung. Wie sich die freudige Erwartung, in den Akten einen Vermerk über den Verbleib ihres Babys zu lesen, in Verzweiflung wandelte, als sie nicht die geringste Spur von Rose fand. Stattdessen enthielt die Akte sechs Briefe. Die Durchschrift eines Schreibens an eine psychiatrische Anstalt mit der Empfehlung, sie sofort aufzunehmen, und fünf von ihr verfasste Briefe, in denen sie Alistair anflehte, sie und das Baby aus St. Margaret’s abzuholen. Die Umschläge waren mit einem Gummiband zusammengebunden, und auf jedem stand in Alistairs krakeliger Schrift: Zurück an Absender.

Sie trat an das kleine Fenster des dunklen, abscheulichen Raums, wo sie so viel Leid erfahren hatte. In dem Wissen, dass es das letzte Mal für sie war, beobachtete sie den Sonnenaufgang. Dann steckte sie Alistairs Briefe in ein Kuvert, das sie im Schreibtisch fand, schrieb eilig die Adresse ihrer Mutter darauf und versteckte es in dem Poststapel. Anschließend war sie die Treppe hinauf in ihr Bett geschlichen.

Ich habe weder die Hoffnung, eines Tages frei zu sein, noch, Rose wiederzufinden, deshalb fehlt mir die Kraft weiterzuleben. Aber Du, Elvira, musst weitermachen. In Deiner Akte habe ich gelesen, dass Du eine Zwillingsschwester hast, die Kitty heißt und wahrscheinlich nichts von Dir weiß. Der Name deiner Familie ist Cannon, und sie leben in Preston. Sicherlich werden sie dort sonntags zur Kirche gehen. Bleib im Nebengebäude, und wenn Du die Glocken läuten hörst und die Dorfbewohner zur Kirche kommen, versteck Dich auf dem Friedhof, bis Du Deine Zwillingsschwester siehst. Du wirst sie auf jeden Fall erkennen, auch wenn sie andere Kleider trägt als Du. Versuch, auf Dich aufmerksam zu machen, sie wird Dir helfen.

Du bist ein freier Mensch. Hab keine Angst davor, zu fliehen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Schau auf das Gute in den Menschen, Elvira, und sei selbst stets liebenswürdig zu anderen.

Ich liebe Dich, und ich werde auf Dich achtgeben und immer Deine Hand halten. Nun lauf, Liebes. LAUF!

Deine Ivy

Ivy fuhr zusammen, als die Tür aufging und Schwester Angelica ins Bügelzimmer stürmte, wo Elvira und sie viele Stunden miteinander verbracht hatten. Sie starrte Ivy wütend mit zusammengekniffenen Augen durch die Nickelbrille auf ihrer fleischigen Nase an. Ivy stand hastig auf und versteckte den Brief in ihrer Kitteltasche. Sie senkte den Blick, um der Nonne nicht in die Augen schauen zu müssen.

»Bist du immer noch nicht fertig?«, herrschte Schwester Angelica sie an.

»Tut mir leid, Schwester«, erwiderte Ivy, die Augen fest auf den Boden geheftet. »Schwester Faith hat gesagt, ich könnte ein Antiseptikum bekommen.« Sie vergrub ihre zitternden Hände in den Kitteltaschen.

»Wozu?« Sie spürte Schwester Angelicas bohrenden Blick.

»Einige Kinder haben schlimme Mundgeschwüre und können kaum etwas essen.«

»Diese Kinder gehen dich nichts an«, lautete die barsche Antwort. »Sie können von Glück sagen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben.«

Ivy dachte an die langen Reihen von Kinderbetten und an die apathisch ins Leere starrenden Babys, die das Schreien schon lange aufgegeben hatten. Schwester Angelica fuhr fort: »Für das Antiseptikum müsste ich zum Lagerraum gehen, das ist sehr weit. Außerdem ist es jetzt Zeit, Mutter Carlin das Abendessen zu bringen. Glaubst du nicht, dass ich genug zu tun habe?«

Ivy schwieg, dann sagte sie: »Ich möchte den Kleinen nur helfen, Schwester. Ist das nicht das Beste für alle?«

Schwester Angelica blickte sie wieder wütend an, und ihr Kinn mit den feinen Härchen darauf zitterte. »Dort, wo du hingehst, wird dir das wohl kaum gelingen.«

Ivy spürte Adrenalin durch ihren Körper strömen, als Schwester Angelica sich zum Gehen wandte und nach ihrem Schlüsselbund griff, um sie wieder einzusperren. Ivy zog die zitternden Hände aus den Taschen und stürzte zur Tür. Sie packte das Nonnengewand und zog, so fest sie konnte. Schwester Angelica schnappte nach Luft, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Schnell setzte sich Ivy auf sie und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, während sie mit der anderen den Schlüsselbund vom Gürtel löste. Als Schwester Angelica den Kopf zur Seite drehte und ihren Mund öffnete, um zu schreien, brachte Ivy sie mit einer heftigen Ohrfeige zum Schweigen. Schwer keuchend und mit vor Angst und Aufregung rasendem Herzen, erhob sich Ivy und rannte zur Tür, die laut hinter ihr ins Schloss fiel. Ihre Hände zitterten inzwischen so stark, dass sie Mühe hatte, den richtigen Schlüssel zu finden. Als es ihr endlich gelang, ihn im Loch herumzudrehen, rüttelte Schwester Angelica schon heftig an der Türklinke.

Einen Augenblick lang stand Ivy da und rang nach Luft. Dann löste sie den großen Messingschlüssel vom Bund, wickelte ihn in ihren Brief ein und presste die Lippen darauf. Sie wuchtete die schwere Eisenklappe am Wäscheschacht hoch, drückte den Summer und schickte das Päckchen nach unten zu Elvira. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das kleine Mädchen, das geduldig auf die trockene Wäsche wartete, so wie jeden Abend. Eine Welle der Verzweiflung erfasste Ivy, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie lehnte sich vor und stieß einen Schrei aus.

In dem Moment begann Schwester Angelica, zu schreien und mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern. Ivy warf einen letzten Blick in den Schacht, der zum Bügelraum und zu Elvira führte, dann drehte sie sich um und rannte los. Sie lief an der schweren Eichenholztür vorbei, obwohl sie den Haustürschlüssel in den Händen hielt, denn dahinter befand sich eine hohe Steinmauer mit Stacheldraht, und sie war weder kräftig noch mutig...