Im Hier und Jetzt - Achtsamkeit in Coaching und Begleitung

von: Alexander Poraj

Verlag Herder GmbH, 2019

ISBN: 9783451815942

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Im Hier und Jetzt - Achtsamkeit in Coaching und Begleitung


 

Wer bin ich?


»Jeder wäre gerne Cary Grant.
Sogar ich wäre gerne Cary Grant.«
Cary Grant (Schauspieler)

»Gute Erziehung besteht darin, dass sie verbirgt, wie viel man von sich selber hält und wie wenig von den anderen.«
Jean Cocteau (Schriftsteller)

»Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?«
Unbekannter Verfasser

Die Frage »Wer bin ich?« ist eine der grundsätzlichsten Fragen überhaupt, die wir stellen können und auch stellen müssen. Weil alle anderen Fragen, Handlungen, Ziele und Überlegungen immer schon und meistens unbewusst davon ausgehen, dass es uns in der einen oder eben anderen Weise gibt und geben muss. Anders gesagt: Wenn Sie sagen, dort steht ein Baum, dann gehen Sie bereits davon aus, dass er vor Ihnen steht, Sie ihn sehen und sogar als »Baum« definieren können. Egal, wo Sie sich gerade befinden, sind Sie als ein »Ich« schon da. Sagen Sie: »Vor mir steht ein Baum, hinter mir ein Haus, unter mir ist die Wiese und oberhalb von mir der Himmel«, so haben Sie sich mit diesen vier Bemerkungen zum Zentrum des Universums gemacht. Alles befindet sich eben vor, unter, hinter oder oberhalb von Ihnen. Und was noch viel wichtiger ist, es spricht einiges dafür, dass Sie und ich es ständig tun. Deswegen: Bevor Sie sich darüber weiter den Kopf zerbrechen, um welchen Baum es sich hier handelt, der vor Ihnen steht, und für welche Möbel sich sein Holz eignen würde, welcher Coach Ihnen oder mir helfen könnte, unsere Ziele zu erreichen, und welche Methode Ihre und meine Beziehung glättet, sollten wir uns die Frage stellen: »Wer« ist es, der es will und der es unbedingt braucht? »Wer« leidet oder ist mit sich und der Welt unzufrieden? »Wer« ist es, der gecoacht, trainiert, beraten oder schlicht und einfach achtsamer werden will oder es gar soll?

Stellen wir diese Fragen nicht, und was noch viel wichtiger ist, werden wir uns der bereits in unserem Coaching, Training oder Achtsamkeitsübung implizierten Antworten auf diese selten gestellte Fragen nicht bewusst, dann arbeiten wir nur mit einer Ferndiagnose, nämlich ohne ein »Ich« gesehen zu haben.

Natürlich können Sie sofort dagegenhalten, dass Sie immer schon im direkten Kontakt mit dem Klienten sind. Sie sitzen sich doch gegenüber, und zwar physisch. Ja, das stimmt. Nur wen coachen Sie wirklich? Ein vor Ihrem objektiven »Ich« sitzendes anderes objektives »Ich«? Oder Ihre eigene, mehr oder minder bewusste Vorstellung von dem, was ein »Ich« ist und wie es gegebenenfalls sein soll? Oder noch was ganz anderes?

Es besteht ein kleiner und doch sehr entscheidender Unterschied zwischen diesen Fragen. Und wir werden ihm nachgehen müssen. Also machen wir auf unserem Spaziergang die erste größere Rast mit der Aussicht auf das »Ich«.

In den vorangehenden Kapiteln haben wir uns klargemacht, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Prozess des Definierens und einer Definition als etwas Feststehendem gibt. Unter anderem haben wir es daran feststellen können, wie gefragt wird. Eine Wer- oder Was-Frage erzwingt in den allermeisten Fällen eine Definition. Diese wiederum erscheint uns als das verbale Wiedergeben eines feststehenden Sachverhalts oder eines Gegenstandes. Es spricht aber einiges dafür – zum Beispiel die Einsichten klassischer spiritueller Wege, aber auch aktuelle Ergebnisse aus den Neurowissenschaften –, dass dieser Eindruck trügt. Also: Wenn Sie mich fragen, wer ich bin, und ich antworte: »Ich bin Alexander«, dann liegt das Definieren als Definition vor und dieses »Ich« »ist« dann Alexander. Aber wer oder was ist Alexander? Warum geben wir uns mit solchen Definitionen zufrieden?

Schauen wir uns dieses Ereignis in der Zeitlupe an. Die Wer-bist-du-Frage zwingt mich, möglichst schnell und eindeutig eine Antwort zu liefern. Je nach Umstand sage ich: Alexander, Mann, Vater, Zen-Lehrer, Coach und einige Bezeichnungen mehr, wie auch den Nachnahmen, den Geburtsort, die Staatsangehörigkeit oder aber eine Reihe von Vorlieben und Abneigungen, die mich auszumachen scheinen. In den meisten Fällen gibt sich die oder der Fragende damit zufrieden, vor allem dann, wenn meine Antwort mehrere der eben angeführten Angaben beinhaltet. So weit, so gut. Aber bin »Ich« diese Angaben? Machen sie mich aus? Und was ist, wenn eine andere Person auf die gleiche Frage mehrheitlich identische Antworten liefert, weil sie, wie der Zufall es so will, wirklich mit mir darin übereinstimmt? Nun, dann muss ich weitere Differenzierungen vornehmen, sodass ich, früher oder später, auf entscheidende Unterschiede werde hinweisen können, die dann eindeutig und ausschließlich meinem »Ich« zuzuordnen sind und keinem anderen »Ich«.

