Twyns, Band 2: Zwischen den Welten

von: Michael Peinkofer

Ravensburger Buchverlag, 2019

ISBN: 9783473479511 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Twyns, Band 2: Zwischen den Welten


 

Wie alt genau der alte Runzach eigentlich war, wusste niemand, nicht einmal er selbst.

Natürlich war er irgendwann geboren worden, aber damals, so behauptete er immer, war das Geburtstagfeiern noch nicht erfunden worden, weshalb man die Geburtstage auch nicht gezählt hatte. Trotzdem waren sich alle Gobblinge einig, dass Runzach der Älteste von ihnen war und der Weiseste. Wenn es ein Problem gab, suchten die Gobblinge ihn auf, um ihn zu befragen, den Ältesten der Ältesten.

Dass Kinder ihn um Rat baten, kam eher selten vor, denn die meisten kleinen Gobblinge fürchteten sich vor ihm. Auch weil es in dem Gewölbe, das er bewohnte, immer etwas muffig roch – eine Mischung aus Heublumen und altem Holz, wie Anny fand, als Jack und sie die Stufen zu Runzachs Quartier hinabstiegen. Und lag da nicht auch ein Hauch von vertrocknetem Apfel in der Luft?

„Wer stört mich?“, ertönte es krächzend aus der kleinen Kammer, die am Ende der Treppe lag. Das gelbe Licht eines wärmenden Kaminfeuers drang von unten herauf.

„Mei-mein Name ist Annlea, Euer Uralt“, stellte Anny sich vor. „Prinzessin Annlea.“

„Ah, der andere Zwilling“, kam es scharfsinnig von unten. „Und was willst du?“

„Nur eine Auskunft, Euer Uralt“, erwiderte Anny. Jack hatte ihr gesagt, dass das die korrekte Anrede des Ältesten war. „Ich will Sie wirklich nicht stören.“

„Das hast du bereits getan.“

„Und ich habe Schokolade dabei“, ergänzte Anny.

„Schokolade?“, echote es von unten.

„Eine ganze Tafel“, fügte Anny hinzu. „Aus der Menschenwelt.“

„Warum hast du das nicht gleich gesagt? Tritt ein, liebes Kind – und vergiss die Schokolade nicht.“

Anny musste grinsen. Sie wandte sich zu Jack um, der zögernd am oberen Treppenansatz gewartet hatte, und winkte ihn zu sich. Gemeinsam stiegen sie hinab und traten unter dem niedrigen Türsturz hindurch in die Kammer des alten Gobblings. Sie war gemütlich eingerichtet, mit einfach gezimmerten Möbeln, einem kleinen Tisch in der Mitte und einem großen Ledersessel, in dem der alte Runzach saß.

Wynn hatte mit ihrer Beschreibung nicht übertrieben.

Das Gesicht des alten Gobblings sah tatsächlich aus wie ein Apfel, der getrocknet und verschrumpelt war, und es war auch genauso rot. Runzach trug ein Mäntelchen aus Wolle, das schon vor langer Zeit gestrickt worden sein musste, denn es war an vielen Stellen zerrissen und mit Flicken ausgebessert. Seine Füße, die in der Luft baumelten, steckten in den typischen Filzschuhen, die Gobblinge immer trugen. Und auf seinem Kopf thronte ein wahres Ungetüm von Bommelmütze, das direkt auf seinen großen, abstehenden Ohren saß. Am meisten faszinierten Anny jedoch die Augen des Greises, die sie über seine knollenförmige Nase hinweg ansahen, denn sie wirkten kein bisschen alt, sondern wach und aufmerksam.

„Kommt rein, kommt rein!“, forderte er seine Besucher auf und deutete auf den Teppich, der vor seinem Sessel auf dem Boden lag. „Setzt euch zu mir.“

Anny und Jack waren froh, Platz nehmen zu können, denn die Decke in dem Gewölbe war so niedrig, dass sie nicht aufrecht darin stehen konnten. Im Schneidersitz auf dem Teppich sitzend, passte es gut.

Der alte Runzach kniff ein Auge zu, mit dem anderen sah er Anny prüfend an. „Du erwähntest eine Schokolade …?“

„Oh ja, natürlich.“ Anny war von dem Anblick des ungewohnten Kerlchens so abgelenkt, dass sie alles andere beinahe vergessen hatte. Außerdem war es ziemlich heiß in Runzachs Kammer. Das Feuer im Kamin knisterte nicht nur fröhlich, sondern verbreitete auch eine enorme Wärme, die sich unter der niedrigen Decke staute.

Anny griff in die Falten ihres Kleides und zog die Tafel Schokolade hervor, die sie aus der Menschenwelt mitgebracht hatte – zusammen mit zwei Päckchen Kaugummi, einer Tüte Minzbonbons und ein paar anderen Dingen, auf die sie in der Anderwelt nicht hatte verzichten wollen. Runzachs Augen funkelten begehrlich, als er die Schokolade erblickte.

„Bitte schön“, sagte Anny feierlich und überreichte ihm das gute Stück, das bereits weich zu werden begann. Die Art und Weise, wie der alte Runzach die Verpackung öffnete und sich mit seinen kurzen Fingern ein Stück abbrach, verriet, dass er nicht zum ersten Mal eine Tafel Schokolade aus der Menschenwelt in den Händen hielt. Obwohl er nur noch wenige Zähne hatte, biss er gierig davon ab und kaute schmatzend – und im nächsten Moment legte sich ein wonniger Ausdruck über seine verknitterten Züge.

„Gut, sehr gut“, murmelte er.

