Die ganze Wahrheit über Münchhausen & Co. - Über 300 Jahre Lügengeschichten

von: Tina Breckwoldt

Benevento, 2020

ISBN: 9783710951077 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Die ganze Wahrheit über Münchhausen & Co. - Über 300 Jahre Lügengeschichten


 

I. »WANN DAS GLÜCK FAVORABELL IST« – DIE NACKTE WAHRHEIT


11. Juni 1733 steht ein dreizehnjähriger Junge im Garten des Lustschlosses Salzdahlum bei Wolfenbüttel. Das Schloss ist hell erleuchtet. In der Dämmerung spielt ein Orchester. Durch den Garten schreiten, tanzen, drängen sich Damen und Herren in festlichen Roben, adelige Schäferinnen und Schäfer mit weiß gepuderten Perücken. Er selbst hält eine Fackel in der Hand, wie die anderen Pagen. Er ist ein bisschen nervös, es ist seine erste richtige Aufgabe als Page, und es ist eine große Hochzeit, mindestens hundert Gäste sind da. Farben, Schatten wehen durch die Hecken und an ihm vorbei. Es ist wie im Märchen. Der Hirtenkönig hat seine Tochter demjenigen versprochen, der am besten Flöte spielen kann; drei Kandidaten gibt es. Weil der König sich nicht entscheiden kann, entscheidet Apoll, der Gott der Musik und der Dichtung. Apoll wählt natürlich den Richtigen: Friedrich, Kronprinz von Preußen – die Braut ist Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel. Hieronymus atmet aus. Seine Fackel brennt noch.

»Wann das Glück favorabell ist, so werde mit mehren bald aufwarten können«, wird er sechseinhalb Jahre später an seine Mutter schreiben1 – da ist er gerade zum Cornet des Kürassierregiments Braunschweig in Riga ernannt worden. Das ist der erste Offiziersgrad, der Cornet ist der Standartenträger des Regiments. Die Welt steht ihm offen, alles ist möglich, wann das Glück favorabell ist.

Will man sich dem historischen Baron von Münchhausen nähern, seine Biografie verstehen, muss man auch und vorneweg die Geschichte seiner Familie in Betracht ziehen. Als Adliger wusste Hieronymus von Münchhausen mit Sicherheit, wo seine Familie herkam. Vielleicht kannte er nicht alle Details, aber die wichtigsten Personen, die wichtigsten Ereignisse muss er gekannt haben, und er wird stolz auf seine Wurzeln gewesen sein.

Im 18. Jahrhundert, im Übergang von Absolutismus zu Aufklärung – hat der landbesitzende Adel mit den veränderten Verhältnissen zu kämpfen, im aufkommenden Kapitalismus geht es darum, die Güter zu halten, Privilegien zu verteidigen, letztendlich geht es darum, Familien und Abhängige versorgen und ernähren zu können. Seine Rechte und Pflichten leitet der Adel aus seiner Vergangenheit ab, aus den Leistungen seiner Vorfahren.

Die Hauptquellen für die Geschichte der Familie von Münchhausen sind die Gründliche Geschlechts-Historie des Hochadlichen Hauses der Herren von Münchhausen von Gottlieb Samuel Treuer aus dem Jahr 1740 und deren Fortsetzung durch Albrecht Friedrich von Münchhausen aus dem Jahr 1872.

Die Familie derer von Münchhausen – die Vorgeschichte


Die Familie von Münchhausen ist ein altes niedersächsisches Adelsgeschlecht. Ihre Geschichte beginnt mit Herrn Rembert, dominus Rembertus, und seinem Sohn Gyselher de Monechusen: 1183 siedelt sich Gyselher auf dem Haarberg im Westen des Steinhuder Meeres an; der kleine Ort heißt Munichehausen, auch Munichusen geschrieben, Monechusen, Monichusen, Monekehusen oder Munchusen. Der Name hängt natürlich mit dem Wohnort von Mönchen zusammen und bezieht sich auf das nahe gelegene Zisterzienserkloster Loccum, 1163 von Graf Wilbrand von Hallermund (um 1120–1167) gestiftet. Zwölf Mönche aus dem Kloster Volkenroda in Thüringen errichten Loccum als Tochtergründung; Volkenroda seinerseits ist ein Ableger des Klosters Kamp, des ersten Zisterzienserklosters im deutschsprachigen Raum. Um 1250 malt ein anonymer Mönch mit einem Hang zum Drama, mit quasi Münchhausischem Flair die Anfänge von Loccum in düsteren Farben. Es sei ein Ort des Schreckens und der Einsamkeit, eine Wüstenei, an der Räuber und Wegelagerer ihr Unwesen treiben, ein gottverlassener Ort ohne Hoffnung. Für die unerschrockenen Mönche genau die richtige Herausforderung; sie beten und fasten, fasten und beten, bis aus der verruchten Räuberhöhle ein Kloster wird – ganz wie es den zisterziensischen Idealen eignet. Dass das so wohl nicht ganz den Tatsachen entspricht, liegt auf der Hand. Graf Wilbrand hätte kaum Geld für eine Klosterstiftung an einem hoffnungslosen Ort herausgerückt.

