Niemals ohne Lippenstift

von: Karina Moebius

Karina Verlag, 2019

ISBN: 9783966107600 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Niemals ohne Lippenstift


 

 

Demenz ist keine Kinderkrankheit


 

 

Beim Betreten des Krankenzimmers im Geriatriezentrum, also im Pavillon 3a, eröffnet sich mir das schon bekannte, ziemlich bedrückende Bild. Das Zimmer ist zwar recht geräumig, aber sechs Patientinnen, in einem Raum untergebracht, kann man wahrlich Anachronismus nennen. Links drei Betten, rechts drei Betten und in der Mitte ein kleiner Tisch mit ein paar Stühlen. Irgendwo dazwischen zwei Zimmerklos.

Die alten Mädels in der Reihe links scheinen gemeinsam an die 300 Jahre alt zu sein. Eine schläft mit offenem Mund und atmet so schwer, dass ich augenblicklich ganz beunruhigt bin und sich mir die Nackenhaare sträuben. Die Zweite zupft und zerrt ganz geschäftig an ihrem Nachthemd herum. Ich frage mich insgeheim, was sie wohl vorhat und wohin diese Geschäftigkeit führen soll. Die dritte Dame von der linken Seite sitzt heute im Rollstuhl am Tisch und hypnotisiert schweigend ihre Schnabeltasse. Sie erscheint mir komplett entrückt. Die Vierte wiederum brabbelt immer wieder Unverständliches vor sich hin, und auch bei höchster Aufmerksamkeit kann ich keinen Sinn darin erkennen.

Die Tante sitzt überraschenderweise im schicken Spitalsnachthemdchen und mit einem Glas Wasser ebenfalls am Tisch. Vis-à-vis sitzen ihre Bettnachbarin und deren Ehemann. Worüber sich das Dreiergrüppchen mehr oder weniger angeregt unterhält, verschließt sich mir. Die vierte alte Dame am Fenster unterbricht das Gebrabbel gelegentlich und spitzt die Ohren, beteiligt sich aber nicht am Gespräch. Die Unterhaltung endet abrupt, als ich den Raum betrete. Fünf oder sechs Augenpaare sind neugierig und vor allem erwartungsvoll auf mich gerichtet. Die Tante erkennt mich heute fast augenblicklich und freut sich, dass sie diejenige ist, die den Besuch bekommt. Der Bettnachbarin, Frau Schweiger, und ihrem Mann scheint es egal zu sein, und alle anderen Anwesenden sind ganz offensichtlich enttäuscht, dass der Besuch, der da antrabt, nicht ihnen gilt. Nach Angaben der Tante seien sie und die Frau Schweiger die Einzigen, die hier seit Wochen Besuch bekommen. Da die Tante ja erst seit ein paar Tagen im Spital ist, bleibe ich bei dieser Information skeptisch, doch es ist nicht ausgeschlossen, dass sie recht hat. Es stimmt mich traurig, dass die regelrecht spürbare Enttäuschung im Raum so groß ist.

Tante Elfie ist heute erstaunlich gut drauf und äußerst gesprächig. Es wundert mich, wie sie von einem Tag zum anderen ihre Sinne wieder beieinanderhaben kann. Etwas später will ich ja mit dem behandelnden Arzt reden, der mir dann hoffentlich Aufschluss über die gesundheitliche Situation der Tante geben kann.

Heute habe ich eine kleine Grundausstattung fürs Krankenhaus mitgebracht. Zahnbürste, Zahnpasta, einen Kamm und eine Creme fürs Gesicht, einen kleinen Handspiegel sowie zwei Paar Söckchen gegen kalte Füße. Eigentlich wollte ich ihr die Sachen von zu Hause holen, doch stattdessen musste ich alles neu kaufen, weil die Tante ihren Wohnungsschlüssel nicht herausrückt. Offensichtlich will sie nicht, dass ich die Wohnung allein betrete. Ob sie Angst hat, dass ich etwas wegtrage oder in ihren Sachen wühle, weiß ich nicht.

»Lippenstift host ma kan mitbrocht?«, fragt sie leicht enttäuscht, als ich die Schätze vor ihr ausbreite.

»Wozu brauchst du denn einen Lippenstift im Spital?«, wundere ich mich laut.

»I kum ma hoid ohne immer so nockat vor!«, erklärt die Tante unglücklich.

Weiters standen eine kleine Flasche Cola und vier FruFru auf der gestrigen Wunschliste, die ich natürlich ordnungsgemäß abgearbeitet habe. Darüber hinaus habe ich noch einen Becher Kaffee vom Automaten mitgebracht. Schwarz und ohne Zucker, so wie sie ihn mag, und zwei große Linzer Augen aus der Bäckerei sowie ein paar Mandarinen. Die Freude über die unerwartete Jause ist groß und Tantchen stürzt sich voller Heißhunger auf ein Linzer Auge. Zugegeben, eine mittlere Sünde, wenn man den in letzter Zeit erhöhten Blutzucker bedenkt. Aber kleine Sünden hat der Doktor ja genehmigt. Plötzlich will die Tante noch Zucker in den Kaffee.

