Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen - Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen

Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen - Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen

von: Sonja Rohrmann

Hogrefe AG, 2018

ISBN: 9783456757728 , 104 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen - Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen


 

|9|1 Was ist das Hochstapler-Selbstkonzept?


Die Psychotherapeutinnen und Professorinnen Pauline Rose Clance und Suzanne Imes machten im Rahmen ihrer therapeutischen Sitzungen sowie Beratungs- und Trainingstätigkeiten in internationalen Gruppen und College-Klassen an der Universität Georgia, USA, folgende Beobachtung, die sie erstmalig 1978 beschrieben:

Eine Vielzahl erfolgreicher Studentinnen und Frauen, die herausragende akademische Leistungen aufwiesen, Doktortitel erworben hatten, angesehene Koryphäen in ihren unterschiedlichen Berufsfeldern waren und beruflich Karriere gemacht hatten, litten unter starken Selbstzweifeln. Sie neigten dazu, objektive Erfolgsindikatoren (etwa akademische Grade, Auszeichnungen) nicht mit den eigenen Fähigkeiten zu erklären, sondern diese auf übermäßige Anstrengungen oder äußere Umstände (Glück, Zufall, glückliches Timing, gute Beziehungen zu relevanten Personen, Charme oder Fehler, z. B. bei der Auswertung von Leistungstests oder der Einschätzung ihrer Kompetenz) zurückzuführen. Betroffene erfahren laut Clance und Imes (1978) hohe Anerkennung von Kollegen und Autoritäten, seien aber der Überzeugung, sie würden von anderen überschätzt. Objektiv betrachtet gibt es offenbar eine Reihe von Belegen für ihre Kompetenz, ihre hervorragenden Leistungen und Erfolge. Subjektiv schreiben sich diese Personen ihren Erfolg jedoch nicht selbst zu und können ihn nicht internalisieren. Vielmehr haben sie das Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben. Durch die Diskrepanz zwischen ihrem subjektiven Erleben von Inkompetenz und dem objektiven Erfolg haben diese Personen den Eindruck, eine Maske zu tragen, die vor anderen verbirgt, was tatsächlich hinter ihrer Fassade steckt (vgl. Abbildung 1-1). Sie fühlen sich als Betrüger und leben in ständiger Angst, dass ihre Maske fallen und der Schwindel auffliegen könnte, sie also entlarvt würden, sobald ihre vermeintliche Inkompetenz nicht länger verborgen werden könne.

Die mit hohem Erfolg verbundenen Merkmale wie Anerkennung, Macht und Status werden also nicht genossen, vielmehr leiden die Personen darun|11|ter, weil sie das Gefühl haben, dass sie ihnen in Wahrheit nicht zustehen. Die Erfolgsmerkmale steigern also nicht das Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, sondern lösen Versagensängste aus.

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Abbildung 1-1: Personen mit Hochstapler-Selbstkonzept haben das Gefühl, eine Maske zu tragen, die ihre vermeintliche Inkompetenz verbirgt und sie nach außen erfolgreich erscheinen lässt.

