Ordnung und Fragilität des Sozialen - Renate Mayntz im Gespräch

Ordnung und Fragilität des Sozialen - Renate Mayntz im Gespräch

von: Ariane Leendertz, Uwe Schimank

Campus Verlag, 2019

ISBN: 9783593441894 , 316 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 31,99 EUR

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Ordnung und Fragilität des Sozialen - Renate Mayntz im Gespräch


 

Vorwort Das Zustandekommen dieses Buches kommt einem kleinen Wunder gleich: Denn für Renate Mayntz gibt es wohl kaum etwas Überflüssigeres, als über die eigene Biografie zu sprechen. Mehr als das, was sie in sparsam dosierter Form zu früheren Gelegenheiten dazu geäußert hat, gebe es doch wirklich nicht zu sagen. Auch teilt Mayntz mit Theodor Adorno die Überzeugung, es sei »nicht möglich, aus einer freien Improvisation etwas Gedrucktes zu machen, es sei denn, die Ansprüche dabei wären bescheidener als meine«. Ein Gespräch ist in der Tat etwas anderes als ein systematisch durchkomponierter, theoretisch und empirisch hieb- und stichfester, präzise argumentierender wissenschaftlicher Aufsatz. Für Außenstehende, zumal historisch Neugierige, ist die Vita von Renate Mayntz jedoch durchaus von Interesse. Zum einen machten nur wenige Frauen aus ihrer Generation - Jahrgang 1929 - eine wissenschaftliche Karriere, noch weniger eine derart exzeptionelle: Auf deren Höhepunkt wurde sie zur Gründungsdirektorin eines Max-Planck-Instituts berufen, das unter der gemeinsamen Leitung mit Fritz Scharpf rasch großes Renommee im In- und Ausland erwarb. Zum anderen sind der persönliche Lebensweg und der berufliche Werdegang von Renate Mayntz mit einer Reihe von Schlüsselereignissen der deutschen Zeitgeschichte verflochten. Aufgewachsen unter dem NS-Regime, erlebte Mayntz als Jugendliche den Zweiten Weltkrieg und legte ihr Abitur 1947 in der US-amerikanischen Besatzungszone in West-Berlin ab. Hunger und Bomben, physische Gewalt und Gefahr und schließlich der völlige Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung prägten über viele Jahre den Alltag der meisten Deutschen, die die Kriegszeit erlebten. Als Mayntz 1948 ein Vollstipendium am renommierten Wellesley College in Boston erhielt, lernte sie eine vollkommen neue Welt kennen. Hier herrschten Wohlstand und Sicherheit, hier hatte sie erstmals Kontakt mit dem Fach Soziologie und hier nahm eine lebenslange persönliche Bindung zu den Vereinigten Staaten ihren Anfang. Als Wissenschaftlerin orientierte sich Mayntz schon früh an amerikanischen Forschungsansätzen und Methoden und tauchte in die akademische Kultur der USA ein - besonders intensiv, als sie zwischen 1958 und 1960 an der Columbia University in New York zu Gast war und in den intellektuellen Zirkel des »Upper West Side Kibbutz« um Daniel Bell eingeführt wurde. Informelle, kollegiale Umgangsformen waren hier im Unterschied zu zementierten Hierarchien und Traditionen in den deutschen Universitäten vollkommen selbstverständlich. Die Geschichte der Bundesrepublik ist ohne die wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Verbindungen mit den USA - politisch als Westbindung, kulturell als Amerikanisierung bezeichnet - kaum zu verstehen. Renate Mayntz können wir als eine der zahlreichen transatlantischen Mittlerinnen und Mittler begreifen, die dazu beitrugen, dass sich in Westdeutschland eine offene, pluralistische und demokratische Gesellschaftsordnung entwickelte. Als die Studentenbewegung in den 1960er-Jahren gegen den »Muff von 1.000 Jahren« in der westdeutschen Professorenschaft protestierte, zählte Mayntz, seit 1965 Ordinaria an der FU Berlin, zunächst zu den Reformern, die sich auf die Seite der Studentenschaft stellten. Das Umkippen von Teilen der Bewegung in Dogmatismus, ideologisches Denken und Gewalt erlebte sie dann jedoch als große Enttäuschung. Für Mayntz und andere Angehörige ihrer Altersgruppe, die