Munichehausen dient dem Schutz des Klosters: Der Name ist Programm. Wahrscheinlich entsteht hier ein Festes Haus, eine Art Burg, der Stammsitz der von Münchhausen. Das Land dazu ist Allodialbesitz, freies Eigentum, kein Lehen. Die Münchhausen sind hier so etwas wie Burgmannen oder eben Klostermannen. Es ist ihre Aufgabe, Loccum zu sichern und im Notfall zu verteidigen. Zwischen 1260 und 1297 erweitert sich der Einfluss der Familie, sind Gyselhers Sohn Rembert und seine Enkel Giselher und Justatius als Burgmannen für die nahe Wasserburg Sachsenhagen zuständig. Wie viele Adlige sind auch die von Münchhausen in der Namengebung Traditionalisten; sie verwenden eine Handvoll sogenannter Leitnamen: Rembert, Giselher, (Ju)statius, Hieronymus, Hilmar, Liborius und Börries tauchen in der Familiengeschichte immer wieder auf. Die Burgmannen Giselher und Justatius begründen die schwarze und die weiße Linie der Münchhausens; beide bestehen bis heute. Hieronymus, der »Lügenbaron«, gehört zur schwarzen Linie.

Ihren Stammsitz verlassen die Münchhausen um 1350; vermutlich im Zuge der großen Pestepidemie, die als Schwarzer Tod zwischen 1347 und 1350 ganze Landstriche in Europa leer fegt.

Der Name der Familie spiegelt sich in ihrem Wappen: Es zeigt einen Zisterziensermönch mit weißer Kutte und schwarzem Skapulier oder Überwurf. In der rechten Hand hat er einen Krummstab, in der linken ein Beutelbuch: Wandernde Scholaren, Ärzte und selbstverständlich Kleriker sind häufig so dargestellt. Stab und Buch sind rot, der Hintergrund ist gold. Auf der Helmzier steht wieder ein Mönch; für die schwarze Linie ist seine Kutte schwarz, für die weiße – natürlich – weiß.

Der Ururgroßonkel: Statius von Münchhausen

Im 16. Jahrhundert gibt es in der schwarzen Linie der Familie einen Vorfahren mit einer besonders bewegten Biografie: Statius, auch Statz genannt, wird 1555 als dritter Sohn des Söldnerführers Hilmar von Münchhausen (1512–1573) auf dessen Amtsschloss Stolzenau geboren. Hilmar ist ein brillanter und berühmter Heerführer; gleichzeitig hat er eine Nase für das Geschäft. Er verdient ausgezeichnet und investiert geschickt in Immobilien, der Familie geht es gut. Statius’ Mutter ist Lucia von Reden (1512–1584); ihre Familie gehört ebenfalls zum niedersächsischen Adel, sie ist »edelfreier Abstammung«. Schon im 13. Jahrhundert verfügen die von Reden über großen Grundbesitz in Reden bei Pattensen, südwestlich von Hannover. Der Stammvater, Ritter Heinrich, genannt Hiese oder Hysce, ist 1212 in einer Urkunde als welfischer Ministeriale aufgeführt. Das Familienmotto lautet »Wahrheit und Recht«; vielleicht ein Wortspiel mit dem eigenen Namen, von Reden? Immer nur die Wahrheit. Mindestens zehn Ehen werden im Lauf der Jahrhunderte zwischen den von Münchhausen und den von Reden geschlossen; auch die Mutter von Statius’ Ururgroßneffen Hieronymus kommt aus dieser Familie.

Statius verbringt seine Kindheit in Stolzenau und Aerzen, wo sein Vater das Amt des Drosten innehat; das heißt, dass er den Landesherrn vertritt, Graf Otto VIII. von Hoya. 1567 – Statius ist zwölf – nimmt sein Vater ihn mit nach Antwerpen: Der Herzog von Alba wird dort als Statthalter Philipps II. von Spanien erwartet. Hilmar, der als Obrist in spanischen Diensten eigentlich Alba verpflichtet ist, spielt ein gefährliches Spiel; er sympathisiert mit dem Feind, mit Wilhelm von Oranien, dem er auch noch Geld für einen Feldzug gegen Alba leiht. Statius bleibt drei Jahre als Geisel an Albas Hof; erst 1570 kann sein Vater ihn wieder abholen. Als Hilmar 1573 stirbt, losen die Söhne um das Erbe. Der erst achtzehnjährige Statius erhält verstreute Ländereien. Den Geschäftssinn hat er vom Vater: In den nächsten Jahren verkauft er, was ihn nicht interessiert, dafür kauft er Drosteien, Pfandschaften, Lehen: Ländereien mit Zukunft. Statius geht klug vor; es gelingt ihm, manche Pfandschaften in dauerhafte Erblehen zu verwandeln. Und er baut. Statius lebt mit seiner Familie von den Einkünften seiner Ämter und Ländereien, nebenher handelt er mit Getreide und betreibt Kreditgeschäfte.

Ab 1578 erwirbt er – unter anderen – die Anwartschaften auf die Lehnsgüter Bevern und Meinbrexen; bei beiden ist abzusehen, dass die Lehnsinhaber nicht mehr lange leben werden. So manchem Zeitgenossen wirkt Statius wie ein Geier, der über dem Verdurstenden kreist. Insbesondere im Fall von Bevern scheint er diesem Bild zu entsprechen – er reist 1584 bis nach Pavia, um dem sterbenden Herzog Erich II. von Braunschweig-Calenberg-Göttingen die Unterschrift abzuluchsen; Erich ist noch dazu ein alter Waffenbruder und Kampfgefährte seines Vaters. Eigentlich tut man so etwas nicht. Aber Statius ist pragmatisch...