Kinski - Die Biographie

von: Christian David

Aufbau Verlag, 2018

ISBN: 9783841216755 , 447 Seiten

Format: ePUB

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Kinski - Die Biographie


 

Kind und Krieg


Die Jahre sind verweht und die Spuren immer schwerer zu sichern. Einen Weltkrieg und acht Jahrzehnte liegen Geburt und Kindheit von Klaus Kinski zurück. Nicht nur das Vergehen der Zeit, sondern auch das der Menschen steht einer authentischen, lückenlosen Aufarbeitung entgegen. Und die noch da sind, können sich teils nicht mehr erinnern, oder sie wollen dies gar nicht.

Am Anfang wie am Ende: Außerhalb dessen sein, was inzwischen als Deutschland bezeichnet wird. Deutsch sein – und doch mehr, nämlich europäisch, schließlich international. Nicht festlegbar auf Tugenden und Untugenden eines konstruierten nationalen Kontextes. Grenzen überschreitend. Das jedenfalls sollte für Klaus Kinski vom ersten Tag seines Lebens an gelten, bis ganz zum Schluss.

Das von der damaligen Hautevolee frequentierte Ostseebad Zoppot war von polnischem Staatsgebiet umgeben, aber vorläufig noch eine deutsche Enklave. Seit 1920 gehörte das ehemals westpreußische Zoppot zur Freien Stadt Danzig, die bis 1939 einen teilsouveränen Freistaat unter dem Mandat des Völkerbundes bildete. Vom Glanz der zwanziger Jahre, vom mondänen Kurleben ist heute nichts mehr geblieben als die Hotelbauten, deren Verfall die Melancholie der Zoppoter Atmosphäre gewiss nicht behindert, im Gegenteil: Man weiß nicht, wohin man blicken soll, auf die trübe See oder auf ebenso graue Fassaden, die nicht vom Leben, sondern vom Aufgeben berichten. Eine Renaissance ist nicht in Sicht.

Um neun Uhr dreißig morgens am 18. Oktober 1926 wurde in Zoppot ein Kind geboren, dem man einen Tag später im Standesamt die Vornamen Klaus Günter Karl gab. Der Familienname Nakszynski ist polnisch, doch nur der Herkunft, nicht der Identität seiner Träger nach. Der Vater war der Apotheker und angebliche frühere Opernsänger Bruno Nakszynski, die Mutter, eine Pfarrerstochter aus Danzig-Langfuhr und Krankenschwester, hieß Susanne, geborene Lutze, und stammte ursprünglich aus Leipzig. Klaus war kein Einzelkind, seine älteren Geschwister hießen Hans-Joachim, Arne und Inge.

Das zweistöckige, mit einem hölzernen Vorbau versehene Geburtshaus ist erhalten, das Bildhauerehepaar Ewa und Andrzej Reichel betrieb darin Jahre später eine Bar sowie eine Galerie, und heute gilt das »Kawiarnia Kinski« – das »Café Kinski« – als beliebter Treffpunkt. Auf dem Haus prangt eine Erinnerungstafel, und im Lokal sieht man die in den Tresen eingelassene Geburtsurkunde sowie zahlreiche Bilder, die der Fotograf Beat Presser in den siebziger und achtziger Jahren von Kinski gemacht hat. Allerdings war der Weg zur nunmehrigen Zoppoter Kinski-Gedenkstätte steinig: Der Lokalhistoriker Wojciech Kass begab sich nach Kinskis Tod 1991 auf die Suche nach dessen Spuren, und eine monatelange Archiv-Recherche brachte schließlich die Geburtsurkunde zutage.1 1994 wurde die Gedenktafel angebracht, ein Festival mit Kinski-Filmen geriet zum Ereignis, und man plante, das größte Lichtspielhaus am Platze in »Kinski-Kino« umzubenennen. Doch schlug nun die Stunde jener Zoppoter, die ihre Stadt nicht mit einem vermeintlichen Enfant terrible assoziiert wissen wollten. Vertreter nationalistischer und katholischer Organisationen machten Kinski seinen angeblich unmoralischen Lebensstil zum Vorwurf, ungeachtet der Tatsache, dass sich der kleine Klaus zumindest in seinen Zoppoter Jahren wohl kaum jenes ausschweifenden Daseins hätte rühmen können, wie er es später in seiner Skandal-Autobiographie Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund2 tat. Es hagelte Beschwerdebriefe an alle möglichen Institutionen, in denen man forderte, doch lieber anständige und moralisch einwandfreie polnische Künstler zu ehren. Ein Pfarrer verwies auf Kinskis verderblichen Einfluss, nachdem unbekannte Vandalen eine Skulptur des Heiligen Adalbert beschädigt hatten, und die Wellen schlugen so hoch, dass schließlich der Danziger Erzbischof Tadeusz Gocłowski mit einem mahnenden Brief einschreiten musste. Inzwischen ist Ruhe eingekehrt, und heute meint man beinahe Stolz auf den Sohn dieser Stadt zu verspüren, zumindest dann, wenn wieder einmal ein ausländisches Fernsehteam zur Berichterstattung anrückt.