sich in der Charakterisierung als »skeptische Generation« zustimmend wiederfanden, roch das allzu sehr nach Altbekanntem, schien die Bewegung mehr und mehr totalitäre Grundzüge aufzuweisen, die man mit dem Nationalsozialismus assoziierte. Da die Arbeitsbedingungen an der FU Berlin infolge erbitterter hochschulpolitischer Kämpfe zunehmend unerträglich wurden, wechselte Mayntz 1971 an die Verwaltungshochschule in Speyer und von dort 1973 an die Universität zu Köln. Parallel zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit engagierte sie sich zur Zeit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt für innenpolitische und administrative Reformen, für die die Regierung in jenen Jahren verstärkt Kontakt mit Wissenschaftlern suchte, um deren fachliche Expertise zu nutzen. Auch wenn Mayntz die aktive Politikberatung Ende der 1970er-Jahre hinter sich ließ, blieb sie verschiedenen Kommissionen und Behörden als Gutachterin erhalten. Diese praxisbezogene Tätigkeit stand stets in reger Wechselwirkung mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Politikberatung, Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik oder politisch-administrative Sachfragen mutierten zu Forschungsgegenständen und führten zu neuen Forschungsfragen, Projektideen und theoretischen Reflexionen. Sucht man schließlich nach einem Thema, das den persönlichen Lebensweg der Forscherin mit ihrem wissenschaftlichen Interesse verbindet, so ist es wohl die Ordnung des Sozialen und deren Fragilität. Mayntz ging es immer wieder darum, zu verstehen und zu erklären, wie Organisationen und größere soziale Systeme funktionieren (seien es Industriebetriebe, Gemeinden, Ministerien, Politiknetzwerke, gesellschaftliche Sektoren oder illegale Märkte); was die Voraussetzungen oder Hindernisse effektiven politischadministrativen Handelns sind (sei es zu Zeiten relativer nationalstaatlicher Autonomie oder in Zeiten von Europäisierung und Globalisierung); unter welchen Bedingungen Steuerung erfolgreich ist oder warum Steuerungsversuche scheitern (seien es Reformvorhaben der sozialliberalen Ära oder die Finanzmarktregulierung nach 2008). Mayntz fragte wieder und wieder, inwiefern die Wissenschaft Antworten auf soziale oder politische Probleme formulieren und damit zu gesellschaftlicher Stabilität und sozialer Gerechtigkeit beitragen kann und welchen internen und externen Kräften und Dynamiken die politische und soziale Ordnung ausgesetzt ist, die stets fragil bleibt und sich laufend verändert. Die in diesem Band wiedergegebenen Gespräche mit Renate Mayntz fanden am 14. August und 24. September 2018 in Köln statt. Die Tonbandaufnahmen wurden von Katrin Dorfmüller transkribiert und in mehreren Durchgängen von den drei Gesprächspartnern überarbeitet. Darüber hinaus enthält der Band eine Sammlung von Aufsätzen aus allen Karrierephasen von Renate Mayntz, die Einblick in die Entwicklung ihrer Forschungsinteressen und ihres wissenschaftlichen Denkens geben. Christel Schommertz und Thomas Pott unterstützten uns bei Redaktion, Buchsatz und der Koordination des Projekts mit dem Campus Verlag. Wir danken allen Mitwirkenden an diesem Buch - am allermeisten Renate Mayntz, die ihre eingangs erwähnten Bedenken zugunsten dieses Vorhabens zurückgestellt hat. München und Bremen, im Januar 2019 Ariane Leendertz und Uwe Schimank 1 Biografie und wissenschaftlicher Werdegang Im ersten Teil des Gesprächs folgen wir chronologisch den verschiedenen Stationen des Lebenswegs von Renate Mayntz: von Kindheit und Jugend über das Studium zur langen Karriere der Wissenschaftlerin. Frühe Schuljahre und Zweiter Weltkrieg (1929-1945) AL (Ariane Leendertz): Ich fange mal ganz von vorne an. Du bist im April 1929 in Berlin geboren. Dein Vater, Walter Pflaum, war habilitierter Ingenieur und Spezialist für Verbrennungskraftmotoren. Zwischen 1933 und 1937 arbeitete er in der Versuchsabteilung von MAN in Augsburg. 