»Ich dachte, du trinkst ihn schwarz und ohne Zucker?«, frage ich irritiert.

»Ja eh, aber i bin a Siasse!« Für Logik scheint es also noch nicht zu reichen. Die Tante will gleich drei Sackerln vom Zucker. Mich trifft fast der Schlag. Na gut, die Ausnahme wird sie schon nicht umbringen. Kaffee und ein Linzer Auge sind im Nu verputzt, das zweite Linzer Auge wird für das morgige Frühstück aufgespart. Nach zehn Minuten möchte die Tante eine Mandarine. Ich schäle und häute die Mandarine sorgfältig und präsentiere die fein säuberlich geputzten Spalten.

»Nau des is a Service!«, kommentiert die Tante wohlwollend. Wir unterhalten uns mit der Bettnachbarin und ihrem Mann. Alle anderen im Raum bleiben unbeteiligt. Die meist brabbelnde Dame in der Ecke springt – soweit man halt von Springen reden kann – unerwartet auf und verlässt den Raum. Nach einer Weile kommt sie wieder.

»So, jetzt woar i schaun, ob si wos tuat!« Erstaunlich, es gibt ja doch klare Momente bei ihr. Das hätte ich gar nicht erwartet.

»Und? Tuat si wos?«, frage ich, um sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.

»Nein, danke!«, vernehme ich die Antwort.

Die Entscheidung, ob ich noch einmal nachfrage, weil es sich ja auch um einen Hörfehler handeln könnte, wird mir beim Blick auf die Patientin im Bett hinter mir abgenommen, und die Worte bleiben mir im Hals stecken. Mittlerweile hat sie sich von ihrem Nachthemd zur Gänze befreit und jetzt ist sie verzweifelt damit beschäftigt, ihre Blöße mit einem Lätzchen fürs Mittagessen zu bedecken.

Wenn ich die Patientinnen im Raum so betrachte, erscheint mir die Tante Elfie noch ganz harmlos und geistig gesund.

»Wos mochst du eigentlich beruflich?«, interessiert sie sich aus heiterem Himmel. Gut, so gesund auch wieder nicht …

Plötzlich rappelt und schnauft es im zweiten Bett hinter mir unüberhörbar. Ich drehe mich um und frage, ob ich helfen kann.

»Nein, nein, es geht schon!« Mühsam trappelt die alte Dame zum WC und steht nach ein paar Minuten wieder vor uns. »Bitte entschuldigen Sie die Störung! Aber wo finde ich denn die Einlagen?« Die Tante weiß, dass es die Einlagen nur bei der Schwester gibt. Die Dame wackelt bedrohlich, als sie sich auf den Weg nach draußen macht. Nach ein paar Minuten wird sie von einer leicht genervt wirkenden Schwester wieder ins Zimmer und ins Bett gebracht.

»Wissen Sie, wo Sie sind?« Die Frau hat keine Ahnung. Die Schwester erklärt, dass sie im Krankenhaus sei und daher im Bett liegen bleiben möge. Nach zwei Minuten ist die Erklärung der Schwester scheinbar wieder vergessen und ich vernehme wieder das Geschnaufe hinter mir. Mühsamst und dennoch wieselflink ist die alte Dame wieder bei der Tür, wo sie von derselben Schwester abgefangen wird.

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragt diese etwas unwirsch.

»Bitte, ich muss schauen, in welchem Spital ich bin!«

Frau und Herr Schweiger, die Tante und ich beobachten das gleiche Szenario ungefähr fünf Mal innerhalb der nächsten zwanzig Minuten.

»Do wirst söwa gaunz meschugge, waunst da de Deppat‘n do herinnen aunschaust!« Wo sie recht hat, hat sie recht, die Tante Elfie. Ein Glück, dass zumindest die Frau Schweiger geistig intakt erscheint und die Tante wenigstens eine Ansprechperson hat. Meine Hochachtung vor dem Pflegepersonal in derartigen Pflegeeinrichtungen steigt und steigt. Es soll allerdings auch schon Morde im Geriatriezentrum gegeben haben, und ich entwickle ganz heimlich ein leichtes Verständnis für diejenigen, deren Geduldsfaden irgendwann gerissen ist.

Nach einer Weile erscheint ein Trupp Pflegepersonal, offensichtlich auf dem nachmittäglichen Rundgang. Wir Besucher müssen den Raum verlassen. Die alten Mädels werden entweder gewickelt, auf den Topf gesetzt oder zum WC geführt, je nach ihren Möglichkeiten. Alle werden gewaschen, frisch angezogen und was auch sonst noch vonnöten ist. Der Raum wird gelüftet, die Betten aufgeschüttelt oder gegebenenfalls frisch bezogen und der Boden gewischt.

Ich nutze die Gunst der Stunde und genehmige mir vor dem Eingang einen gar nicht so üblen Automatenkaffee und eine Zigarette. Der Kaffee ist auch dringend nötig, denn ich fühle...