Was verdeutlicht uns dieser Vorgang? Er zeigt eine wichtige Eigenschaft meines »Ichs«, nämlich seine Prozesshaftigkeit. Und was bedeutet das?

Grundsätzlich bedeutet es, dass ich auf die Frage »Wer bin ich?« nicht mit der Beschreibung meines bereits vorhandenen »Ichs« antworten kann, sondern im gleichen Augenblick damit beginne, mich zu entwerfen. Und wie geschieht dieses Sich-Entwerfen? Ganz genau wissen wir es noch nicht. Dass es aber geschieht, ist weitestgehend gesichert. Also nochmals: Es fällt die Frage »Wer bin ich?«. Und augenblicklich beginne ich durch Denken, Erinnern, Assoziieren, Unterscheiden, Vergleichen oder Wahrnehmen ein mehr oder minder komplexes Bild zu entwerfen und aufrechtzuerhalten. Sowohl diese Fähigkeit als auch ihr Inhalt werden wiederum ab dem Moment der Geburt, vielleicht auch schon früher, kontinuierlich trainiert. Unbewusst hat dieses Training mit dem Leben an sich begonnen, besteht aus unüberschaubaren Wechselwirkungen und kennt keine wirklichen Grenzen. Das klingt nicht sehr romantisch, ich weiß es, deswegen werde ich versuchen, es angenehmer zu formulieren.

Wenn ich gefragt werde, wann ich geboren wurde, dann gebe ich den 6. Oktober 1964 an. Aber ist an diesem Tag mein »Ich« zur Welt gekommen? Nein. Ein schreiendes kleines Etwas, das viele unglaublich süß fanden, hat noch kein »Ich«. Es verkörpert aber eine ganze Reihe von Anlagen, die sich mit der Zeit und unter günstigen Umständen weiterentwickelt, ein »Ich« werden entwickeln und aufrechterhalten können. Diese Entwicklung ist ein intensives und allumfassendes Training. Vermutlich das intensivste, das wir jemals gehabt haben und haben werden. Es ist zugleich die Matrix für alle späteren Trainings, Coachings und Begleitungen, weswegen das Wer-bin-ich-Thema für uns von so entscheidender Bedeutung ist. Die für uns wichtigste Erkenntnis ist, dass unser »Ich« nicht bereits vorgefertigt auf die Welt kommt und sich nur noch zu entfalten hat, sondern dass es vor allem das Ergebnis einer Fülle hochkomplexer Beziehungen ist, von denen der mit unserer Mutter die wohl wichtigste Stellung zukommt. Die Einmaligkeit der Mutter-Kind-Beziehung wird vermutlich durch die Schwangerschaft und die besondere Zeit danach bedingt, an die trotz aller gesellschaftlichen Reformen die Väter nicht herankommen können. Für unsere Frage bedeutet das: Zuerst gibt es eine Beziehung und dann beziehungsweise dadurch entsteht mein »Ich« und nicht umgekehrt.

Damit ist mein »Ich« immer schon das unmittelbare Ergebnis von Beziehungen, in denen der Beziehung mit meiner Mutter eben eine besondere Rolle zukommt.

Auf den Punkt gebracht möchte ich die Wichtigkeit dieser einmaligen Beziehung zwischen Mutter und Säugling so beschreiben:

Mein »Ich« ist meine persönlichkeitsstiftende und lebenslang andauernde Interpretation des Blickes meiner Mutter auf mich.

Ich kann mir vorstellen, dass in diesem Augenblick viele Mütter, die das lesen, zusammenzucken. Deswegen beachten Sie bitte, dass in dieser Beschreibung die Betonung auf »meiner« Interpretation liegt und nicht auf dem Verhalten der Mutter. Das ist von entscheidender Bedeutung. Nicht nur, um die Mütter zu entlasten, sondern um die Verantwortung für alles immer schon bei uns selbst zu belassen, was als grundlegende Voraussetzung für alle erfolgreichen Coachings und Therapien die Basis liefert:

Ich: Was ist Ihr dominierendes Lebensgefühl?

Coachee: Was ich immer und ungeachtet aller Erfolge spürte, war und ist Angst.

Ich: Wie äußert sie sich?

Coachee: Dass das, was ich erreicht und geleistet habe, nicht wirklich ausreicht.

Ich: Können Sie dieses Gefühl jetzt auch spüren?

Coachee: Ja, es ist da.

Ich: Können Sie es jetzt genauer beschreiben?

Coachee: Egal, wie gut ich bin, verfolgt mich die Angst vor dem Scheitern.

Ich: O.k. Und wenn Sie sich jetzt gegen das Gefühl des Scheiterns nicht wehren würden, was dann?

Coachee: Puuhh … es zieht sich alles in mir zusammen …

Ich: Lassen Sie es geschehen.

Ich (nach einer gewissen Zeit): Was spüren Sie jetzt?

Coachee: Eine Art von Schwäche. Ich würde sagen, es ist Ohnmacht.

Ich: Wenn Sie Ihrem Gefühl folgen, wie alt sind Sie dann in diesem Moment?

Caochee: Irgendwie klein …

Ich: Und wie geht es dem Kleinen?

Coachee: Er ist oft traurig.

Ich: Was ist der Grund für seine Traurigkeit?

Coachee: Irgendwie ist die ganze Stimmung traurig …

Ich: Und noch genauer?

Coachee: Meine Mutter war oft traurig, abwesend, in sich versunken …

Ich: Was war geschehen?

Coachee: Ihre Zwillingsschwester kam kurz nach meiner Geburt bei einem Unfall ums Leben.

Ich: Was versuchte der Kleine zu tun?

Coachee: Ich wollte, dass es ihr wieder gut geht.

Ich: Und was hat der Kleine gemacht?

Coachee: Ich versuchte,...