1937 wurde er als ordentlicher Professor an die Technische Hochschule Berlin berufen. Welche Erinnerungen hast Du an die Schulzeit? RM (Renate Mayntz): An die Volksschulzeit in Augsburg so gut wie keine. Die einzige Erinnerung, die ich habe, ist, dass ich eine Schiefertafel hatte, damals gab es noch Schiefertafeln und Griffel. Ich setzte mich zu Hause hin und wollte die I's oder O's oder was auch immer schreiben. Meine Mutter war eifrig bemüht, bei ihrem ersten Kind die Erziehung zu überwachen, und setzte sich neben mich. Ich sagte zu ihr: Mutti, lass das, ich kann das alleine. Seitdem hat sie nie wieder etwas mit meinen Schularbeiten zu tun gehabt. Das hat sich bei ihr tatsächlich so fest eingegraben, dass sie es mir später erzählt hat. In Berlin hatte ich zuerst eine Privatlehrerin, genau wie mein damals schulpflichtig werdender Bruder. Ich musste dort immer mit der U-Bahn hinfahren. Die Gründe dafür, warum die Eltern mich nicht auf eine öffentliche Schule gaben, weiß ich nicht. Als ich zehn wurde und auf die höhere Schule gehen sollte, bin ich auf ein privates Lyzeum nach Berlin Nikolassee gekommen. Die Leiterin war eine Madame Carrière, so jedenfalls sprach sich das aus; sie sah auch irgendwie sehr französisch aus. Die Biologielehrerin, die ich sehr geschätzt habe, ging mit uns in die Wälder und sagte, wir sollten doch mal eine Knospe kauen und sehen, wie sich das im Mund anfühlt. Ich erinnere mich auch noch, dass sie politisch sehr kritisch war. Einmal stand sie vor der Klasse und machte mit hassverzerrtem Gesicht das Singen von BDM-Mädels nach. 1943 wurden alle Schulen in Berlin geschlossen. AL: War das Lyzeum eine reine Mädchenschule? RM: Eine reine Mädchenschule, und nur Lehrerinnen. US (Uwe Schimank): Gab es da auch so etwas wie Zweige, also mathematischnaturwissenschaftlich, neusprachlich, altsprachlich und so ähnlich? RM: Nicht dass ich wüsste. Ich weiß, dass ich natürlich Latein hatte, das fing gleich an. Sonst erinnere ich nicht besonders viel. Ich hatte einen großen Kreis von Freundinnen, die alle in dieselbe Klasse gingen und zum Teil auch draußen in Wannsee oder in der Gegend wohnten, Nikolassee, Schlachtensee. AL: Wie hat sich der Krieg damals in das normale Leben eingeschlichen? RM: Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem der Krieg ausbrach. An dem Tag lief ich zum Kiosk an die U-Bahn-Station Neu-Westend, wo wir damals wohnten, um eine Zeitung zu holen, und da stand, ab so viel Uhr wird geschossen. Und ich rannte mit der Zeitung in der Hand nach Hause, um den Eltern die Mitteilung zu geben. Später gab es viel Alarm. Es ist wirklich interessant, wie man das Unnormale nach einiger Zeit für normal hält. Nach Kriegsbeginn war ich einmal zusammen mit meinem Bruder in der Innenstadt in einem Kinderkrankenhaus, weil wir beide Diphtherie hatten. Die Flak war im Hof des Krankenhauses aufgestellt. Das war dann nachts ganz schön laut bei Alarm. In Wannsee, wo wir inzwischen wohnten, hatte das Haus einen Luftschutzkeller, schon beim Bau eingebaut. Der Keller hatte eine doppelte Gasschleuse - man hatte ja Angst vor Gasangriffen -, eine luftdichte Tür und dann einen kleinen Vorraum, dann wieder eine luftdichte Tür, und dahinter saßen wir dann. Innerhalb dieses Kellers, in den wir bei Alarm immer runtergingen - sehr oft also -, gab es noch einen ganz kleinen Raum mit einem Notausgang in den Garten und einem Luftrohr nach draußen - für den Fall, dass das Haus getroffen wird und einstürzt. Den habe ich einmal mit meinem Vater zusammen ausprobiert. Ich weiß noch genau, er saß mir gegenüber und hatte wohl vergessen, das Luftrohr aufzudrehen, und ich schlief ein. Irgendwann wachte er wohl auf und drehte ganz schnell die Lüftung auf und machte die Tür auf. Ein schönes Gefühl, so einzuschlafen; ich habe mich oft daran erinnert. AL: Oh Gott. RM: