Lass keine Fremden ins Haus

von: Carolin Schairer

Ulrike Helmer Verlag, 2019

ISBN: 9783897419476 , 390 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Lass keine Fremden ins Haus


 

Die Erkenntnis traf Laura wie ein Blitz.

Verdammt. Die Philharmoniker. Alle vierzehn Tage. Sie hatte das Konzert tatsächlich völlig verschwitzt.

Im Wohnzimmer wurde ein Stuhl verrückt. Berta runzelte irritiert die Stirn, während Laura versuchte, ihr die Sicht zu verdecken. Sie durfte auf keinen Fall auf Tosca treffen. Sie würde Fragen stellen, viele unangenehme, bohrende Fragen.

»Wer ist da bei dir?« Auf Bertas Stirne bildeten sich zwei steile Falten. »Laura!« Ihre Stimmung wechselte schlagartig von Besorgnis zu Skepsis. »Ist das dieser illegale Asylant, der sich bei dir einquartiert hat?«

Berta versuchte ins Zimmer zu gelangen, doch Laura stand stocksteif vor ihr und versperrte ihr den Weg.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, ernsthafte Sorgen! Peter erzählte mir neulich, dass du Medikamente gebraucht hast … für einen kranken Einwanderer, der nicht krankenversichert ist. – Laura, mit diesen Illegalen ist nicht zu spaßen! Du denkst vielleicht, dass dich dieser Mann liebt – weiß der Himmel, was er dir versprochen hat! Aber in Wahrheit ist er nur an der österreichischen Staatsbürgerschaft interessiert! Es ist höchste Zeit, dass ich mich einschalte …«

Berta drängte sich rigoros an ihr vorbei.

Laura glaubte, ohnmächtig werden zu müssen. Wenn sie jetzt erklärte, dass der illegale Asylant in Wahrheit eine potenzielle Mörderin war, würde Berta sie so oder so für verrückt erklären.

»Guten Tag. Tosca Raimund.«

Tosca streckte Berta mit galantem Lächeln die Hand entgegen. Berta, völlig verdattert angesichts der fremden Frau in Gymnastikhose, ergriff die ausgestreckte Rechte und nannte auch ihren Namen. Der Blick, den sie in Lauras Richtung sandte, war ein einziges Fragezeichen.

Laura wünschte Berta weit weg und Peter auf den Mond. Musste er über alles und jedes seiner Mutter Bericht erstatten? Wie konnte ein erwachsener Mensch nur so abhängig sein? Konnte er nicht einmal etwas für sich behalten, wenn sie ihn um einen winzigkleinen Gefallen bat?

Sie rang sich ebenfalls ein Lächeln ab und sagte im Brustton der Überzeugung: »Tosca ist eine Studienfreundin von mir. Ihr Besuch in Wien kam sehr überraschend. Da habe ich das Konzert vollkommen vergessen. Tut mir leid, Tante Berta. Ich hoffe, du kannst mir noch einmal verzeihen.«

»Ach … na ja.« Berta lächelte unsicher. »Das kann ja einmal passieren. Habe mir nur Sorgen gemacht.«

»Das musst du nicht. Wie du siehst, ist alles in bester Ordnung.« Laura war selbst erstaunt, wie fest ihre Stimme klang.

War es vor einer halben Stunde noch Tosca gewesen, die sie dringend aus ihrer Wohnung haben wollte, so galt dieser Wunsch jetzt uneingeschränkt Berta. Zu ihrer Erleichterung schien er sich nun zu erfüllen. Berta hatte schon den Rückzug angetreten, als ihr Blick zufällig auf das Telefon fiel, das noch immer am Boden lag. Wie angewurzelt blieb sie stehen, schaute erst Laura an, dann Tosca.

»Sie haben da eine Schramme im Gesicht.«

Ihre Stimme triefte vor Misstrauen.

