Tom Clancy's The Division: Morgengrauen - Roman zum Game

von: Alex Irvine

Panini, 2019

ISBN: 9783736799622 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Tom Clancy's The Division: Morgengrauen - Roman zum Game


 

1

VIOLET

Violet drückte ihre Stiefelspitze am Rand des überschwemmten Bereichs in den Boden. Im Wasser, ungefähr einhundert Meter von ihr entfernt, stand das Hotel, wo sie und ihre Freunde einst ein paar Tage verbracht hatten. Das war unmittelbar nach der Dollar-Grippe gewesen – oder dem Grünen Gift, je nachdem, welchen Namen man bevorzugte. Die Behörden hatten ein Flüchtlingslager daraus gemacht, geführt von der JTF. Violet wusste nicht, wofür JTF stand, aber das waren die Leute, die für all den militärischen Kram verantwortlich waren. Und dafür, Essen und Medizin zu verteilen. Die Lage im Hotel war ziemlich stabil gewesen … zumindest nachdem all die Todgeweihten gestorben waren. Einschließlich Violets Eltern.

Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

„Ich vermisse diesen Ort“, flüsterte sie leise.

Ihre Freunde standen in einer Gruppe um sie herum. „Ja“, sagte Saeed. „Ich auch.“ Die Murtaugh-Zwillinge Noah und Wiley nickten; die anderen Kinder – Shelby, Ivan und Amelia – sahen sie nur an. Ivan lehnte sich zu Amelia hinüber. Sie war seine große Schwester. Manchmal war Violet neidisch auf die Kinder in ihrer Siedlung, die noch Geschwister und Eltern hatten.

Eigentlich sollten sie Kräuter sammeln, aber stattdessen hatten sie beschlossen, sich das Hotel anzusehen, wo sie nicht länger leben konnten. Als das Schlimmste vorbei gewesen war, hatten Violet und die anderen Kinder geholfen, im Hof des Gebäudes einen Garten anzulegen. All die Pflanzen dort waren inzwischen sicher untergegangen. So wie alles andere auch.

Trotzdem, hierherzukommen und sich kollektiv selbst zu bemitleiden, war immer noch besser, als in den überwucherten Teilen der National Mall nach essbaren Pflanzen zu suchen – was sie gerade eigentlich tun sollten. Der neue Garten am Castle musste erst ausgebaut werden. Vielleicht könnten sie ja in einem anderen Park suchen oder sonst irgendwo, solange es nicht die Mall war. Die Promenade zwischen dem Kapitol und dem Lincoln Memorial war ein unheimlicher Ort, in vielen der alten Gebäude dort trieben sich unheimliche Gestalten herum; die Leute vom Castle würden es sicher verstehen.

Trotzdem war Violet nervös. Sie war es gewohnt, sich an die Regeln zu halten, denn sie hatte viele schreckliche Dinge gesehen, als das Grüne Gift Washington, D. C. überrollt hatte. Sieben Kinder gehörten zu ihrer Gruppe, alle zwischen neun und elf Jahre alt, und sie alle hatten mindestens einen Elternteil verloren, ganz zu schweigen von Geschwistern und Freunden. Das war einer der Gründe, warum sie sich zusammengeschlossen hatten – und warum die Erwachsenen in der Siedlung sie in die Schublade „Kinder, die Aufsicht brauchten“ steckten … was nervig, aber irgendwie gleichzeitig auch nett war. Die meisten anderen Kinder in der Siedlung gingen ihnen aus dem Weg, so als sei es ansteckend, eine Waise zu sein.

Vor der Flut hatten sie mit ungefähr hundert anderen Leuten auf den unteren Stockwerken des Mandarin Oriental gelebt. Das Äußere des Hotels war verbarrikadiert und befestigt gewesen, und JTF-Soldaten hatten regelmäßig vorbeigeschaut, um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung war. Regentonnen hatten sie mit Wasser versorgt und verglichen mit anderen Orten war es ziemlich sicher gewesen. Oder zumindest hatten sie das geglaubt – aber sie hatten ja auch geglaubt, die Lage in D. C. würde sich verbessern, als der Winter zu Ende gegangen war. Vermutlich war es einfach leichter, optimistisch zu sein, wenn die Blumen blühten und alles grün war.

Tja, und dann, Anfang April, war der Fluss über die Ufer getreten und sie hatten das Hotel verlassen müssen.

Jetzt lebten sie im Castle, dem alten Informationszentrum der Smithsonian Institution. Es war ziemlich überfüllt dort, weil so viele Leute vom Hotel dorthin gezogen waren. Ein paar andere hatten sich angeblich auf der anderen Seite der Mall ein Plätzchen gesucht, und der Rest war in Richtung East Side losgezogen, weil sie hofften, dass es in der Nähe der Militärbasis sicherer wäre. Violet konnte sich nicht an den Namen der Basis erinnern. „Saeed“, fragte sie. „Wie heißt die Basis drüben am Fluss noch mal? Nicht am Potomac, dem anderen Fluss.“

„Joint Base Anacostia-Bolling“, antwortete Saeed. Solche Sachen wusste er immer. Genauso, wie er wusste, dass JTF für Joint Task Force stand. Oder dass diese Joint Task Force entstanden war, weil so viele Militär- und Rettungseinheiten gestorben waren, dass sich die Überlebenden einfach unter einem neuen Namen organisiert hatten. Und er wusste auch, dass die Dollar-Grippe in Wirklichkeit eine Pockenepidemie war, die in New York ihren Anfang genommen hatte. Hätte das Internet eine menschliche Form, dann würde es so aussehen wie Saeed. Aber natürlich gab es das Internet nicht mehr. Es war untergegangen und alles andere mit ihm.