Doch lange blieb der kleine Klaus Günter gar nicht in Zoppot: Um 1931/32 zog die Familie nach Berlin um, und der Sohn trat 1936 in das humanistische Prinz-Heinrich-Gymnasium in Berlin-Schöneberg ein, wo er bis zur Untersekunda blieb: Diese Schule, die schon Hans Fallada und Eric Hobsbawm besuchten, war in einem roten Backsteinbau in der Grunewaldstraße 77 untergebracht, der 1944 durch Bombentreffer beinahe völlig zerstört wurde. Das sind die Fakten – aber wer war der Bengel, der später Schauspieler werden sollte, in dieser Frühzeit? Von den Geschwistern würde sich später nur Klaus – vor allem in seiner Autobiographie – eindeutig über die frühen Berliner Jahre äußern. Die anderen hingegen bewahrten gegenüber der Öffentlichkeit Schweigen, so dass als hauptsächliche Quelle für Kinskis Kinder- und Jugendjahre seine Autobiographie bleibt, die jedoch aufgrund ihrer vielfach drastischen Schilderungen an vielen Stellen wenig glaubhaft ist. War Kinski also wirklich das Berliner Straßenkind, zu dem er sich später selbst stilisierte? In den achtziger Jahren behauptete Kinski gegenüber einer italienischen Bekannten allen Ernstes, nicht nur ein solches Straßenkinder-Dasein, sondern dieses noch dazu in Neapel erlebt zu haben.3 Da sind auch die haarsträubendsten Geschichten, die Kinski selbst über seine Berliner Kinderumtriebe erzählte, noch weit weniger erfunden.

