Das Vermächtnis der Eistatzen, Band 2: Immerfrost

Das Vermächtnis der Eistatzen, Band 2: Immerfrost

von: Kathryn Lasky

Ravensburger Buchverlag, 2019

ISBN: 9783473479443 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 12,99 EUR

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Das Vermächtnis der Eistatzen, Band 2: Immerfrost


 

Als der rote Komet durch die Dunkelheit zischte und Mond und Sterne blutrot färbte, schwammen die drei Bärenjungen Stellan, Jytte und Drei durch die Eisschollen der N’yrthgar-Meerengen. Die Monde des Sterbenden Eises nahten, und die Rinnen, die das Nunquivik-Meer mit dem Wintermeer der Nordlande verbanden, waren mit hüpfenden Eisschollen übersät. Seite an Seite durchpflügten die Gefährten das Labyrinth aus zerborstenen Eisbergen, die träge in den Strömungen dümpelten, und alle drei hatten die ganze Zeit nur einen Gedanken im Kopf. Sie mussten Svenna retten, die Mutter von Jytte und Stellan, und mit ihr die ganze bedrohte Bärenwelt.

Svenna war von den Zeithütern entführt worden, den grausamen Bären, die über das Eiskap herrschten. Diese Zeithüter beteten die Große Eisuhr an und versuchten mit allen Mitteln, auch das restliche Königreich der Bären in ihre Gewalt zu bringen. Ihre Methoden waren entsetzlich – sie schreckten nicht einmal davor zurück, hilflose Milchjunge zu entführen, um sie der Uhr zu opfern. Svennas eigene Junge, Stellan und Jytte, waren diesem grässlichen Schicksal nur entkommen, weil Svenna an ihrer Stelle zum Eiskap gegangen war, um der Uhr zu dienen. Die beiden Jungen wären am liebsten sofort losgestürmt, um sie zu retten, als sie das erfahren hatten. Aber Skagen, ihr weiser Lehrer, hatte sie ermahnt: „Ihr könnt eure Mutter nur befreien, indem ihr eure eigene Art befreit.“ Mit „eigener Art“ bezeichnete er alle anständigen Bären, deren Lebenswelt von den Tyrannen am Eiskap bedroht wurde.

Es gab nur einen Weg, Svenna zu retten: Sie mussten die Eisuhr und die Macht des Groß-Patek zerstören, des obersten Zeithüters. Aber zuallererst mussten sie ihren Vater finden, einen berühmten Rebellen namens Svern, der lange gegen die Zeithüter gekämpft hatte. Er war seit Jahren spurlos verschwunden. Es hieß, er sei in die Nordlande zurückgegangen, zu dem sagenumwobenen Bau des Immerfrosts.

„Unser Vater muss irgendwo ganz in der Nähe sein. Ich spüre es“, sagte Jytte. Ihre Stimme bebte vor Aufregung.

Stellans Herz zog sich zusammen, wenn er seine Schwester so reden hörte. Er wusste ja, wie sehr sie sich nach ihrem Vater sehnte, den sie noch nie gesehen hatten. Aber inzwischen stand viel mehr auf dem Spiel als nur ihre Familie.

„Es geht nicht nur um Pa, Jytte. Wenn wir ihn finden, müssen wir ihn auf unsere Seite bringen, damit er uns hilft, die Eisuhr zu zerstören. Und dann müssen wir das auch wirklich tun.“ Er merkte selbst, wie brüchig seine Stimme klang, und einen Augenblick konnte er nicht weitersprechen, weil er Angst hatte, in Tränen auszubrechen.

