Todesreigen in der Hofreitschule - Ein historischer Wien-Krimi

von: Edith Kneifl

Haymon, 2019

ISBN: 9783709938720 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Mac OSX,Windows PC für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

eBook anfordern eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Todesreigen in der Hofreitschule - Ein historischer Wien-Krimi


 

2. Komplizierte familiäre Verhältnisse


Als Gustav in seine Wohnung über den k. k. Hofstallungen zurückkehrte, wurde er von lauten Stimmen und fröhlichem Gelächter empfangen. Seine Tante Vera von Karoly, mit der er sich die Wohnung teilte, hatte Besuch von einigen Freundinnen und Mitkämpferinnen.

Diese politisch engagierten Damen hielten ihre wöchentlichen konspirativen Treffen normalerweise in den Räumen des Österreichischen Frauenvereins ab. In den vergangenen Wochen hatte sich der sogenannte harte Kern des Vereins öfters in der Wohnung der Karolys getroffen, da die Damen befürchteten, in ihren offiziellen Räumlichkeiten bespitzelt zu werden. Der Verdacht, dass die Geheimpolizei eine Spionin bei ihnen eingeschleust hatte, lag nahe, denn in letzter Zeit wurde ihr Journal manchmal verboten, noch bevor es erschienen war.

Vera war eine schlanke, hochgewachsene Frau Anfang fünfzig. In ihrem dunkelblonden Haar zeigten sich wenige graue Strähnen, und ihre graublauen Augen strahlten oft wie die eines jungen Mädchens. Sie war dreizehn Jahre älter als Gustav und eine Art Mutterersatz für ihn.

Gustavs Mutter war mit vierzig an Brustkrebs gestorben. Seither kümmerte sich Vera mit Hilfe von seinem ehemaligen Kindermädchen Josefa um ihn. Obwohl von Kümmern eigentlich kaum die Rede sein konnte. Vera war keine mütterliche Frau. Sie forderte ihren Neffen – sowohl intellektuell als auch emotional. Zwar liebte sie ihn sehr, zeigte ihm ihre Liebe aber selten.

Gustav verstand sich bestens mit seiner Tante, doch ihre frauenrechtlerischen Aktivitäten erleichterten ihm nicht gerade das Leben.

Die resoluten Damen des Österreichischen Frauenvereins empfingen Gustav mit schrillem Gelächter und herzhaften Küssen. Verlegen wand er sich aus der Umarmung einer alten, schwarz gekleideten Matrone, die ihm zwei herzhafte Busserln auf die Wangen drückte.

„Was ist er nur für ein fescher Mann geworden. Schaut euch den kleinen Gustl mal an! Er ist bestimmt ein schlimmer Herzensbrecher“, scherzte die Dame mit den grauen Löckchen.

Ihr Name war Baronin von Millstätt, wenn Gustav sich richtig erinnerte. Er errötete, küsste rasch Bertha, eine Jugendfreundin von Vera, auf die Wange und sah dabei seine Tante verzweifelt an.

„Was ist los?“, fragte Vera von Karoly.

„Ein Attentat in der Hofburg. Beim Michaelertor. Habt ihr den Krach nicht gehört?“

„Nein. Was ist passiert? – Ich bitte um Ruhe, meine Damen.“

Das Getratsche und Gelächter verstummte augenblicklich.

Mit wenigen Worten schilderte Gustav den Frauen das Attentat und erwähnte auch, dass die Polizei seinen ehemaligen Untermieter Edi verdächtigte, bei diesem Anschlag seine Hände mit im Spiel gehabt zu haben.

„Schwachsinn! Edi ist kein Terrorist“, empörte sich Vera.

„Wie viele Tote?“, fragte eine andere Dame.

„Zwei, vielleicht drei. Der dritte Mann ist schwer verletzt. Der Budapester Polizeipräsident soll eines der Opfer sein. Der andere Tote ist Hofrat Hoffinger, der Adlatus des österreichischen Polizeipräsidenten. Die Identität des Schwerverletzten ist noch unbekannt.“

„War bestimmt auch kein Guter“, sagte Bertha schnippisch.

Die Damen scheinen ja nicht gerade betrübt über die Ermordung der hohen Polizeibeamten zu sein, dachte Gustav.

„Anarchisten?“, fragte Rosa, eine jüngere hagere Frau, die im Gegensatz zu den anderen eher ärmlich gekleidet war. Gustav schätzte sie wegen ihres scharfen Verstandes, fürchtete sich jedoch ein bisschen vor ihr.

„Wahrscheinlich“, sagte er.

„Haben auch Unschuldige dran glauben müssen?“, fragte Vera.

„Kommt darauf an, wen du als unschuldig betrachtest. Der Kutscher scheint überlebt zu haben.“

„Gott sei Dank!“ Baronin von Millstätt bekreuzigte sich.

Daraufhin entfachte Vera eine Diskussion über die Legitimität von Terror im politischen Kampf. Die meisten der anwesenden Frauen waren Pazifistinnen, lehnten Gewalt prinzipiell ab und reagierten empört auf ihre provokanten Worte.

„Ist für den revolutionären Wandel nicht manchmal Gewalt notwendig?“, legte Vera ein Schäuflein nach.

„Das behaupten zumindest die Anarchisten“, sagte Rosa.

„Entsetzlich“, stöhnte Annemarie von Lautern, eine eher biedere ältere Dame.

„Glaubt ihr nicht, dass man sehr wohl manchmal zu ungewöhnlichen, ja sogar brutalen Mitteln greifen muss, um eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen?“, fragte Rosa.

Einige Damen fielen sogleich über sie her. Bezichtigten sie, einen Hang zur Grausamkeit zu besitzen.