Clance und Imes (1978) erkannten, dass sich diese Frauen als Hochstaplerinnen empfanden, fassten ihre Beobachtungen unter dem Begriff „Impostor Phenomenon“ zusammen und führten diesen in die psychologische Fachliteratur ein. Die seitdem ebenfalls häufig in der Literatur zu findende Bezeichnung Impostor-Syndrom bzw. Hochstapler-Syndrom weckt jedoch leicht die Assoziation eines psychischen Störungsbildes (Brems, Baldwin, Davis & Namyniuk, 1994; Klinkhammer & Saul-Soprun, 2009). Der Begriff Syndrom kommt aus dem medizinischen Bereich und kennzeichnet eine Kombination von Symptomen, die typisch für ein bestimmtes Krankheitsbild sind. Obwohl Clance und Imes (1978) das Konzept des Impostor-Syndroms aus ihren Beobachtungen im Zusammenhang mit ihrer psychotherapeutischen Arbeit ableiteten, betonen sie explizit, dass dieses nicht in einer bestimmten diagnostischen Kategorie zu verorten ist, es sich demnach um keine krankhafte Beeinträchtigung oder Persönlichkeitsstörung handelt. Auch im Rahmen anerkannter Systeme zur Klassifikation psychischer Störungen wie der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen. ICD–10, Kapitel V (F) von Dilling, Mombour und Schmidt (2015) oder dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen DSM-5® von Falkai und Wittchen (2015) kann das Hochstapler-Selbstkonzept nicht eingeordnet werden. Ross und Krukowski (2003) hingegen wiesen nach, dass die Persönlichkeitsstörungsskalen im DSM-III-R 30 Prozent der Varianz im Hochstapler-Selbstkonzept-Persönlichkeitsmerkmal erklären und es Gemeinsamkeiten mit der ängstlich-vermeidenden und der abhängigen Persönlichkeitsstörung aufweist, die durch Gefühle von Anspannung und Besorgtheit, Unsicherheit und Minderwertigkeit bzw. ein geringes Selbstbewusstsein, eine depressiv getönte Grundstimmung sowie mangelndes Durchsetzungsvermögen gekennzeichnet sind. In extremer Ausprägung könnte man beim Hochstapler-Selbstkonzept auch von einem Hochstapler-Persönlichkeitsstil sprechen, wenn die hiermit verbundenen Merkmale, Denk- und Verhaltensweisen (die der Betroffene relativ unflexibel und nicht situationsangemessen einsetzt) deutlich vom Durchschnitt abweichen. Ross und Krukowski (2003) etwa betrachten das Hochstapler-Selbstkonzept als maladaptiven Persönlichkeitsstil. Während Persönlichkeitsstörungen schwere, lang anhaltende Störungen der Persönlichkeit darstellen, die verschiedene Bereiche des Lebens betreffen und mit |12|Verhaltens- und Erlebensmustern einhergehen, die von der sozialen Norm abweichen und mit erheblichen Beeinträchtigungen verbunden sind, sind Persönlichkeitsstile nichtpathologische Entsprechungen dieser Störungen im Sinne von ausgeprägten Neigungen zu bestimmten Verhaltens- und Erfahrensweisen. Die dysfunktionalen Denk- und Verhaltensweisen können in Extremvarianten aber auch Krankheitswert besitzen. Die allermeisten Personen mit Hochstapler-Phänomen bewältigen jedoch ihren Alltag und ihre Arbeit ohne Probleme (siehe auch Sakulku & Alexander, 2011) und zeigen nach außen keinerlei Verhalten, das kulturell erwarteten Normen entgegensteht. Die charakteristischen Denk- und Verhaltensweisen sollten daher – im Sinne eines dimensionalen Konstrukts – als Kontinuum von Persönlichkeitsmerkmal zu Persönlichkeitsstil aufgefasst werden, das nur in seinen Extremausprägungen pathologische Züge hat, sodass die Bezeichnung Hochstapler-Syndrom oder Impostor-Syndrom als inadäquat zu betrachten ist.

Um die Subjektivität des Erlebens, andere dazu gebracht zu haben, die eigene Person für kompetenter zu halten, als sie tatsächlich ist, deutlicher hervorzuheben, findet man in der Literatur (vgl. Kolligian & Sternberg, 1991) auch den Begriff perceived fraudulence („empfundener Betrug“). Im Deutschen werden ferner die Bezeichnungen Hochstapler-, Betrüger- oder Schwindler-Phänomen verwendet. Aufgrund der Tatsache, dass diese Bezeichnungen negativ konnotiert sind und auch eine Verwechslung mit dem tatsächlichen Hochstapler (vgl. Kapitel 2) möglich ist, obwohl es sich eigentlich um „Tiefstapler“ handelt, empfiehlt es sich, die Bezeichnung Hochstapler-Selbstkonzept zu verwenden, da es sich um ein inadäquates Selbstbild erfolgreicher Personen handelt, das eng mit negativen zentralen Selbstbewertungen zusammenhängt, wie in Kapitel 7 gezeigt wird.

Gemäß Clance und Imes (1978) setzt die Definition eines Hochstapler-Selbstkonzepts voraus, dass objektive Erfolgsnachweise vorliegen. Es konnte nachgewiesen werden, dass in Bezug auf objektive Leistungen keine Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Hochstapler-Selbstkonzept bestehen (Cozzarelli & Major, 1990) und sich Personen mit Hochstapler-Selbstkonzept lediglich subjektiv schlechter bewerten. Sie sind also bei objektiv nachgewiesenen Erfolgsmerkmalen durch eine verzerrte negative subjektive Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Kompetenz charakterisiert. Eine hohe Kompetenz scheint sogar die Voraussetzung dafür zu sein, ein Hochstapler-Selbstkonzept zu entwickeln, was bereits Zitate von Sokrates, Goethe und Einstein nahelegen:

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Sokrates, 469–399 v. Chr., der in Platons Apologie an mehreren Stellen seinen Mangel an Wissen thematisiert.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Goethe, 1749–1832 (Von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein – Neu abfotografiert im Städel-Museum Frankfurt von Martin Kraft).

„Mit dem Wissen wächst der Zweifel.“

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Einstein, 1879–1955; (Quelle: KEYSTONE/akg-images)

„Die übertriebene Wertschätzung meines Lebenswerks beunruhigt mich. Ich fühle mich gezwungen, mich als unfreiwilligen Betrüger zu...