„Dürfen wir Sie etwas fragen?“

„Natürlich“, sagte er und ließ ein weiteres Stück Schokolade in seinem Mund verschwinden. Seine ohnehin schon roten Wangen begannen regelrecht zu glühen.

„Es geht um Jack hier“, begann Anny vorsichtig.

„Was ist mit ihm?“, schmatzte es zurück. Runzach war schon beim nächsten Stück. Die Schokolade interessierte ihn offenbar mehr als Annys Fragen.

„Er stammt aus der Menschenwelt, nicht wahr?“, fuhr sie fort. „Die Gobblinge haben ihm gesagt, dass sie ihn vor dem Burgtor gefunden hätten, als er noch ganz klein war …“

„Und?“ Die halbe Tafel hatte der alte Runzach schon aufgefuttert, und Anny hatte das Gefühl, sich beeilen zu müssen …

„Was genau ist damals passiert?“, wollte sie wissen. „Wie kam es, dass er plötzlich vor dem Burgtor lag?“

„Wen interessiert’s?“, schmatzte Runzach. „Das alles ist lange her, nicht wahr? Wie alt ist der Junge jetzt? Acht Jahre? Neun?“

„Ich bin zwölf“, stellte Jack klar. „Und ich würde gern erfahren, wer ich bin und woher ich komme.“

„Du bist Jack und du bist ein Gobbling – mehr oder weniger jedenfalls.“ Runzach hatte die Tafel fast aufgegessen, es war nur noch ein einziges Stück übrig. Dafür war sein Mund rundherum mit brauner Schokolade verschmiert. „Alles andere braucht dich nicht zu interessieren.“

„Es interessiert mich aber, Euer Uralt“, beteuerte Jack, „denn es hat den Anschein, als würde sich ein Teil von mir zumindest ein bisschen erinnern, und …“

„Was?“ Ein kreischender Laut entfuhr dem alten Gobbling. Das letzte Schokoladenstück blieb ihm förmlich im Hals stecken.

„Da war ein Lied, das mir bekannt vorkam. Ich glaube, ich habe es schon früher gehört, als ich noch klein war.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Runzach streng. Seine wachen Augen blitzten Jack an.

„Er weiß es ja nicht, es ist nur ein Gefühl“, warf Anny ein. „Aber er würde gern mehr über sich erfahren. Bitte, Euer Uralt, können Sie uns nicht etwas darüber erzählen?“

„Worüber?“

„Wie ich hierhergekommen bin“, erwiderte Jack. „Über das, was damals geschehen ist.“

Der alte Gobbling starrte ihn an, und es war unmöglich, zu sagen, was hinter seiner runzligen, schokoladenverschmierten Stirn vor sich ging. Den letzten Bissen schien er zusammen mit einem dicken Kloß hinunterzuschlucken.

„Darüber weiß ich nichts“, erklärte er dann kategorisch.

„Aber wie kann das sein?“ Anny und Jack schauten sich zweifelnd an. „Sie sind der älteste lebende Gobbling! Sie müssen doch wissen, was damals geschehen ist!“

„Kann sein, dass ich es mal wusste. Aber ich habe es vergessen. Das kann passieren in meinem Alter.“

„Jack ist der einzige Menschenjunge, der jemals bei den Gobblingen aufgenommen wurde“, sagte Anny. „Und ausgerechnet das haben Sie vergessen?“

„Ich bin eben nicht mehr der Jüngste.“ Der alte Runzach versuchte ein entschuldigendes Lächeln, das ihm allerdings nicht besonders gut gelang.

Anny war überhaupt nicht nach Lachen zumute. Für sie stand fest, dass der alte Gobbling ihnen etwas verschwieg. „Und wenn ich noch eine Tafel Schokolade hole?“, fragte sie, obwohl sie gar keine mehr hatte.

Wieder blitzten Runzachs Augen. Aber dann schüttelte er den Kopf. „Auch dann nicht“, sagte er.

„Dann müssen wir jemand anders fragen.“

„Das wird euch nicht weiterbringen“, sagte der Gobbling streng, „denn es wird euch niemand Auskunft geben.“

„Warum nicht?“, fragte Jack.

„Weil es eben so ist“, beschied ihm der Alte, der plötzlich eher einer Schnappschildkröte glich als einem Apfel. „Niemand will über diese Dinge reden, also wäre es unhöflich, danach zu fragen! Und lasst euch ja nicht einfallen, in den alten Chroniken in der Bibliothek darüber nachzulesen, verstanden? Und jetzt geht, ich habe zu tun!“

„Aber …“, versuchte Anny es noch einmal, doch dann wurde ihr plötzlich klar, was der alte Runzach eben zu ihnen gesagt hatte.

„Danke, Euer Uralt“, erwiderte sie deshalb nur.

„Danke?“ Jack sah sie zweifelnd an. „Er hat uns gerade rausgeschmissen!“

„Noch nicht, junger Mann, aber ich werde es eigenhändig tun, wenn ihr nicht auf der Stelle meine Wohnung verlasst!“, keifte der alte Gobbling und machte Anstalten, sich aus seinem Sessel zu erheben. „Wo hab ich denn den Stock gelassen?“, ächzte er und blickte sich hektisch um.

„Nicht nötig“, sagte Anny, und sie und Jack standen hastig auf – und stießen sich prompt den Kopf an der niedrigen Decke. Wenig später waren die beiden auch schon auf dem Weg nach draußen, Anny voraus und Jack wie ein begossener Pudel hinterher.

„Schade um die Schokolade“, brummte er.

Aber Anny war sich da nicht so...