Warum hast du geschwiegen, Gina?

von: Marion Lennox

CORA Verlag, 2019

ISBN: 9783733727857 , 130 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Warum hast du geschwiegen, Gina?


 

1. KAPITEL

In dem alten Haus hatte er schon viel erlebt …

Ich werde mir eine andere Unterkunft suchen, dachte Cal, während er auf der Veranda saß und über das vom Mond beschienene Meer schaute. Unter einem Dach mit anderen Ärzten zusammenzuleben, die aus allen Teilen der Welt stammten, war manchmal aufregend, aber häufig auch deprimierend.

Wie zum Beispiel gerade heute. Kirsty, die junge Internistin, und Simon, der Kardiologe, waren plötzlich verschwunden. Aus heiterem Himmel hatten sie ihre Verträge gekündigt und waren weggegangen. Zurück ließen sie ein Haus voller Gerüchte, zwei fassungslose Gefährten, mit denen sie bisher zusammen gewesen waren, und ein Krankenhaus, das ohnehin schon an Personalmangel litt.

Crocodile Creek war das medizinische Versorgungszentrum für den gesamten Norden der Provinz Queensland. Selbst in guten Zeiten herrschte ein notorischer Mangel an qualifizierten Ärzten. Zwei Ärzte waren im Urlaub, ein dritter lag nach einem Fahrradunfall im Streckverband, und ein vierter hatte die Windpocken. Und zwei weitere Mediziner, Kirsty und Simon, hatten wohl ganz private, persönliche Gründe gehabt, um grußlos zu verschwinden.

„Wie kann man nur so rücksichtslos sein“, murmelte Cal. Zurück blieben Emily, die ein Liebesverhältnis mit Simon gehabt hatte, und ein frustrierter Mike, dessen Stolz arg ramponiert war, weil ihn seine Freundin Kirsty einfach hatte sitzen lassen.

Cal mochte Emily und Mike gern. Vermutlich würde er sie trösten müssen. Dabei hasste Cal es, in die privaten Probleme anderer hineingezogen zu werden.

Er verfolgte in seinem Leben nur ein Ziel: seinen Job als Mediziner so gut wie möglich zu machen und sonst in Ruhe gelassen zu werden.

Und er wollte auf keinen Fall an Gina denken …

Aber warum tat er das gerade jetzt in diesem Moment? Er hätte sie in den fünf Jahren längst vergessen sollen.

Aber das konnte er nicht.

Die Beziehungsprobleme von Emily, Mike, Kirsty und Simon sind wohl der Grund dafür, grübelte er. Voller Bitterkeit musste er daran denken, wie Gina ihn eines Tages ohne Ankündigung und ohne eine Erklärung verlassen hatte.

Er musste sie endlich aus seinem Kopf verbannen, um sich emotional nicht völlig zu verrennen. Seine Hoffnung, er würde über die Trennung irgendwann hinwegkommen, hatte sich nicht erfüllt.

Er überlegte, ob er mit Mike eine Partie Poolbillard spielen sollte. Das würde ihn von den quälenden Erinnerungen ablenken. Und vielleicht würde es auch Mike helfen.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr stellte er fest, dass dafür keine Zeit mehr war. Sein Spätdienst fing bald an.

Zum Teufel mit euch, Kirsty und Simon, dachte er ärgerlich. Die Affäre der beiden und ihr plötzliches Verschwinden wirkten sich auch auf sein Leben aus. Außerdem gefiel es ihm nicht, Emily und Mike unglücklich zu sehen. Vorher war das Ärztehaus von Crocodile Creek ein Ort gewesen, an dem Fröhlichkeit und gute Laune geherrscht hatten, ein Ort, der ihn ablenkte und wo er seiner Arbeit als Chirurg nachgehen konnte.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Emily erschien, blass und mit verweinten Augen. Sie war eine hervorragende Narkoseärztin, die ihm im OP eine große Hilfe war.

In diesem Augenblick machte sie jedoch eher den Eindruck eines verschüchterten Teenagers.

Trotz seiner Abneigung gegen emotionale Szenen zog er sie zu der gepolsterten Bank und setzte sich neben sie, bevor er den Arm um ihre Schulter legte und sie zu trösten versuchte.

„Simon ist ein Schuft“, sagte er.

„Ist er nicht.“ Emily schluchzte auf. „Er wird zurückkommen. Er und Kirsty sind nicht ernsthaft …“

„Da irrst du dich“, protestierte er. Es war sinnlos, sich etwas vorzumachen. „Er ist wirklich ein Schuft, der es nicht verdient, dass du ihn liebst. Mit der Zeit wirst du einsehen, dass es so besser war.“

„Das sagst ausgerechnet du“, flüsterte Emily. „Du hast deine Liebe vor fast fünf Jahren verloren. Aber geht es dir besser, seit Gina nicht mehr da ist? Ich glaube nicht.“

Gunyamurra. Dreihundert Meilen weiter südlich. Sie hatte ein Kind geboren. Schlug das Herz des Neugeborenen? War es noch am Leben?

Nein. Sie hatte sich das nur eingebildet. Da war nichts.

Das Mädchen starrte hinunter auf das winzige menschliche Bündel, das sein Sohn hätte werden sollen. Aber er war tot.

Wie hatte sie nur hoffen können, ihr Sohn sei lebensfähig? Sie war doch selbst fast noch ein Kind …

Wäre das Baby am Leben geblieben, hätte sich ihr eigenes Leben völlig verändert. Aber nun?

Alles wird so weitergehen wie bisher, dachte sie verzweifelt. Ihr Körper schmerzte von den Nachwirkungen der Geburt und der zerronnenen Hoffnung.