Bruno Nakszynski, der Vater, wurde in Kinskis Autobiographie zwar mit Sympathie, doch erkennbar distanziert geschildert: Ein etwas füllig wirkender Mann, auf dem rechten Auge blind, im linken ein loses Brillenglas als Monokel, mit kahlgeschorenem Kopf, der seinen erlernten Beruf anfangs nicht ausüben konnte und deshalb weit unter seinem Niveau leben musste.4 In dem Berliner Haus, in dem die Nakszynskis zunächst wohnten, habe es, so Kinski später, gestunken, Küchenschaben, Wanzen und Ratten hätten die Bewohner geplagt, ein Badezimmer habe es nicht gegeben, und die Toilette sei eine von Schmeißfliegen bevölkerte Latrine gewesen. Dann der Hinauswurf wegen ausbleibender Mietzahlungen, die mühsame Suche nach einer neuen Unterkunft, die in einem schlechten Hotel am Stettiner Bahnhof endete, schließlich – als der Vater endlich Arbeit in einer Pankower Apotheke fand – eine winzige Wohnung samt Etagenklo im dritten Hinterhof der Pallasstraße mit Blick auf die 22. Volksschule. Deren Kinderhort besuchte der kleine Klaus, daneben übte er sich angeblich ausgiebig im Stehlen, von Früchten aus Schrebergärten bis zu Lippenstiften für die Mutter und Hosenträgern für den Vater. Kinski gab später an, nicht nur als beinahe professioneller Dieb, sondern zudem als Gehilfe eines Kohlenhändlers, in Wäschereien, als Leichenwäscher und Kofferträger, bei Müllfahrern sowie Fischhändlern und als Verkäufer von Bockwurst, Putzmitteln und Bonbons gearbeitet zu haben5 – und all dies als noch minderjähriges Kind und Schüler im Berlin der dreißiger Jahre. Mag sein, dass Kinski hier und da mit Gelegenheitsarbeiten Geld hinzu verdiente, doch von einer regelmäßigen Tätigkeit, noch dazu in so wenig kindgemäßen Branchen, ist wohl nicht auszugehen.

Schließlich wurde eine neue Wohnung gefunden, die für die nächsten Jahrzehnte den Nakszynskis als Unterkunft diente: In der Wartburgstraße 3, vierter Stock, mit einem zwei Quadratmeter großen Balkon. Ob die von Kinski behauptete inzestuöse Begegnung dort ebenfalls stattfand, ja, ob sie überhaupt stattfand, bleibt fraglich. Beim Erscheinen der Autobiographie 1975 jedenfalls war der Unwillen der Geschwister über diese Schilderung deutlich zu vernehmen – als einzige öffentliche Korrektur der Schilderungen des mittlerweile berühmten Schauspielers. Dass seine Familie sich über die Schilderungen Kinskis wenig begeistert zeigte, überrascht nicht. In der Fassung von 1991 findet sich diese Stelle schließlich in stark gekürzter und entschärfter Form.6 Überhaupt: Dichtung und Wahrheit – bei Kinski verschmelzen sie zu einem nahezu unentwirrbaren Knäuel. Die Wartburgstraße ist jedenfalls damals wie heute alles andere als eine Gosse in einem Elendsviertel, sondern ein zutiefst bürgerlicher Straßenzug in Berlin-Schöneberg.

Auch die familiären Verhältnisse werden von Kinski übertrieben negativ dargestellt. Angeblich habe er eine kurze, grausame Etappe in einem Kinderheim überstanden, bis seine Mutter Arbeit als Heimnäherin fand. Am Prinz-Heinrich-Gymnasium, habe er mehrmals Lehrer verdroschen, weswegen er – eines von mehreren Malen – von der Schule geflogen sei. Als Ungeheuer sei er bezeichnet worden, und auf keiner Schule habe man ihn noch unterbringen können.7

Zwar hatte der Krieg schon begonnen, aber noch war Kinskis Welt in Ordnung: Er wurde Mitglied der Hitlerjugend und tat dort begeistert mit – weniger aus ideologischen Gründen als aus Freude an den dort gebotenen Spiel- und Abenteuermöglichkeiten. Im Sommer 1940 gelangte Kinski im Rahmen der Kinderlandverschickung zum ersten Mal in die damalige Ostmark, das Gebiet des annektierten Österreich. Der beinahe vierzehnjährige Klaus kam nach Millstatt am See, wo er mit anderen Jungen seiner Schule, von denen er »Naki« gerufen wurde, am Rande des Kurortes in der Villa Schrenk wohnte. Im Sommer 1941 kehrte Kinski erneut an den Millstätter See zurück und lernte die zwei Jahre ältere Lore O. kennen, eine Kärntnerin aus Völkermarkt, die zu dieser Zeit das damals vorgeschriebene Pflichtjahr in Millstatt ableistete. »Wir haben uns regelmäßig gesehen«, wird Lore O. Jahrzehnte...