Jytte patschte mit ihrer Pfote ins Wasser. „Willst du mir etwa vorwerfen, dass ich das alles nicht ernst genug nehme, Stellan? Mir ist unsere Mission genauso wichtig wie dir, damit du es weißt!“

„Aber du redest immer nur von Pa, obwohl es doch um etwas viel Größeres geht.“

Drei schaute bekümmert von Jytte zu Stellan. Er war der kleinste von allen und musste häufig als Friedensstifter einspringen, wenn die Geschwister sich wieder einmal in die Haare gerieten. Als Svenna den Meuchlerbären folgen musste, hatte sie Stellan und Jytte zu Dreis Mutter Taaka gebracht, eine Bärin, die sich als falsch und herzlos entpuppte. Die beiden Jungen waren aus dem Bau geflohen, um ihr Leben zu retten. Und schließlich war auch Drei weggelaufen, der kleinste von Taakas Wurf, weil seine Mutter ihn grausam misshandelt hatte.

„Ihr habt beide recht“, sagte Drei jetzt sanft. „Es ist nicht einfach, Svern von unserer Mission zu trennen. Aber das Wichtigste ist, dass wir die Uhr zerstören, ob wir ihn finden oder nicht.“

„Er ist irgendwo beim Bau des Immerfrosts. Ganz bestimmt!“, beharrte Jytte trotzig. Sie glaubte felsenfest daran, dass sie Svern finden würden, und wollte nichts anderes hören. „Skagen hat es doch gesagt.“

„Skagen hat gesagt, dass er wahrscheinlich dort ist, Jytte. Er war sich nicht sicher“, wandte Stellan vorsichtig ein. Er musste Geduld mit seiner aufbrausenden Schwester haben, damit sie nicht aus dem Fell fuhr vor Zorn.

„Wir kommen näher.“ Jytte hörte auf zu paddeln, legte ihren Kopf zurück und sah zum Himmel auf. „Vergiss nicht, Skagen hat gesagt, diese Meerengen schlängeln sich nach Süden und Westen und münden in die Fjorde – die Fjorde, wo unsere Mama und unser Pa aufgewachsen sind. Er hat es uns auf der Karte gezeigt.“

Drei und Stellan hielten ebenfalls inne und schauten zu den Sternen auf, die in der samtschwarzen Haut des wolkenlosen Nachthimmels funkelten.

„Wir sind jetzt südwestlich vom Svrie-Stern“, sagte Stellan. Er hob eine Pfote zu einem der beiden Sterne, die nach Norden zu dem Stern namens Immerfest zeigten. „Unser Leitstern. Der, der Mama …“ Seine Stimme versagte, als er an die letzten Nächte mit ihrer Mutter dachte. Svenna hatte angefangen, ihnen die Sterne zu erklären, und ihnen gezeigt, wie sie sich mit ihrer Hilfe in fremden Gegenden zurechtfinden konnten.

„Bald werden sie verblassen. Die Dämmerung bricht an. Und unser Leitstern verschwindet“, sagte Drei.

„Hey, ihr beide! Wer als Erster zur Dämmerung kommt“, rief Jytte, die immer ganz wild auf Wettkämpfe war.

„Ha!“, trumpfte Stellan auf. „Dann würdest du ja rückwärts schwimmen. Die Dämmerung bricht hinter uns im Osten an. Und wir schwimmen nach Westen.“

„Oh, Stellan, warum bist du immer so ein Spielverderber? Ich will doch nur mit euch um die Wette schwimmen, bis das Licht kommt und die Nacht verschlingt.“ Jytte stob davon und zog kraftvoll ihre Unterarme durchs Wasser. Von ihren Hinterbeinen gingen gleichmäßige Wellen aus.

Stellan hatte seine Schwester immer darum beneidet, dass sie wie ein Fisch durchs Wasser glitt. Ihre Hinterpfoten hatten genau die richtige Form, um das Wasser zu zerteilen, während sein Backbordhinterfuß leicht gebogen war, was das Paddeln viel schwieriger machte. Die Welle, die davon abging, war irgendwie schief.