Sie streckte die Hand aus und fuhr sanft mit dem Finger über das winzige Gesicht des Babys.

Sie musste das Kind hier zurücklassen. Sie konnte nicht länger bleiben. Ja, hier zwischen den Farnen und auf dem Moos sollte es liegen.

Sie musste zurück zum Rastplatz. Die Autos würden bald abfahren. Erschöpft und innerlich leer schlüpfte sie auf den Rücksitz des Vans der Familie. Ihre Eltern fragten nicht einmal, wo sie so lange gewesen war. Sie hatten kaum bemerkt, dass sie sich entfernt hatte. Und sie würden auch nicht bemerken, was mit ihr geschehen war. Sie bemerkten nie etwas.

„Da liegt ein Baby hinter dem Felsen.“

Entnervt richtete Gina ihre Augen gen Himmel, während sie sich Mühe gab, ruhig zu bleiben. CJs Versuch auszutreten, zog sich endlos in die Länge. Aber der Reisebus fuhr in zehn Minuten weiter. Und wenn sie den verpassten …

Das durften sie auf keinen Fall. Hier in Gunyamurra zu stranden, inmitten des australischen Outbacks, einem menschenleeren, riesigen Buschgebiet, war eine Horrorvorstellung.

„CJ, beeil dich endlich und komm wieder her“, rief sie dem Jungen zu, wobei sie versuchte, ihrer Stimme etwas Autorität zu verleihen. Aber vergebens. Dr. Gina Lopez mochte eine hoch qualifizierte Kardiologin sein, aber mit einem widerspenstigen Vierjährigen war sie überfordert.

Er ist wie sein Vater, dachte sie. Eigensinnig und unabhängig. Aber wenn sie in seine großen braunen Augen sah, konnte sie mit ihm nicht böse sein.

Als CJ die Toilettenhäuschen gesehen hatte, die auf dem Rastplatz standen, hatte er trotzig den Kopf geschüttelt. „Da gehe ich nicht rein. Die sind eklig.“

Gina musste ihm recht geben. Das jährliche Rodeo in Gunyamurra war beendet. Hunderte von Menschen hatten die Toilettenhäuschen benutzt. Es stank nach Bier und Urin.

Also war Gina mit dem Jungen ein paar Schritte zur Seite gegangen, dorthin, wo das Buschland anfing. Aber ihr Sohn hatte wieder protestiert. „Hier können mich ja die Leute sehen.“

„Dann geh hinter die Felsen dort.“

„Also gut.“

Und jetzt …

„Da liegt ein Baby hinter den Felsen.“

Was bedeutete das schon wieder? CJ hatte immer eine blühende Fantasie gehabt.

„Nun beeil dich endlich!“ Gina warf einen unruhigen Blick hinüber zu dem Reisebus, in den die anderen Leute schon einstiegen. Sie war zu weit weg, um zu rufen. Und sie hatte dem Fahrer nicht gesagt, dass er warten sollte.

Nur keine Panik, ermahnte sie sich. Sie konnte dem Fahrer immer noch zuwinken, wenn er losfuhr. Oder sich ihm in den Weg stellen.

Warum war sie nur so dumm gewesen, zurück in diese einsame Gegend Australiens zu kommen?

Es war ihr notwendig erschienen. In den letzten Jahren hatte sie in den USA gelebt und gearbeitet. Irgendwann hatte sie den Mut gefasst, zu Cal zu fahren und ihm das mitzuteilen, was er früher oder später erfahren musste.

Mit den besten Absichten war sie in Crocodile Creek angekommen und hatte sich auf die Suche nach Cal gemacht. CJ war bei der Wirtin des kleinen Gasthauses geblieben, in dem sie abgestiegen waren. Die Wirtin hatte ihr auch gesagt, dass alle Ärzte in dem alten Haus wohnten, das neben dem Krankenhaus unmittelbar am Meer stand.

In der Dämmerung hatte das Haus sehr einladend ausgesehen. Aber dieser Eindruck änderte sich rasch. Als sie vor der Eingangstür stand, hatte ihr Mut sie längst verlassen. Auf ihr Klopfen hatte niemand geantwortet. Also war sie um das Haus herumgegangen. Sie wünschte, sie hätte es nicht getan.

Auf der Veranda hatte sie Cal gesehen, ihren Cal, dessen Anblick sie all die Jahre ständig vor Augen gehabt hatte.

Er hatte sie nicht bemerkt. Als sie sich gerade dazu durchgerungen hatte, zu ihm zu gehen, war eine junge Frau aus dem Haus gekommen und hatte sich neben ihn gesetzt.

Gina hatte sich in den Schatten zurückgezogen. Sekunden später war sie froh, dass sie sich nicht bemerkbar gemacht hatte. Denn Cal hatte seinen Arm um die junge Frau gelegt und sie an sich gezogen. Mit seinem Gesicht an ihrer Wange hatte er ihr etwas ins Ohr geflüstert. Gina musste mit ansehen, wie sie seine Umarmung erwiderte und den Kopf an seine Schulter legte.

Sie war geflüchtet, während ihr bewusst wurde, dass sie sich Cal gegenüber damals unverantwortlich und schäbig verhalten hatte. Jetzt schien er die wahre Liebe gefunden zu haben. Echte, verlässliche Liebe – etwas, was es in der Beziehung zwischen Cal und ihr nie gegeben hatte.

Sie hatte kein Recht, sich da einzumischen.

Gina war zurück zu dem Gasthaus gegangen, hatte CJ in den Arm genommen und versucht, sich zu beruhigen. Wie...