»Oh … ja, tatsächlich.« Tosca griff sich ins Gesicht. »Das muss passiert sein, als mir das Telefon herunterfiel.«

»Willst du deine Freundin nicht verarzten? Die Wunde kann sich entzünden.«

Nun ging ihre potenzielle Mörderin schon als Freundin durch! Laura wurde es abwechselnd heiß und kalt. Schnell holte sie Watte und Jod aus dem Badezimmer. Bertas wachsamen Blick im Rücken, tupfte sie den Kratzer ab, während die alte Dame sich auf dem Sofa niederließ und Mantel und Hut ablegte.

»Laura hat mir nie von Ihnen erzählt.«

»Ach, wirklich?«

Toscas Stimme drückte pures Erstaunen aus.

»Wir hatten uns etwas aus den Augen verloren«, beeilte sich Laura zu sagen. »Tosca ist ja aus Wien weggezogen und hat beruflich sehr viel um die Ohren, daher war unser Kontakt seltener geworden. Aber jetzt hat sie sich wieder gemeldet, und es ist so, als hätten wir uns erst vor Kurzem das letzte Mal gesehen.«

»Aha.« Bertas Augen ruhten prüfend auf Tosca. »Ich hoffe, Sie haben nicht auch so einen Hungerleider-Job wie Laura. Ihre Berufsbezeichnung lautet offiziell Beraterin, aber in Wahrheit ist sie nichts anderes als eine studierte Verkäuferin.«

Laura wünschte, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen. Sie war nicht erpicht darauf, Tosca nun auch noch einen tieferen Einblick in ihr Arbeitsleben zu geben. Es reichte schon, dass sie in ihre Privatsphäre eingedrungen war.

»In Zeiten wie diesen sind gute Jobs leider rar«, sagte Tosca gelassen. »Man muss froh sein, wenn man überhaupt etwas bekommt.«

»Was also arbeiten Sie genau?«

Tosca sandte einen hilfesuchenden Blick in Lauras Richtung.

»Tosca ist … sie hat eine Galerie.« Laura schluckte. »In Düsseldorf. Sie ist ziemlich gut im Geschäft.«

»Eine Galerie«, wiederholte Berta nachdenklich. »Für welche Stilrichtung?«

Toscas Augen weiteten sich. Lauras Verstand war komplett blockiert. »Surrealismus«, kam es schließlich über ihre Lippen. Laura wollte schon erleichtert aufatmen, als prompt Bertas nächste Frage kam.

»Und von welchen Künstlern sprechen wir da?«

Tosca antwortete, ohne eine Sekunde zu zögern. »Dali, Magritte, Miró und einige andere, weniger bekannte.«

Laura beschloss, dem Wortwechsel ein Ende zu machen. Berta war Kunstliebhaberin und blickte inzwischen offenbar über die alten Meister hinaus. Es durfte nicht sein, dass dieses Gespräch in eine mündliche Prüfung für Kunsthistoriker ausartete.

»Ich habe gekocht«, sagte sie. »Möchtest du zum Essen bleiben?«

Im Grunde wollte sie das genaue Gegenteil. Um das zu erreichen, war es das Beste, Berta mit deren eigenen Waffen zu schlagen – ihren Vorstellungen von Anstand.

»Nein, nein, meine Liebe. Ich will mich nicht aufdrängen. Hauptsache, dir geht es gut.«

Die Rechnung ging auf. Berta erhob sich unter Ächzen vom Sofa, griff nach Mantel und Hut. Sie verabschiedete sich von Tosca und zog Laura mit sich unter dem Vorwand, sich zur Tür begleiten zu lassen. Als sie im Vorraum standen, senkte sie die Stimme.