Ja, es gab dauernd Alarm, alle gingen runter in den Keller und am nächsten Morgen konnte man dann manchmal Granatsplitter im Garten suchen. Tat mein Bruder sehr gerne. AL: Und bis 1943 war aber noch ein regelmäßiger Schulbesuch möglich? RM: Bis 1943 waren die Schulen noch regelmäßig offen, dann wurde politisch entschieden, dass alle Mütter mit Kindern Berlin verlassen mussten, weil die Zerstörung inzwischen sehr weit fortgeschritten war und es dauernd Bombenangriffe gab. Mein Bruder kam in die Kinderlandverschickung irgendwo in Süddeutschland, wo er bald krank wurde. Deshalb hat meine Mutter ihn wieder zu sich geholt und ging mit ihm nach Neutomischel, die Gegend, aus der mein Vater kam, und lebte dort in einer winzigen Zweizimmerwohnung ohne elektrisches Licht, Toilette und eigene Küche. Neutomischel, Nowy Tomysl, lag in der ehemaligen Provinz Posen, damals Warthegau. Ich wurde zu einer Tante, der Schwester meines Vaters, nach Posen gegeben. Sie war dort Schwester in einer Arztpraxis. Ich wohnte mit ihr in dieser Arztpraxis und ging in Posen auf eine Oberschule. Das war eine Jungenschule gewesen, dann wurde die Trennung von Jungen und Mädchen aufgehoben; ich war unter den ersten zwei Mädchen in der Jungsklasse. AL: Und wie war das, nach den bisherigen Mädchenschulen? RM: Ich erinnere mich nur, dass wir uns gegenseitig mit in Tinte getränkten Löschpapierbällchen beschossen. Sonst habe ich keine besonderen Erinnerungen. Der Schulbesuch dort hat auch nicht sehr lange gedauert, weil meine Mutter der Meinung war, es sei besser für mich, nicht in Posen zu sein. Sie holte mich also nach Neutomischel. AL: Von wo stammte Deine Mutter? RM: Aus Danzig. AL: Lebte die Familie Deines Vaters zu der Zeit noch in der Gegend? RM: Nein, die gab es nicht mehr. Seine Eltern und seine beiden Brüder waren tot. Der eine war im Ersten Weltkrieg gefallen. Er selber hatte im Ersten Weltkrieg sein Bein verloren. Diese Großeltern habe ich nie kennengelernt. In Neutomischel gab es keine Oberschule, nur einen Oberleutnant, der Lehrer gewesen war und wegen eines Kopfschusses nicht mehr als Lehrer im Dienst war. Bei dem bekam ich dann wieder Privatunterricht, der sehr wenig befriedigend war. Wenn ich kam, fragte er immer, was ich denn gerne machen möchte - ich nehme nicht an, dass ich da übermäßig viel gelernt habe. Als er mich einmal morgens im Bademantel empfing, entschied meine Mutter, es sei besser für mich, dort nicht mehr hinzugehen, und schickte mich zu ehemaligen Berliner Freunden nach Rerik. US: Ach, an der Ostsee, ja. RM: Rerik an der Ostsee war ein Fliegerhorst. An diesem Ort hatte ich 1943 meinen ersten Luftangriff erlebt, tagsüber. Ich besuchte dort die Berliner Freunde. Ein gerade auf Urlaub befindlicher General beobachtete mit dem Fernglas die Flugzeuge und schrie: In den Keller, die lösen die Bomben aus! Da liefen wir Kinder in den Keller, ich lief auch, aber kam nicht mehr bis in den Luftschutzkeller, da kamen die Bomben schon unten an. In dem Haus, in dem ich gerade war, kam überall Kalk von der Decke, und irgendwo schrie ein kleines Kind. Ich erinnere mich noch, dass ich dieses Kind griff und versuchte, irgendwo ein offenes Fenster zu finden, um atmen zu können, und dass ich das kleine Kind an dieses zersprungene Fenster hielt, damit es Luft bekam. Dann hörte man schon die Stimmen der Erwachsenen, die am Eingang nach den Kindern riefen, überall waren Backsteine, wir mussten über eine kaputte Treppe klettern und sie holten uns raus. Ihr wisst nicht, wie das aussieht nach so einem Bombenangriff; da lagen auch Menschen, und da waren Bombentrichter. Später hat man festgestellt, dass in dem Haus, in dem ich war, nur ein Blindgänger gelandet war. Sonst würde ich nicht mehr hier sitzen. Das war der erste harte Kontakt mit dem Krieg. Es kamen noch andere, aber das war der erste. Und dort kam ich 1944 wieder hin.