Violet fragte sich, ob es drüben beim Anacostia River wirklich sicherer war. Sie wusste, dass sich zwischen hier und dort einige üble Gestalten herumtrieben. Allen Kindern, und zwar nicht nur in ihrer Siedlung, sondern überall, wurde eingebläut, dass sie den Bereich um das Kapitol meiden mussten. So war es schon vor der Flut gewesen, und jetzt verging kaum ein Morgen, ohne dass irgendjemand sie davor warnte. Als wären sie Babys. Als hätten sie nicht auch eine Superseuche und all die schlimmen Dinge danach überstanden. Kinder wussten genauso gut wie die Erwachsenen, wie man überlebte.

Nun, immerhin ließ man sie als Gruppe gehen, wohin sie wollten – innerhalb gewisser Grenzen, versteht sich. Aber heute loteten sie diese Grenzen aus. Eigentlich sollten sie ja am Rand der Mall Pflanzen sammeln, aber stattdessen waren sie in die entgegengesetzte Richtung gegangen: südlich an der Siebten entlang, vorbei am Hancock Park zu der oberirdischen Metro-Haltestation. Dann waren sie den Gleisen gefolgt, bis diese am Rand der überfluteten Zone wieder in einem Tunnel verschwanden. Auf drei Seiten ragten verlassene Bürogebäude auf, und im Süden, entlang des früheren Flussufers, stachen dünne, hohe Wohnhäuser aus dem Wasser. Der Fluss selbst war braun vor Schlamm, hier und da mit weißen Schaumkronen, wie Glasur auf einem Kuchen. Violet klappte ihren Kragen hoch und drehte sich so, dass der Wind gegen ihren Rücken blies. Hier unten am Wasser war es empfindlich kalt.

„Wann das Wasser wohl wieder zurückgeht?“, fragte Shelby. Sie war die Jüngste von ihnen.

„Ich glaube, es steigt immer noch“, sagte Amelia. „Als wir das letzte Mal hier waren, konnten wir noch näher ans Hotel ran.“

Den Eindruck hatte Violet auch. Wie viel höher würde es steigen? Das Castle war ein Stück höher gelegen als das Hotel – aber eben nur ein Stück. Würden sie bald wieder umziehen müssen?

Wiley und Noah sagten gleichzeitig: „Wir sollten gehen.“ Sie waren keine eineiigen Zwillinge, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar und sie hatten auch sonst viele Eigenheiten, wie man sie eigentlich nur bei eineiigen Zwillingen erwartete. Zum Beispiel, dass sie im selben Moment denselben Gedanken hatten.

„Vielleicht“, erwiderte Amelia. „Aber wir sollten ein paar Pflanzen sammeln, bevor wir zum Castle zurückgehen.“ Die meiste Zeit über ließen die Erwachsenen Violet und ihre Freunde einfach gewähren – aber wenn sie ihnen etwas auftrugen, dann erwarteten sie auch, dass es erledigt wurde.

„Ja“, stimmte sie zu. „Wir könnten drüben beim Lincoln Memorial suchen.“

„Das ist aber weit“, warf Ivan ein, und Shelby nickte.

Sie einigten sich schließlich auf die Constitution Gardens auf halber Strecke zwischen dem Washington Monument und dem Lincoln Memorial. Aber zunächst mussten sie wegen der Überschwemmung einen Bogen bis rüber zur Independence Avenue schlagen. Sie überquerten die breite, leere Straße gegenüber der Mall und blieben kurz stehen, um nach Fremden Ausschau zu halten. Dezember und Januar waren ein Albtraum gewesen, Februar und März eine deutliche Verbesserung, und der April lag bislang irgendwo dazwischen. Es lagen nicht überall Leichen herum und sie hörten nicht unablässig Gewehrfeuer, so wie im Winter. Aber es war auch nicht so friedlich wie im März, als die Erwachsenen im Hotel wieder zu träumen wagten, dass die Regierung noch funktionierte und alles wieder in Ordnung kommen würde.

Violet fragte sich, wer gerade Präsident war. Es gab Gerüchte, wonach Präsident Mendez gestorben war – was bedeuten würde, dass man jemand Neues wählen musste, oder? Oder gab es vielleicht niemand Neues? Es gab schließlich auch keine Telefone und kein Internet mehr. Violet und die anderen Kinder wussten nur, was die Erwachsenen ihnen erzählten.

„Violet, kommst du?“ Saeed blickte zu ihr zurück. Der Rest der Gruppe war bereits losgegangen und marschierte am südlichen Rand der Mall entlang.

Sie joggte los, um zu ihnen aufzuschließen. In der Nähe der Mall bekam sie immer ein flaues Gefühl. Überall waren Museen. Aber es waren nicht nur die Museen. Es war … alles. Die Informationsstände, die öffentlichen Toiletten – all diese Dinge, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Violet war erst elf, aber sie kannte das Gefühl: Als hätte sie etwas so Tiefschürfendes, so Weitreichendes durchlebt, dass die Welt danach nie wieder so sein könnte wie zuvor.

Ivan blickte in beide Richtungen die Mall entlang. Er war immer ihr Späher und hielt die Augen nach Fremden offen, die eine Bedrohung darstellen könnten. Es gab einen Seelsorger in der Siedlung, der meinte, viele Kinder, die ein Trauma erlitten hatten, würden...