„Rosa ist eben radikaler als wir“, nahm Vera ihre junge Freundin in Schutz. „Und wenn ihr ehrlich seid, macht es euch doch ebenfalls nichts aus, wenn es ein paar Henkersknechte weniger auf der Welt gibt. Denkt nur an all die Hinrichtungen unschuldiger Menschen.“

Seit wann hatte seine Tante Sympathien für Verbrecher, wunderte sich Gustav. Seiner Meinung nach waren politische Attentäter nichts anderes als Mörder.

„Versteht mich nicht falsch, selbstverständlich verurteile ich Mord und Totschlag, aber ich versuche die Verzweiflung dieser Terroristen nachzuvollziehen. Und ich hasse nichts mehr als Falschheit und Verlogenheit. Deswegen gestehe ich euch, dass ich wegen des gewaltsamen Todes dieser hohen Polizeibeamten nicht so entsetzt bin, wie ich es sein sollte. Leider wird das Attentat unserer Bewegung schaden. Das ist ein viel größeres Problem. Jeder Terroranschlag hat schlimme Restriktionen der Regierenden zur Folge, die auch uns betreffen werden. Verschärfte Überwachung, noch mehr Bespitzelung, noch mehr Kontrolle … Die Anarchisten erreichen mit ihren Anschlägen das, wogegen wir kämpfen. Und trotzdem beteuern sie, auf unserer Seite zu stehen.“

„Vera, was ist in dich gefahren? Du wirst doch nicht tatsächlich Sympathien für diese Mörder haben“, echauffierte sich Baronin von Millstätt.

„Keine Sympathie, ich teile ihre Verzweiflung.“

„Die Anarchisten wollen Angst verbreiten“, wandte Frau von Lautern ein.

„Das stimmt nicht, Annemarie. Hast du die Schriften von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin gelesen? Es geht um viel mehr, es geht um das Prinzip der Enteignung. Wenn man den Arbeitern und Arbeiterinnen keine Arbeit gibt, sollen sie nach Brot verlangen, schrieb er. Wenn sie weder Arbeit noch Brot erhalten, sollen sie sich das Brot nehmen. Ist dir bewusst, was er damit sagen wollte?“

Annemarie nickte eifrig. „Marie Antoinette hat angeblich auch gesagt: Wenn das Volk kein Brot hat, soll es Kuchen essen, oder so ähnlich. Aber wenn es kein Brot gibt, gibt es auch keinen Kuchen. Oder?“

Vera schickte der älteren Dame einen irritierten Blick. „So habe ich es nicht gemeint. Kropotkin hat behauptet, dass das Privateigentum der Grund für die Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes ist. Deshalb hat er eine umfassende Kollektivierung des Eigentums vorgeschlagen.“

„Wir sollen alle enteignet werden?“ Der gewaltige Busen der Baronin von Millstätt hob und senkte sich vor Empörung.

„Ja, im Grunde läuft es darauf hinaus. Die Anarchisten wollen den Kapitalismus und die Herrschaft des Geldes abschaffen.“

„Dagegen hätte ich absolut nichts einzuwenden“, sagte Rosa.

„Weil du ohnehin nichts besitzt“, keifte die wohlhabende Baronin.

Oh, oh, jetzt geben es sich die Damen aber gegenseitig, dachte Gustav und wollte sich rasch zurückziehen, als Dr. Dorothea Palme, Veras Patentochter, die seit einigen Monaten wieder bei den Karolys wohnte, mitten in die Diskussion hineinplatzte.

Sie kam von ihrer Arbeit im Gerichtsmedizinischen Institut. Dorothea hatte dort seit kurzem eine Stelle als Assistenzärztin.

Die junge Frau war eine auffallende Schönheit. Sie war einen Meter siebzig groß, schlank und hatte eine ausgezeichnete Figur: volle Brüste, schmale Hüften und lange Beine. Die vielen Sommersprossen, die ihre Nase und ihre Wangen zierten, und der Schalk, der in ihren blauen Augen saß, ließen sie jünger als sechsundzwanzig wirken. Ihre rotgoldene Haarpracht war schwer zu bändigen. Meistens hielt sie ihre wilden Locken mit einem Band im Nacken zusammen. Nach diesem langen Arbeitstag hingen ihr einige widerspenstige Löckchen ins Gesicht.

Gustav fand, dass sie bezaubernd aussah. Als sie mit vierzehn unglücklich in Gustav verliebt gewesen war, hatte sie ihm eine Locke geschenkt. Er hatte dieses überaus liebevolle Geschenk damals nicht so richtig zu schätzen gewusst, bewahrte die Locke aber bis heute in einem Medaillon mit dem Bild seiner verstorbenen Mutter in einer verschließbaren Schreibtischschublade auf.

Dorothea hatte bereits von dem Attentat gehört.

„Ihr müsst damit rechnen, dass die Geheimen euch und eure Aktivitäten in Zukunft noch strenger unter die Lupe nehmen werden“, sagte sie, während sie Hut und Mantel ablegte. „Zufällig habe ich im Institut eine Unterhaltung zwischen zwei Polizeibeamten belauscht. Sie waren sich einig, dass man alle unzuverlässigen und aufmüpfigen Elemente sowie die heimlichen Sympathisanten dieser Radikalen sorgfältig im Auge behalten müsse. Und ich nehme nicht an, dass sie vor den Frauenvereinen Halt machen werden.“

„Seit der Gründung unseres Vereins wird ohnehin jeder unserer Schritte beobachtet und dokumentiert. Ich fürchte, dass sie bei uns längst ihre Konfidenten eingeschleust haben.“ Bei diesen Worten sah Rosa die dicke Baronin misstrauisch...