»Die passt nicht zu dir«, stellte sie nüchtern fest. »Ich kann nicht glauben, dass das eine Freundin von dir ist.«

»Wieso?«

»Bitte, Laura.« Berta verzog das Gesicht. »Bleib auf dem Boden der Tatsachen. Du weißt selbst am besten, wie du bist. – Diese Frau stellt dich in jeder Hinsicht in den Schatten.«

Laura schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Ein Schlag in die Magengrube hätte nicht mehr schmerzen können.

»Du solltest dich beeilen«, sagte sie. »Die nächste Straßenbahn fährt in zwei Minuten, ansonsten musst du eine Viertelstunde warten. Die Taktung ist sehr schlecht um diese Uhrzeit.«

Sie ließ die Tür hinter Berta ins Schloss fallen, lehnte sich dagegen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Am liebsten wäre sie jetzt auch aus der Wohnung spaziert. Was war innerhalb weniger Tage aus ihrem Leben geworden?!

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel Phantasie hast.« Tosca stand unmittelbar vor ihr.

»Ich hätte auch nicht gedacht, dass du dich als Surrealismus-Expertin entpuppst.«

Laura ließ die Hände sinken. Toscas Lippen umspielten ein zaghaftes Lächeln.

»Ich auch nicht«, sagte sie dann. »Ich weiß ja nicht einmal, wie ich heiße.«

Es war die plötzliche Ernsthaftigkeit in ihren Augen, die Laura begreifen ließ: Sie sagte das nicht so dahin.

»Ist es also wirklich wahr?«

»Ich habe dich nicht angelogen. Nicht absichtlich, zumindest. Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich hatte Angst, du würdest mich dann erst recht davonjagen. Laura … Ich weiß nicht, wie ich heiße, ich weiß nicht, warum ich hier bin, und ich weiß nicht, wie dieses Blut an meine Bluse gekommen ist. Ich erinnere mich an nichts! Und das macht mir schreckliche Angst.«

Alles, was Tosca sagte, klang aufrichtig. Zum ersten Mal hatte Laura das Gefühl, dass sie ihr uneingeschränkt die Wahrheit sagte.

»Kann ich dich weiterhin Tosca nennen?«

Tosca seufzte.

»Im Moment kann ich dir keine Alternative dazu bieten.«

Die Mauer bröselte unter ihren Händen. Ihre Finger fuhren durch feine, klebrige Fäden. Im selben Augenblick fühlte sie das Kitzeln filigraner Spinnenbeine auf ihrer Haut. Sie stieß einen Schrei aus und schüttelte reflexartig die Hand.

Ihr Schrei hallte von den Wänden wider. Der Raum musste groß sein. Und hoch. Sie streckte sich. Sie konnte die Decke nicht berühren.

Langsam bückte sie sich. Ihre Hände griffen in feines Gewebe. Sie hielt inne. Mit Jute hatte sie gerechnet, nicht mit Stoff. Sie tastete weiter – und erstarrte. Unter dem Stoff war ein Arm. Der Arm hing an einem gewaltigen, fettleibigen Körper. Der Körper war lauwarm, aber reglos. Sie rang nach Atem, wich zwei Schritte zurück, taumelte, stürzte zu Boden.

Die Dunkelheit drohte sie zu ersticken. Panisches Keuchen hallte im Raum. Ihr eigener Atem.

Sie lag da, bewegungslos, bemüht, ihre Angst zu bändigen. Sie war hier allein mit einem reglosen Körper. Wer reglos war, konnte ihr nichts tun. Wo kein anderer sich regte, drohte auch keine Gefahr. Die Rationalität dieser Überlegung war es, die ihr die Kraft gab, aufzustehen und sich nochmals dem Körper zu nähern.

Sie fühlte keinen Puls. Stattdessen ertastete sie dauergewelltes Haar und Perlenohrringe. Der Mund der Frau war mit Klebeband bedeckt. Und nicht nur der Mund. Das Band war großzügig verklebt worden; auch die Nasenlöcher verschwanden darunter.

Sie verstand nichts. Nicht, wer diese Frau war, und schon gar nicht,...