Jytte drehte den Kopf herum und warf ihm einen schmollenden Blick zu. Oder war sie nur traurig? Ihre Augen hatten sich getrübt, als wäre sie von einem alten Kummer eingeholt worden. Dachte sie vielleicht an Skagen? Stellan wusste, dass Jyttes Launen blitzschnell umschlagen konnten. Skagen, ein alter Schneeleopard und eines der anmutigsten Geschöpfe der Frostlande, hatte ihnen fast genauso viel beigebracht wie ihre Mutter, auch wenn er nicht von ihrer Art war. Er hatte ihnen gezeigt, wie man Karten liest, hatte ihnen alles über Uhren und andere Zeitmesser erklärt, und er hatte sie vor der Eisuhr gewarnt, in der die armen kleinen Ticktacks geopfert wurden. „Vergesst nie, Kinder“, hatte er einmal gesagt, „eine Uhr ist nur ein Instrument, das die Anderen erfunden haben – keine allmächtige Gottheit, die man anbeten muss.“

„Alles in Ordnung mit dir, Jytte?“, fragte Stellan.

„Ja, natürlich“, sagte sie betont fröhlich, was gar nicht zu dem kummervollen Ausdruck in ihren Augen passte. Falls sie um Skagen trauerte, würde sie es jedenfalls nie zugeben.

Und schon schwamm Jytte wieder voraus und blickte zum Svrie-Stern hinauf. Es war ein schönes Gefühl, in seinem Licht zu schwimmen, das sich jetzt sanft im glasig dunklen Wasser spiegelte.

Svrie, das Oberhaupt des ersten Bärenrats im Bau des Immerfrosts, war ein Vorfahre von Stellan und Jytte gewesen. „In der guten alten Zeit von Svrie“, hatte ihre Mama oft gesagt, wenn sie eine Geschichte vom Längst-Vorbei erzählte, einer Zeit, in der die alten Bräuche noch geehrt und die Mythen und Legenden der Bärenclans von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. Und genau darauf schwamm Jytte jetzt zu – nicht nur auf eine Dämmerung, wie man sie jeden Tag erleben kann, sondern auf jene ferne Morgendämmerung, von der sie bisher nur gehört hatte. Die Zeit von Svrie war im Geist aller Bären eng mit den edlen Ratsmitgliedern verknüpft, die sich in der Eissternkammer im Bau des Immerfrosts versammelt hatten.

„Komm, Stellan!“, rief Drei. „Denk an Marven!“

Ja, Marven!, dachte Stellan freudig und zog mit kräftigen Bewegungen an Jytte vorbei. Der große Svrie war nicht ihr einziger berühmter Vorfahre gewesen. Auch Marven zählte dazu, ein Held aus der Zeit der Großen Schmelze, als der größte Teil des Bärenreichs überflutet war und es von gefährlichen Seemonstern nur so wimmelte. Marven war ein legendärer Schwimmer gewesen. Und er hatte viele der wilden Drachenwalrösser besiegt, die blutige Schneisen in die anschwellenden Fluten geschnitten und Tausende von Bären getötet hatten.

„Du hast mich besiegt!“, rief Jytte keuchend hinter Stellan her. „Und jetzt will ich nie wieder dieses Gejammer hören, dass du deine Hinterbeine nicht flach genug halten kannst, um richtig zu paddeln.“ Lachend holte sie ihn ein und zupfte ihn am Ohr. „Lust auf einen kleinen Wasserringkampf?“

„Keine Zeit für Ringkämpfe“, wehrte Stellan ab und schwamm von ihr weg. „Komm schon, Jytte, vor uns liegt Arbeit. Wenn mich nicht alles täuscht, erreichen wir jetzt die Fjorde, wo unsere Mama und unser Pa herkommen. Nach Skagens Karten führen sie zum Bau des Immerfrosts.“

Ein lautes Krachen zerriss die Luft und die Jungen wirbelten erschrocken herum. Ein riesiger Eisberg war gerade in zwei Hälften zerborsten. Er war so nah, dass sie das aufgewühlte Wasser spürten.

„Ach, da kalbt nur wieder ein Eisberg“, sagte Stellan, den Blick auf die beiden Eistrümmer geheftet, die im dunklen Wasser der Rinnen herumschwappten. Die Bruchstelle war nahezu...